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Rezensionen

17. Juli 2023

Hollywood im Burgenland

St. Margarethen / Oper im Steinbruch (Juli 2023)
Eine cineastische „Carmen“ versinkt im Regen

St. Margarethen / Oper im Steinbruch (Juli 2023)
Eine cineastische „Carmen“ versinkt im Regen

Sie überlebt. Und 5.000 Menschen versinken klatschnass zwischen Regenmassen und Sturmböen – High Heels im Schlamm, Regencape statt Abendgarderobe. Der launische burgenländische Wettergott meint es nicht gut mit Georges Bizets Oper im stillgelegten Römersteinbruch St. Margarethen, die Premiere muss in der Pause abgebrochen werden. Für Teil 2 bleibt nur die vom ORF mitgeschnittene Generalprobe vor dem Fernseher – kein Vergleich zum Cinemascope-Format der großen Freilichtbühne. Gut, dass die ersten beiden Akte also noch live vermitteln können, was sich Regisseur Arnaud Bernard mit seinem Team ausgedacht hat: eine Verneigung vor dem Phänomen „‚Carmen‘, die meistverfilmte Oper der Welt“.

Die Rahmenhandlung bildet ein Hollywood-Filmstudio der 1950er Jahre, gedreht wird hier ein im Spanischen Bürgerkrieg der 1930er verorteter „Carmen“-Streifen mit der Titelrolle im politischen Widerstand gegen das Franco-Regime. Alessandro Camera hat dafür ein Bühnenbild von gigantischen Ausmaßen vor die natürliche Felsenlandschaft wuchten lassen: sechs rostrote Stahl-Drehbühnen von bis zu elf Metern Höhe und mit einem Gesamtgewicht von mehr als 70 Tonnen, die sich je nach Bedarf in die klassischen Szenenbilder verwandeln.

Davor wuselt es von Kameraleuten, Statisten und Stuntdoubles, durch ein Megafon wird immer wieder „Position!“, „Action!“, „Cut!“ gerufen. Überraschenderweise stört das den musikalischen Fluss nicht wirklich, vielmehr wird die Opéra-comique-Nummerndramaturgie betont – bei einem Werk mit derartiger Hitdichte ein durchaus gangbarer Weg. Aber, weit wichtiger: Die Konventionen in Bizets Evergreen werden als solche bewusst herausgestellt. Exotismus-Klischees, sexistische Stereotype und andere nach heutigen Maßstäben aus der Zeit gefallene Bilder? In der goldenen Ära des Films noch gang und gäbe. Oft weiß man gar nicht, wohin man schauen soll, wenn sich auf der extrem breiten Bühne zwei bis drei Handlungen mit innerem Bezug parallel abspielen – eine detailreich durchdachte, lustvolle Überforderung für das Auge mit ins Zeitkonzept passenden Kostümen (Carla Ricotti) und einer dynamischen Stuntchoreografie (Ran Arthur Braun).

Aber auch für das Ohr wird einiges geboten, speziell auf Solistenseite. Brian Michael Moore gibt einen jugendlichen Don José mit empfindsamem Schmelz, Vanessa Vasquez eine Micaëla voller samtener, inniger Hingabe und Vittorio Prato einen klangsatten Escamillo. In zweiter Reihe überzeugen der kernige Zuniga von Mikołaj Bońkowski und die soliden stimmlichen Leistungen von Aleksandra Szmyd (Frasquita) und Sofia Vinnik (Mercédès), während Marco Di Sapia und Angelo Pollek als Schmugglerduo Dancaïro und Remendado etwas konturlos bleiben (ebenso wie der seltsam blutleer klingende Philharmonia Chor Wien unter Leitung von Walter Zeh). Übertrumpft werden sie alle ohnehin von Joyce El-Khoury. Die libanesisch-kanadische Sopranistin stellt mit schicksalstrunkener Tiefe, enormer Ausstrahlung und hintergründiger Erotik nachdrücklich unter Beweis, warum die Carmen auch gerne Vertreterinnen ihres Stimmfachs anvertraut wird. Die Habanera bestreitet sie allerdings noch im Aufwärmmodus – was aber auch Valerio Galli anzulasten sein könnte, der das Piedra Festivalorchester mehrfach geradezu durch die Partitur hetzt. Ein Zügeln der Tempi speziell im ersten Teil würde der orchestralen Untermalung mehr als guttun, ansonsten vernimmt man aber ein sehr energetisches und differenziertes Klangbild.

Der Verrat von Carmens Widerstandsgruppe an das Franco-Regime, der folgende Massenmord vor der Stierkampfarena, der Tod Carmens durch Don Josés Hand – all das erlebt man zwar nur zuhause am kleinen Bildschirm, wo die großformatigen Simultanszenen einiges an Wirkung verlieren (und weshalb sich eine wirkliche Kritik hierzu auch verbietet). Eines aber kann der burgenländische Wettergott nicht wegspülen: den Eindruck einer Freilichtproduktion im besten Sinne.

