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Rezensionen 2023/04

21. April 2023

Das Prinzip Öffnung

Paris / Opéra national de Paris (April 2023)
Paris punktet mit erfolgreichen Vorpremieren für ein junges Publikum – und serviert Händels „Ariodante“ leider halbgar

Paris / Opéra national de Paris (April 2023)
Paris punktet mit erfolgreichen Vorpremieren für ein junges Publikum – und serviert Händels „Ariodante“ leider halbgar

Die in Paris praktizierte Vorpremiere für unter 28-Jährige ergibt tatsächlich ein Opernhaus voller junger Leute. Selbst bei der nicht besonders aufregenden jüngsten „Ariodante“-Inszenierung mit mustergültiger Disziplin, inklusive kundig dosiertem Szenenapplaus für die Sänger und enthusiastischem Jubel am Ende!

Das „nouveau spectacle“ auf dem Programmzettel sollte man diesmal nicht assoziativ frei übersetzen. Richtig neu (im Sinne von originell) und wie ein mitreißendes szenisches Ereignis, das man Spektakel nennen könnte, wirkt dieser „Ariodante“ nicht. Obwohl eine Robert-Carsen-Inszenierung lange eine sichere Bank war, wirkt sie diesmal vor allem routiniert. Nicht nur die Bühne (an der Luis F. Carvalho mitwirkte) kommt wie ein vorgefertigter, funktionaler Baukasten daher, sondern die ganze Inszenierung: ein Guckkasten-Saal in Grün, mit bis zu vier Riesentüren auf jeder Seite samt Jagdtrophäen oben drüber. Der wird je nachdem zum Schlafzimmer oder Büro verkleinert oder zum Thronsaal vergrößert. In Opern-Schottland geht es (kostüm-)kariert und (einfalls-)sparsam zu. Dazu eine gegenwartsnahe Meute aus Presse und Paparazzi. Was eher bemüht wirkt und mehr verdeckt als erhellt.

Im ersten Akt ist alles hell und in Butter. Ariodante ist dem König als Schwiegersohn und Erbe hochwillkommen. Wobei Emily D’Angelo in der Titelrolle nicht wirklich zum Kraftzentrum des Ensembles wird: im Habitus jungenhaft brav, immerhin mit wohlkalkulierter Steigerung an Durchschlags- und Ausdruckskraft für die Soli. Olga Kulchynska hingegen überzeugt mit einer geradlinig eleganten und dann auch die Talfahrt der Gefühle glaubhaft verkörpernden Ginevra. Christophe Dumaux fädelt als Bösewicht Polinesso mit intensiv gestaltendem Counter-Timbre die Intrige ein, die Ariodante einen Seitensprung Ginevras mit ihm vorgaukelt. Dalinda lässt sich (blind vor Liebe) zu dem dafür nötigen Kleidertausch verleiten. Tamara Banjesevic wertet mit temperamentvollem Spiel und souveränen vokalen Höhenflügen diese Rolle deutlich auf.

Im dritten Akt kommen dann das Geständnis Dalindas und der wiederauftauchende Ariodante gerade rechtzeitig, um Ginevra zu retten und ein Alles-auf-Anfang zu behaupten. Dass vor allem Ginevra dieses ganze Theater ohne Blessuren und Langzeitschäden übersteht, ist schwer zu glauben. Die meisten Regisseure glauben es Händel auch nicht. Carsen lässt sich erstaunlicherweise nicht wirklich auf die berechtigten Zweifel ein. Am Ende wechseln die glücklich Vereinten vom formell royalen Dresscode ins Freizeit-Zivil und verlassen das Stück. Zurück bleiben die Wachsfiguren-Doubles der „richtigen“ britischen Royals und ein Selfie-versessenes Touristenpublikum.

Die respektable Ensembleleistung wird von Harry Bicket und The Englisch Concert geschmeidig begleitet. Man würde aber gerne auch die Faszination erleben, für die der Jubel des jungen Publikums angemessen wäre.