Florian Maier

„Carmen“ (1875) // Oper von Georges Bizet in der Fassung mit nachkomponierten Rezitativen von Ernest Guiraud

Infos und Termine auf der Website der Oper im Steinbruch

11. Juli 2023

Die Quadratur des Kreises

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2023)
Verdis „Don Carlo“ in der Rittersaal-Ruine

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2023)
Verdis „Don Carlo“ in der Rittersaal-Ruine

Als Verdi seinen „Don Carlos“ für Paris konzipierte, tat er dies durchaus im Bewusstsein, dass Giacomo Meyerbeer gestorben war und folglich eine Leerstelle in Sachen Grand opéra gefüllt werden könne. Man sollte, muss das mitdenken, wenn die sommerlichen Opernfestspele Heidenheim im Rittersaal von Schloss/Burg Hellenstein diese Vertonung des Schiller-Stoffes aufs Programm setzen. Zwar spielen und singen dort die Stuttgarter Philharmoniker sowie der Tschechische Philharmonische Chor Brünn die spätere italienische Fassung dieser so privaten wie politischen Tragödie (also kein Fontainebleau-Akt und kein großer Balletteinschub), doch damit wird der zu erhebende künstlerische Anspruch grundsätzlich ja nicht wirklich geringer.

Und so setzt durchaus Staunen darüber ein, dass in einer Opernhaus-losen 50.000-Seelen-Kreisstadt große Oper in einer vokalen und orchestralen Güte geboten wird, die allemal derjenigen kleinerer Staatstheater vergleichbar ist – und so manchem Stadttheater gar überlegen. Man kann sogar noch eins draufsetzen: Indem Marcus Bosch, der künstlerische Leiter und Dirigent, von Orchester und Chor hohe Transparenz und Zurückhaltung bei musikalischen Eruptionen verlangt, bleibt alles, ohne jegliche elektrische Verstärkung (!), differenziert vernehmbar – und das Vokale stets im Vordergrund. Da muss sich keiner regelmäßig verausgaben, um Effekt zu machen oder den Graben zu übertönen.

Mögen auch Pavel Kudinov als uniformierter König Philipp II. sowie Randall Jakobsh als eine Art Folterknecht-Großinquisitor noch eine Spur mehr an autoritärer Durchschlagskraft vertragen, so betören bei der Premiere Sung Kyu Park mit freiem hohem Tenor in der Titelrolle, Ivan Thirion als in jeder Hinsicht entschlossener Rodrigo, Leah Gordon als bemitleidenswerte Schmerzensfigur Elisabeth und – vor allen – Zlata Khershberg als Eboli mit einem so beweglichen wie substantiellen Mezzo.

Darüber hinaus gelingt Georg Schmiedleitners Inszenierung im Bühnenbild von Stefan Brandtmayr insofern eine Quadratur des Kreises, als sie unter einem zerbrochenen Peace-Zeichen geschickt vermittelt zwischen (einer etwas konventionellen) Werktreue und moderater Neudeutung des Werks. Zeitlupen-Gänsemärsche des Chors und dessen etwas steife symmetrische Aufstellung hernach gehören – einerseits – ebenso dazu, wie – andererseits – so mancher Verweis auf eine behauptete Überzeitlichkeit des Stoffes: etwa durch die „Abu-Ghraib“-Folterung politischer Häftlinge, das Nebeneinander historischer und zeitgenössischer Kostüme (spanische Halskrause versus silberbeschichtete Lederjacke) oder laufende Bildschirme eines Überwachungsstaats. Gewünscht ist erkennbar mehr denn lediglich große Oper als Augen- und Ohrenschmaus.

So beweist Heidenheims „Don Carlo“, dass diese Festspiele auch deutlich mehr sind als liebenswert und ehrgeizig. Und wenn sich dann noch die Nacht über die gen Himmel offene Rittersaal-Ruine senkt, dann kommt da noch die gebotene düstere „Don Carlo“-Stimmung hinzu. Und musikalischer Zauber.

Rüdiger Heinze

„Don Carlo“ (1867/84) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Opernfestspiele Heidenheim

10. Juli 2023

Sprühende Klanglust

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

„Auch die Pause gehört zur Musik“, zitiert Intendant Thomas Enzinger Stefan Zweig. „Es sind die kurzen kraftvollen Momente des Innehaltens, die Kraft verleihen, und gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen ist es umso bedeutender, Geist und Seele Atem holen zu lassen. So wie das Lehár Festival eine Pause für die Seele ist.“ Für solches Abschalten vom Alltäglichen erweist sich die Premiere von „Madame Pompadour“ zum 150. Geburtstag von Leo Fall als gutes Rezept. Franz Lehár hatte einst auf die Frage, ob er einen Konkurrenten habe, geantwortet: „Ja, das ist der Fall.“

Enzinger inszeniert einen heiteren Bühnenspaß voller Temperament, wirbelndem Tanzvergnügen, Amüsement und gewitzter Komik, gespickt mit parodierenden Elementen. Die Geschichte dreht sich um die historische Madame Pompadour, Mätresse des französischen Königs Ludwig XV. Es ist Fasching in Paris, wo die selbstbewusste Marquise de Pompadour dem Hofleben entflieht, indem sie sich unerkannt unters Volk mischt. Im „Musenstall“, einer gewöhnlichen Spelunke, trifft sie auf Graf René und dessen Freund, den Dichter Joseph Calicot, der ein Spottlied auf die Mätresse des Königs verfasst hat. Diesen beiden Schwerenötern verdrehen die Marquise und ihre Kammerzofe Belotte gewitzt den Kopf.

Fall schrieb die Partie der Pompadour für die damalige Diva Fritzi Massary: „Durch den Rokoko-Schleier erzählt die Geschichte von einer selbstbewußten Frau der Zwanziger Jahre.“ Erik Charell schuf später eine Umarbeitung zur Revue. Die Ischler Premiere bietet auf musikalischer Seite eine neu arrangierte Fassung als Revue-Operette von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Dirigent Christoph Huber. Es wurden Saxophon, Banjo, Sousaphon und Jazz-Schlagzeug hinzugefügt und die Blechbläser mit zeitgenössischen Jazz-Dämpfern versehen. Das Ergebnis: sprühende Klanglust, von den Tänzern flott beweglich umgesetzt (Choreografie: Evamaria Mayer), dazu in passender Ästhetik das szenische Ambiente (Sabine Lindner) und die historisch stilisierten Kostüme (Sven Bindseil).

Geschickt verblendet der Regisseur komödiantischen Witz mit Parodie und Kabarett-Einschüben, lässt unterschwellig aktuelle Bezüge in die Dialoge einfließen und bringt die Mischfarben zu einer gelungenen Einheit. Als distinguierter Haushofmeister ist Enzinger selbst mit von der Partie. Die Marquise de Pompadour findet in Julia Koci eine ideale Verkörperung. Die Sopranistin agiert mit Eleganz und selbstbewusster Präsenz und singt mit wohllautender, gut geführter Stimme. Die bekannten Couplets „Heut’ könnt’ einer sein Glück bei mir machen“ oder „Ich bin dein Untertan“ macht sie zu gesanglichen Höhepunkten. Im Duett „Joseph, ach Joseph, was bist du so keusch?“ werden sie und Kaj-Louis Lucke (Dichter Calicot) gemeinsam in der Badewanne zu heftig beklatschten Publikumslieblingen. Maximilian Mayer ist mit ansprechendem Tenor der glühende Verehrer der Marquise, Loes Cools agiert und singt mit Witz als Kammerzofe Belotte. König Ludwig (Claudiu Sola) favorisiert eine kesse Sohle aus Stepptanz-Elementen, während Alfred Rauchs Polizeiminister Maurepas immer und überall „schläuer“ ist. Christoph Huber am Pult bringt das Franz Lehár-Orchester mit zündendem Elan zum Klingen.

Elisabeth Aumiller

„Madame Pompadour“ (1922/2023) // Operette von Leo Fall in einer jazzigen Revue-Fassung für großes Orchester von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Christoph Huber

9. Juli 2023

Im Abgrund versunken

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Im Grand Théâtre de Provence gibt es den Abgrund, in den Wozzeck bei Georg Büchner und in Alban Bergs Oper blickt, diesmal sogar ganz wortwörtlich. Der von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängte, gehetzte und geschundene Mann versinkt tatsächlich: im Bühnenambiente von Miriam Buether, ganz langsam und genau zu den von Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In Simon McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, streckt Wozzeck bei seinem Untergang noch in stummer Verzweiflung die Hände nach seinem Sohn aus. Der bleibt ganz stumm und allein zurück, mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Rücken. Das vorher schon immer mit dem Vater mitlaufende kindliche Alter Ego des Hauptmanns bedrängt ihn zu den „Hopp, hopp!“-Tönen. Genauso, wie es zuvor dessen weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, immer wieder getan hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist damit nicht nur auf den Punkt gebracht, sie geht auch wie selten zu Herzen.

Drei Wände begrenzen die leere Spielfläche und werden reichlich, aber wohldosiert für atmosphärische Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzt. Sie bilden das metaphorische Gefängnis, in dem sich nicht nur Wozzeck, gehetzt wie in einem Hamsterrad, abstrampelt. Maries Behausung (im Plattenbau) wird nur durch eine Tür angedeutet.