Roberto Becker

„Ariodante“ (1735) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

19. April 2023

Thriller im ewigen Eis

Bielefeld / Theater Bielefeld (April 2023)
Deutsche Erstaufführung von Stuart MacRaes „Anthropocene“

Bielefeld / Theater Bielefeld (April 2023)
Deutsche Erstaufführung von Stuart MacRaes „Anthropocene“

Das Schiff Anthropocene ist mit seinem Eigner Harry King auf Expedition in der Arktis. Leiterin ist Prof. Prentice, ihr Ehemann Charles ist daran beteiligt. Kapitän Ross und sein Adlatus Vasco sind die Befehlsempfänger in dieser ungleichen Konstellation. Von Ross erfährt man, dass er sein letztes Schiff verloren hat. Er, Arktis-erfahren, betrachtet diese Fahrt als seine Rehabilitation. Zur Gruppe gehören noch ein Journalist namens Miles Black, der von Kings Ruhmestat berichten soll, sowie Kings Tochter Daisy, eine Fotografin. Der Auftrag: nach Beweisen für den Klimawandel zu suchen. Die Szene zeigt auf der linken Bühnenhälfte den Blick auf das schräge Vordeck des Schiffes. Die rechte Bühnenseite wird beherrscht von einem Eisberg, an dessen Vorfeld das Schiff angelegt hat (Ausstattung: Anna Schöttl).

So viel zur Ausgangsposition von Stuart MacRaes Oper „Anthropocene“, in der das Scheitern bereits angelegt ist. Das beginnt mit der Selbstdarstellung Harry Kings als scheinbar unwiderstehlichem Finanzmagnat. Der freilich, wie er selber zugibt, von Papas Geld lebt. Musik wie Inszenierung kennen bei ihm nur himmelhochjauchzende oder zu Tode betrübte Gemütshaltungen. Es setzt sich fort in der arroganten Haltung beider Wissenschaftler, deren Eitelkeit und Empathielosigkeit wissenschaftliche Neugier überstrahlt. Miles Black scheitert an seiner Hybris als Sensationsjournalist. Der Kapitän scheitert, weil er sich trotz richtiger Einsicht in die kommende Katastrophe nicht durchsetzen kann. Vascos Untergang resultiert aus seiner Unfähigkeit, sich gegen seinen Mörder Miles Black zu verteidigen.

Und dann ist da noch Ice. An ihr scheitern alle und deswegen die Expedition. Charles Prentice findet sie auf einem der Suchgänge. Er bringt einen großen Eisblock mit Inhalt zum Schiff, dem Ice entgleitet, eingefroren vor Urzeiten als Liebesopfer eines unbekannten Stammes, der sich so vor der drohenden Eiszeit rettet. Ihre Lebenszeichen nach dem Auftauen sind für alle die Sensation schlechthin. Black will seine Redaktion dafür interessieren, das Ehepaar Prentice sieht sich im Wissenschaftsolymp über Newton, Curie oder Darwin erhaben. Ross ist skeptisch, ängstlich. Er würde Ice am liebsten ins Meer werfen. Aber erstmal ist arktischer Winter und Überleben angesagt. In dieser Zeit lernen sich die Irdischen und Ice ein wenig kennen. Sie lernt erstaunlich schnell die ihr neue Sprache.

Musikalisch geht es hoch und vor allem laut her. Bevor sich die Akteure in ihren Positionen finden, gibt es diverse Rangeleien, besser Hahnenkämpfe um die Oberhoheit: z.B. Wissenschaft contra Kapitän und Bootseigner contra Kapitän. In beiden Fällen zieht Letzterer den Kürzeren. Da sind die Bielefelder Philharmoniker unter Gregor Rot quer durch die Instrumentierung, die durch Holz- und Blechbläser dominiert ist, stark gefordert. Denn wann immer es turbulent wird – und das wird es des Öfteren – wird es laut. Sehr laut. Das ist ein doppeltes Problem. Zum einen müssen die Sängerinnen und Sänger Erhebliches leisten, um einigermaßen hörbar über das Orchester zu kommen, zum andern fehlt es an Differenzierungen, um die Rollen zu charakterisieren. Wenn die Männer gegen- oder miteinander singen, tönt es einfach nur unangenehm. Den Frauen wird Höhe abverlangt. Die Begegnungen zwischen Professor Prentice und Ice oder deren Eiserzählung sind feinste lyrische Momente. Oder Ices „Wiedergeburt“: Sehr hohe Flageolett-Töne kommentieren ihre ersten Atemzüge und Seufzer, in den Streich- und Blasinstrumenten sind gewissermaßen irisierende Töne zu hören. Da gewinnt die ansonsten blasse Inszenierung (Maaike van Langen) Format.