Dass dieser Wozzeck den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen bewusst wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur ein Ausnahme-Interpret wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem „Trotz allem!“ auszustatten. Aber auch die vokal leuchtende Malin Byström (Marie), Thomas Blondelle (als machohafter Tambourmajor), Brindley Sherratt (der schrullige Doktor), Robert Lewis (als einziger Freund Andres) sowie Héloïse Mas (eine exquisite Margret) machen aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zu intensivem Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und die „Actors“-Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne. Einhelliger, wohlverdienter Jubel für eine festspielwürdige Produktion.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

kostenfreier Stream bis 12. Juli 2024 auf ARTE Concert

28. Juni 2023

Lebenskunst in Krisenzeiten

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Im idyllisch in der Rudolstädter Gegend gelegenen Liebhabertheater, gegründet von Carl von Stein, dem Sohn von Goethes Freundin Charlotte, findet alljährlich ein Sommerfestival am authentischen Ort historischer Aufführungspraxis statt: gehörig zu Schloss Kochberg, umgeben von einem schönen Landschaftspark und in ländlicher Umgebung verortet. In diesem Jahr steht das Festival unter dem Thema „Lebenskunst“. Um Lebenskunst geht es auch im Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“, in einer thematischen Verbindung bis zur Gegenwart, kreisend um das Leben im Krieg, in Krisen und Klimakatastrophen. Es ist eine Koproduktion des Liebhabertheaters Schloss Kochberg und der lautten compagney Berlin, produziert von Silke Gablenz-Kolakovic, der Ur-ur-ur-Enkelin Carl von Steins.

Die Handlung, geschrieben von Regisseur Nils Niemann, Spezialist für szenische Aufführungspraxis und barockes wie klassisches Theater, besteht aus Briefen und den Lebenserinnerungen des Theatergründers Carl von Stein (1765-1837), der auch selber auf der Bühne durch sein Leben und seine Zeit führt. Schauspieler Harald Arnold, der auch schon als Sänger in Erscheinung getreten ist, interpretiert diese Partie hervorragend in Sprechweise, mimischem Ausdruck und schauspielerischer Aktion bis hin zu kleinen Gesangseinlagen. Der wahre Carl von Stein war es auch, der das seiner Familie gehörende Rittergut von 1796 bis 1830 in einen Musenhof verwandelte. Aber auch auf sein Leben hatten Krisen, der Napoleonische Krieg und Missernten wie Hungersnöte, aber auch die eigene Verschuldung Einfluss. Über diese von außen auf Carl von Stein einwirkenden Gegebenheiten wird der Faden in die Gegenwart gespannt.

Darum ranken sich wie Blumen die 22 einzelnen, passend zum Handlungsverlauf arrangierten und oftmals zu Unrecht unbekannten Arien, Duette und instrumentalen Musikstücke der barocken, klassischen und romantischen Komponisten. Es erklingen, neben Instrumentalstücken, Ausschnitte aus den Singspielen „Der Dorfjahrmarkt“ von Benda, „Die Dorfdeputierten“ und „Der Abend im Walde“ von Wolf, „Das Jahrmarktsfest von Plundersweilern“ von Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, „Der Aerndtekranz“ von Hiller, „Die beiden Pädagogen“ von Mendelssohn-Bartholdy, aber auch aus Galuppis komischer Oper „L’Arcadia in Brenta“, Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, der Kantate „Die Landlust“ von Telemann sowie einige Kunstlieder von Benda, Eberwein, Methfessel und Carl Maria von Weber.

Mit leuchtendem, hellem Sopran, deutlicher Diktion und zeitgemäßem Spiel interpretiert Anne Schneider die Frauenpartien, während Christopher B. Fischer herausragend wortdeutlich, mit mimischer Finesse und brillantem Tenor die Männerpartien verkörpert. Die Inszenierung setzt sich aus historischen Gesten, schauspielerischen Aktionen und Interaktionen der drei Protagonisten zusammen. Die in historisch zeitgemäßen Kostümen ausstaffierten Darstellenden (Kostüme: André Markov) müssen mit der Hitze kämpfen. Vielleicht hätten etwas leichtere Stoffe dem zumindest etwas Abhilfe schaffen können. Ein Bühnenbild ist nicht vorhanden, dafür aber viele zeittypische Requisiten. Es spielen ausdrucksstark und differenziert von der Balustrade herab acht Mitglieder der bekannten lautten compagney Berlin, in der Musikdramaturgie von Wolfgang Katschner, musikalisch geleitet von Birgit Schnurpfeil. Das Publikum applaudiert sehr angetan.

Dr. Claudia Behn

„Auf der Suche nach der besten Welt – ein Opern-Pasticcio über Musen, Acker und Bankrott“ (2023)

Infos und Termine auf der Website des Liebhabertheaters Schloss Kochberg

27. Juni 2023

Eine Pyramide aus Licht

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Giuseppe Verdis „Aida“ ist ja ein Kammerspiel extremer Gefühle, mit fünf Duetten und drei Arien, denen gerade mal zwei große Chorszenen gegenüberstehen. Doch der Anlass der Komposition (ein Auftrag zur Eröffnung des Suezkanals 1871) und nicht zuletzt auch die opulenten Inszenierungen machen das Werk genauso zum Massenspektakel – Paradebeispiel dafür sind die bald 750 (!) Aufführungen im antiken Riesenoval der Arena di Verona, dreimal mehr als irgendeine andere Oper dort erlebt hat. Idiomatisch sind die Pyramiden, Palmblätter und Sphinxen, nicht erst in der seit 2002 tonangebenden Deutung von Regie-Altmeister Franco Zeffirelli (der übrigens, passend zur aktuellen 100. Ausgabe der Festspiele, im Februar seinerseits 100 Jahre alt geworden wäre).

Keine leichte Aufgabe also für Stefano Poda, den Opern-Ästheten, der wie immer neben der Regie auch Bühne, Kostüme, Choreografie und Licht gestaltet hat. Er will beides nicht, nicht die feine psychologische Ausdeutung und erst recht nicht den Orientkitsch. Sein Anliegen, so lesen wir im Programmbuch, ist es, „in einer von Gegenständlichkeit und Realismus beherrschten Welt […] Raum für die Seele und Träume zu schaffen“, jede(r) solle die eigenen „meditativen Fähigkeiten wecken“ können. Das schafft er zweifellos: Jeder Augenblick der dreieinhalb Stunden könnte als Feng-Shui-Wandposter herhalten, in leuchtender, weiß-schwarz-roter Stefano-Poda-Optik, mit Lichtpyramide, Silberkostümen und einer riesigen schiefen Plexiglas-Ebene als Hauptelement.

Jedoch – die Bühne als Spielraum für Theater hat ja eine Funktion, es ist nicht egal, wo und wie die Figuren sich darin bewegen, wo sie stehen, wo auf- und abgehen. Und hier geht Poda das Stück verloren. Wenn der Äthiopierkönig Amonasro seine Tochter Aida bestürmt, von ihrem Liebsten Radamès die Route des ägyptischen Heeres zu erfragen, wälzen sich unzählige halbnackte Zombies in „Edle Wilde“-Optik (das sind seine toten Soldaten) dekorativ am Boden; sie (als Sklavin!) schreitet aus irgendwelchen Gründen royal durch ein Lichtstab-Spalier einer halben Hundertschaft Statisten; in den oberen Arena-Rängen turnen immer wieder schwarz oder weiß gewandete Tänzer, wer wer sein soll, geht meist unter im Gewühl. Sehr, sehr schön sieht das aus und dabei oft sehr, sehr beliebig.

Und so hat diese „Aida“ ihre stärksten Momente, wenn keine hübsch mäandernden Massen stören: Die beiden Duette von Aida und Radamès, besonders auch das der Pharaonentochter Amneris mit dem Heerführer – das geht ans Herz. Die Rollen hat Sängerin-Intendantin Cecilia Gasdia perfekt gecastet (mit jeweils bis zu sechs Besetzungen über den „Aida“-Sommer). In der besuchten Vorstellung tönen Abramo Rosalen (König), Roman Burdenko (Amonasro) und Alexander Vinogradov (Ramfis) wuchtig und bestens verständlich, Angelo Villari (Radamès) stellt sich seiner Aufgabe zunehmend tenorstrahlend und spielfreudig, Monica Conesa füllt die Titelrolle nie forcierend, mit warmem Kern, starken Ausbrüchen und berührenden Piani. Meisterhaft gebietet schließlich Olesya Petrova über die riesige Tessitura der Amneris, mit dunkler Tiefe und flackernder Höhe, dringlich, emotional – und mit schlicht erstaunlichen Stimmreserven. Dirigent Marco Armiliato hat das Gewoge im weiten Rund ausladend-präzise im Griff, jedenfalls meistens.

Ob eine Verdis Oper nur als Folie benutzende, humanistisch-ästhetische Vision dem Arena-Publikum gewichtig genug ist, die über Jahrzehnte liebgewonnenen Palmwedel dauerhaft abzulösen? Das werden die kommenden Jahre zeigen.

Stephan Knies

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Arena di Verona

19. Juni 2023

Ein Tanz mit Marylou

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Mit Paul Abrahams „Ball im Savoy“ begann Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin seine wundersame Entdeckungsreise in die Gefilde der Unterhaltungskultur um 1930. Sie leitete eine nachhaltige Rehabilitation dieses im Dritten Reich verfolgten, im amerikanischen Exil psychisch unheilbar erkrankten jüdischen Komponisten ein: Nicht nur „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und eben „Ball im Savoy“, seine drei damals besonders populären Operetten, schmücken regelmäßig die Spielpläne deutschsprachiger Bühnen, auch das 1934 in Wien uraufgeführte musikalische Lustspiel „Märchen im Grand-Hotel“. Im Staatstheater Cottbus sorgt es jetzt in einer aus Nürnberg übernommenen, teilweise überarbeiteten Produktion für den umjubelten Saisonausklang – in der Regie von Otto Pichler, der als Choreograf in Koskys Stammteam wesentlich zum Erfolg der Operetten-Revivals beitrug.