Ein Wort noch zu den Kostümen: Verlangt war Arktisausrüstung, gezeigt wurde eine Wintermodenschau in der Arktis. Es wäre ungerecht, einzelne Akteure herauszuheben. Zu loben sind alle ob der Bravour, mit der sie die schweren Partien meistern.

Ulrich Schmidt

„Anthropocene“ („Die Frau aus dem Eis“) (2019) // Oper von Stuart MacRae

18. April 2023

Im Bann des Vergangenen

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (April 2023)
Faszinierende Neuinszenierung von Korngolds „Toter Stadt“

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (April 2023)
Faszinierende Neuinszenierung von Korngolds „Toter Stadt“

Sie kommt zwar etwas verspätet, aber diese Neuinszenierung von Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ kann man getrost noch unter dem Label eines runden Stück-Jubiläums einordnen. Als diese Oper 1920 in Hamburg und Köln gleichzeitig uraufgeführt wurde, war der damals 23-jährige Komponist als Wunderkind unter Genieverdacht längst etabliert. Seine Karriere in Deutschland endete, als der Rassenwahn der Nazis zur Staatsdoktrin wurde. Er ging in die USA und nahm sich dort mit Erfolg der Entwicklung der Filmmusik in Hollywood an.

Aus seiner opulent schwelgerischen Musik erheben sich zwei klug platzierte, unverwüstliche Nummern: „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Das musikalische Drumherum kann es ohne weiteres mit dem von Richard Strauss aufnehmen. Axel Kober hat dafür am Pult der Düsseldorfer Symphoniker genau das richtige Gespür und hält obendrein die suggestive Orchesterpracht mit dem erstklassigen Ensemble in der Balance.

Die „Kirche des Gewesenen“, die sich der um seine tote Frau Marie trauernde Paul in Brügge eingerichtet hat, ist bei Daniel Kramer (Regie) und Marg Horwell (Ausstattung) eine Art verhängtes Atelier, in dem Paul mit einer lebensgroßen Kopie seiner Marie zusammenlebt. Für den Auftritt der Schauspieltruppe Mariettas und die Imagination der Prozessions-Szene genügt der düster abstrakte Platz von Pauls Wohnung.

Marie geistert aber auch als gespenstisch bleiche Untote (Mara Guseynova singt und spielt das auch überzeugend genauso) um Paul herum. Sichtbar ist sie nur für ihn und für uns. Die übersprudelnd lebendige Tänzerin Marietta, in der Paul sie sehen und lieben will, ahnt die Anwesenheit der Toten nur. Freilich bleibt es auch hier letztlich in der Schwebe, ob die Annäherung von Marietta an Paul und dessen Ringen, sich darauf einzulassen oder nicht, real oder nur ein Traum ist, mit dem er sich immerhin aus der Sackgasse seines Lebens befreit. 

Nadja Stefanoff und Corby Welch laufen dabei als Marietta und Paul zu vokaler und darstellerischer Hochform auf. Sie imponiert mit ihrer attraktiven Vitalität, er vor allem mit seinem grandios aufdrehenden, mühelos wirkenden heldisch hellen Tenor. Da auch Anna Harvey als treue Haushälterin Brigitta und Emmett O’Hanlon als Freund Frank da mithalten, ist das Ganze ein Sängerfest von Rang. Nicht nur mit der Trennung von Marie und Marietta bleibt Kramer dichter am Stück, als es sich eingebürgert hat, er lässt auch seinem Paul die Chance auf eine Rückkehr ins Leben. So wird sein berührendes „Glück, das mir verblieb“ zu guter Letzt zu einem, „Glück, das uns verblieb“. Der Jubel des Premierenpublikums entspricht dem Format dieses geradezu kulinarischen Musiktheater-Ereignisses voll und ganz.

Roberto Becker

„Die tote Stadt“ (1920) // Oper von Erich Wolfgang Korngold