Das Stück beginnt in Hollywood, wo Filmproduzent Sam Makintosh nach einer neuen Story mit Happy End sucht. Daher reist Tochter Marylou in ein mondänes Grand-Hotel an der Côte d’Azur, in dem die von Geldsorgen geplagte spanische Prinzessin Isabella mit ihrer Entourage residiert. Als sich Albert, der als Kellner arbeitende Sohn des Hotelbesitzers, unstandesgemäß in sie verliebt, sind turbulente Verwicklungen vorprogrammiert. Im Finale finden Adel und neureiches Bürgertum zueinander und Marylou hat ihren Plot.

In Jan Freeses Bühnenbild trifft amerikanische Filmwelt auf europäische Historie. Ein im Hintergrund thronender Riesenaffe symbolisiert Hollywood – „King Kong“, der legendäre Horrorschinken von 1933, lässt grüßen –, während im Hotelsaal Fragonards Rokokogemälde „Die Schaukel“ auf die kommenden amourösen Wirrungen einstimmt. Otto Pichler lässt die Geschichte mit überbordender Vitalität ablaufen und nutzt jede Gelegenheit für effektvolle Revue-Einlagen, die, ob Burlesque-Show oder energetische Steppnummer, eine Steilvorlage für das Cottbusser Ballett sind. Albert alias Jörn-Felix Alt, in jeder Geste ein Romantiker, macht der Infantin auf so treuherzig-unbeholfene Weise den Hof, dass ihm alle Sympathien zufließen. Anna Martha Schuitemaker bietet vokale Noblesse und überspielt Isabellas Gefühlschaos mit hochmütigem Glamour. Hardy Brachmann, Heiko Walter, Andreas Jäpel und Jens Janke erweisen sich als Komiker ersten Ranges, übertroffen noch von Gesine Forberger. Die Sopranistin, sonst oft im dramatischen Fach eingesetzt, demonstriert als Hofdame, dass sie auch kabarettistische, erotisch unterfütterte Vortragskunst mit pointierter Sprachkultur beherrscht. Bleibt Marylou. Maria-Danaé Bansen scheint direkt vom Broadway eingeflogen zu sein. Wie ein Wirbelwind fegt sie über die Bühne, singt und tanzt mit grenzenloser Energie, sodass jeder ihrer Auftritte zum Showstopper gerät. Das Philharmonische Orchester des Staatstheaters unter Leitung von Johannes Zurl bringt Abrahams unwiderstehliche Melange aus europäischem Operettenschmelz und swingendem Jazz locker und fetzig über die Rampe. Kurzum: Cottbus hat seine Operetten-Attraktion.

Karin Coper

„Märchen im Grand-Hotel“ (1934) // Lustspiel-Operette von Paul Abraham

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Cottbus

12. Juni 2023

Brünstiges Begehren und Gewalt

Halfing / Immling Festival (Juni 2023)
Richard Strauss’ Musikdrama „Salome“ aus psychoanalytischer Perspektive

Halfing / Immling Festival (Juni 2023)
Richard Strauss’ Musikdrama „Salome“ aus psychoanalytischer Perspektive

Mit einem Paukenschlag eröffnet das Immling Festival die Saison. Intendant und Gründer Ludwig Baumann setzt Richard Strauss’ „Salome“ aufs Programm – eine zweifache Premiere. Denn das Musikdrama gab es noch nie in Immling zu sehen. Von einer solchen Dimension habe er bisher nur geträumt, erklärt Baumann zur Begrüßung vor ausverkauftem Haus.

Mit seiner Inszenierung lenkt er den Blick zurück in die Entstehungszeit der Oper. Aber er lässt sich nicht von der Begeisterung für Exotik, dem Jugendstil oder der Dekadenz des Fin de Siècle leiten, sondern greift Sigmund Freud und seine Erkenntnisse zum Unterbewusstsein auf. Fasziniert von den „extremen“ Charakteren, betrachtet er das Musikdrama, wie er im Programmheft betont, aus „psychoanalytischer Perspektive“. Zur Frage, ob plötzliche Laune oder existenzieller Zwang Salomes Verhalten und ihren Wunsch nach Jochanaans Kopf bestimmt, bezieht er mit seiner Regiearbeit eindeutig Stellung.

Die gesamte Bühne zeigt Baumann als Gefängnis. Düsternis bestimmt sie. Wie die an die Expressivität der Stummfilme erinnernden Projektionen (Linua Land und Mariella Weiss) ist bis zu den Kostümen (Camilla Wittig) alles in Schwarz-Weiß gehalten. Überall befinden sich Kameras. Nicht nur Jochanaan ist ein Gefangener – alle Figuren des Dramas sind es. Herodias ist verstrickt in ihre Schuld an doppeltem Ehebruch. Herodes wird getrieben von seiner Begierde, seinem Machthunger und seinen Schuldgefühlen. Die Prophezeiung Jochanaans, nach ihm werde einer kommen, der stärker sei als er, beängstigt ihn zutiefst. Er fühlt das Unheil kommen und sieht in allen Erscheinungen drohende Zeichen. Salome wird heimgesucht von ihrem Kindheitstrauma. Ähnlich wie Cyril Teste an der Wiener Staatsoper begreift Baumann Salome als ein in seiner Kindheit missbrauchtes heranwachsendes Mädchen. Diese Deutung zieht er stringent durch. Bereits zu Beginn zeigt er an der Bühnenrückwand Projektionen eines Kindes. Noch deutlicher wird es, wenn sich während des Tanzes der sieben Schleier ein schwarzer Schatten über das Kind schiebt. Baumann legt die Hintergründe offen und entlarvt die rauschhafte Einheit von Eros und Tod, brünstigem Begehren und Grausamkeit, die das Werk vor Augen führt. Entsprechend drastisch gestaltet er die Szene, wenn Salome den abgeschlagenen, blutenden Kopf Jochanaans küsst.

Getragen wird die Inszenierung von einem großartigen Sänger-Ensemble, allen voran Lidia Fridman, die eine phänomenale Salome von elektrisierender Präsenz auf die Bühne stellt. Ihr Sopran besitzt eine beeindruckende Flexibilität und Durchdringungskraft. Auch die übrigen Sänger wie Hans-Georg Priese (Herodes), Kassandra Dimopoulou (Herodias) und Rhys Jenkins (Jochanaan) überzeugen stimmlich und darstellerisch. Mit Verve leitet Cornelia von Kerssenbrock das Festivalorchester Immling, das sie um das Staatliche Kammerorchester Tiflis zu einem harmonischen Klangkörper geformt hat, und spornt es mit inspirierender Kraft zu Höchstleistungen an. Am Ende ist das Publikum spürbar überwältigt und feiert die Künstler mit langanhaltendem Applaus.

Dr. Ruth Renée Reif

„Salome“ (1905) // Musikdrama von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website des Immling Festivals

11. Juni 2023

Engel der Vernichtung

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Juni 2023)
Zerfall des Bürgertums in Battistellis „Il Teorema di Pasolini“

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Juni 2023)
Zerfall des Bürgertums in Battistellis „Il Teorema di Pasolini“

Giorgio Battistelli (*1953) hat für seine jüngste Oper Pier Paolo Pasolinis (1922-1975) „Teorema“ als Vorlage benutzt: den Film von 1968 und das Buch. Ein junger Mann verführt als Gast mit seinem erotischen Charisma in einem großbourgeoisen Haushalt nacheinander Haushälterin, Sohn, Tochter, Mutter und dann auch noch den Vater. Auf seine Frage, wer der Besucher sei, habe ihm, so der Komponist im Programmheft, Pasolini geantwortet: „Denke ihn Dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“ Wenn der metaphorisch der Auslöser für den Anfang vom Ende einer bourgeoisen Werteordnung ist, dann wird der eskalierende Zusammenbruch aller einzelnen Existenzen, der Familie und damit der Gesellschaft nach der Abreise des Fremden zur logischen Konsequenz.

Das britisch-irische Theaterkollektiv „Dead Centre“ (Ben Kidd und Bush Moukarzel) zeigt das als Laborversuch. Wie auf dem Display werden relevanten Daten für jede Szene auf einen Zwischenvorhang projiziert. Wissenschaftler wuseln mit der entsprechenden Ausrüstung und in weißen Schutzanzügen vor den Zimmern herum, die sich jeweils wie in einem Zoom öffnen und wieder schließen. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Terrasse usw. tauchen mal einzeln auf, mal eins neben dem anderen, dann im zweiten Teil alle Zimmer auf einmal. Da ist der geheimnisvolle Besucher wieder verschwunden und alle sind auf sich selbst zurückgeworfen.

Jetzt spielen die im ersten Teil von Schauspielern gedoubelten Akteure auch. Mit ihren Parts zwischen Sprechgesang und Deklamieren berichten sie stets in der dritten Person von sich und ihrem Tun. Der Weg in den Abgrund ist flankiert von immer surrealeren Bildern. Hausmädchen Emilia (Monica Bacelli) etwa entschwebt wie eine Heilige gen Himmel. Mutter Lucia (Ángeles Blancas Gulin) stürzt sich in wilde Sexabenteuer. Pietro (Andrei Danilov) entdeckt den Aktionskünstler in sich, seine Schwester Odetta (Meechot Marrero) hat einen psychischen Knacks. Als Höhepunkt zieht schließlich Vater Paolo (Davide Damiani) nackt in die Wüste und entlässt uns mit einem Urschrei des Alleinseins. Nur für den Gast reichen Gestalt und Stimme von Nikolay Borchev. Allesamt sind erstklassig!

Daniel Cohen und das Orchester der Deutschen Oper Berlin zelebrieren diese über weite Strecken sinnliche, langsam atmende Musik mit Augenmaß und halten die atmosphärische Spannung dieses pulsenden Raunens, das sich mit handwerklicher Perfektion von vielen Quellen inspirieren lässt, langsam aufbaut und auch wieder abflaut.

Ob man nun einem Laborversuch oder der Geschichte einer großen Verführung zu sich selbst, einer Verunsicherung oder Apokalypse im Kleinen, eine Selbstbefreiung oder Selbstvernichtung beigewohnt hat, bleibt offen. Antworten sind dem Publikum überlassen – und das ist gut so. Der Beifall ist einhellig.

Roberto Becker

„Il Teorema di Pasolini“ (1992/2023) // Musiktheater von Giorgio Battistelli

Infos und Termine auf der Website der Deutschen Oper Berlin

6. Juni 2023

Lohnendes Wagnis

Regensburg / Theater Regensburg (Juni 2023)
Maazels „1984“ als spannende Literaturoper

Regensburg / Theater Regensburg (Juni 2023)
Maazels „1984“ als spannende Literaturoper

Lorin Maazels Literaturoper „1984“, basierend auf dem Jahrhundertroman von George Orwell, auf den Spielplan zu setzen ist ein Wagnis. Nicht nur, weil das Werk bei seiner Uraufführung denkbar negativ rezensiert wurde, sondern auch, weil die Partitur so ausladend ist, so reich instrumentiert, dass ohnehin nur die größten Häuser sich daran versuchen können. London hat sich getraut, Mailand, Valencia. Und nun, nach über einem Jahrzehnt ohne eine Aufführung, Regensburg.

Inszeniert hat „1984“ Intendant Sebastian Ritschel selbst, der im Vorgespräch zur Inszenierung sagt, das Werk müsse heute neu gedacht werden. Das passiert in seiner Inszenierung allerdings nicht. Zwischen Gerüsten und Bildschirmen spielt sich eine konventionelle Operninszenierung ab. Stellenweise wird das Bühnengeschehen sogar langweilig, etwa in den langen Duetten mit Winston und Julia, in denen fast nichts passiert – ob das nun an Ritschels Inszenierung oder an der nicht optimalen Dramaturgie der Oper liegt, lässt sich schwer sagen. Überwiegend aber gelingt es der Regie, eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Besonders die Massenszenen mit uniform gekleidetem Chor wirken. Die Aufführung ist nur eben kein brennend aktuelles, aufrüttelndes „1984“, sondern eine solide Literaturoper.

Natürlich wird in Regensburg nicht die Originalfassung der Oper gegeben – so groß ist der Orchestergraben des werdenden Staatstheaters nicht – sondern eine reduzierte Fassung von Norbert Biermann. Das Ergebnis begeistert sogar Dietlinde Turban Maazel, die Witwe des Komponisten. Sowieso vollbringt das Philharmonische Orchester Regensburg unter der Leitung von Tom Woods an diesem Abend Höchstleistungen. Von der Hymne Ozeaniens über jazzige Kaffeehausmusik bis hin zur intensiven Folterszene gelingen die verschiedenen Facetten des Werks höchst eindrucksvoll.

Auch das Sängerensemble ist äußerst souverän. Jan Żądło glänzt mit donnernder, aber doch immer verletzlicher Baritonstimme als Protagonist Winston Smith, an seiner Seite gibt Theodora Varga eine ausdrucksstarke Julia. Den O’Brien singt Anthony Webb. Seine lyrische, fast süße Tenorstimme klingt erst einmal gar nicht nach Bösewicht, passt aber deswegen umso besser zum schmeichlerischen Staatsdiener. Kirsten Labonte begeistert gleichermaßen als Gym Instructress und Drunken Woman, Jonas Atwood imponiert als Parsons, Carlos Moreno Pelizari singt souverän den Syme. Der Opernchor, einstudiert von Alistair Lilley, hat mit dem englischsprachigen Text zu kämpfen (ein paar Worte werden vernuschelt), ist aber im Großen und Ganzen überzeugend. Besonders bejubelt werden die jungen Sängerinnen und Sänger des Cantemus Chors, einstudiert von Matthias Schlier.

Beim Publikum kommt der Abend gut an. Die Premiere ist gut besucht, besonders junge Zuschauer unter 30 Jahren sind erfreulich zahlreich vertreten. Am Ende werden die Künstlerinnen und Künstler mit kräftigem Applaus belohnt. Das gewagte Experiment, „1984“ auf den Spielplan zu setzen, gelingt.

Adele Bernhard

„1984“ (2005) // Oper von Lorin Maazel in einer Fassung für mittelgroßes Orchester bearbeitet von Norbert Biermann

Infos und Termine auf der Website des Theaters Regensburg