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Rezensionen 2026/01

2. Dezember 2025

Aufbruch in die Komfortzone

Augsburg / Staatstheater Augsburg (November 2025)
Nicolais „Lustige Weiber von Windsor“ bringen (gemütlich) zum Lachen

Augsburg / Staatstheater Augsburg (November 2025)
Nicolais „Lustige Weiber von Windsor“ bringen (gemütlich) zum Lachen

Sir John Falstaff bricht am Staatstheater Augsburg im wahrsten Sinne des Wortes in das kleinkarierte, bürgerliche Windsor ein. Dessen spießige Trostlosigkeit zeigt sich schon während der Ouvertüre: das gekachelte Bühnenbild, die Männer in kariertem Grünton, die Frauen in gelben Kostümen im Stile der britischen Konservativen der 60er (Ausstattung: Lena Brexendorff). Eine Welt, die an ihrer eigenen Ordnung erstickt. Frau Fluth wie Frau Reich möchten raus aus dieser, ihrer Spießbürgerlichkeit. In einer Sänfte aus Plüsch und Lametta, mit Rüschen und glitzerndem Chaos, in Leoparden-Leggings und rosa Crocs tritt nun ihre Rettung auf. Falstaff ist in Christian Poewes Inszenierung kein Bacchant, sondern vielmehr ein komischer Vogel: bunt, laut, deplatziert. Er muss sich in dieser Welt nicht beweisen oder selbst aktiv werden; sein bloßes Auftreten genügt, um sie in Bewegung zu setzen.

Lustig sind vor allem die holzschnittartig überzeichneten Figuren und deren oft slapstickhafte Aufeinandertreffen – ein Humor, der gefallen will. Wilhelm Zentner schrieb über Nicolais Oper, sie sei zu ihrem Verständnis an keinerlei Voraussetzungen gebunden; dieses Prinzip wird hier im positivsten Sinne eingelöst.

Insbesondere musikalisch überzeugt die Aufführung: Unter GMD Domonkos Héja entfalten die Augsburger Philharmoniker ein rundes, farbenreiches Klangbild, das Nicolais Partitur fein ausleuchtet. Dass in den Rezitativen die jeweilige Muttersprache der Darstellerinnen und Darsteller erklingt, bleibt überraschend verständlich, nicht zuletzt dank starker Bühnenpräsenz. Sängerisch zeigt der Premierenabend Licht und Schatten: Sally du Randt singt technisch versiert, ohne jedoch die kecke Leichtigkeit ihrer Frau Fluth ganz zu erreichen, während Kate Allen Frau Reich ausdrucksstark gestaltet. Claudio Zazzaros Fenton klingt leider gepresst, während seine Mitstreiter Markus Hauser (Dr. Cajus) und Oliver Huttel (Junker Spärlich) komödiantische Akzente setzen. Avtandil Kaspeli zeichnet seinen Falstaff mit routinierter Bassbuffo-Energie, obgleich sich Textfehler bemerkbar machen.

Trotz allem geht das Konzept der Inszenierung, die bürgerliche Welt Windsors zu überwinden, nicht so recht auf: Gezeigt wird nicht die Auflösung oder Überwindung der bürgerlichen Normen, sondern deren Fortführung in neuer ästhetischer Form. Die schrille, überbordende Singularität Falstaffs wird von allen Bürgern in ihrem Sommernachtstraum einfach kopiert – seine Andersartigkeit wird selbst zur Norm. Scheinbare Neuerungen wie ein kurzer Kuss zwischen Frauen oder die Heirat von Dr. Cajus und Spärlich bleiben Gesten ohne Sprengkraft. Gleichzeitig bleibt das Biedermeier-Bühnenbild während der gesamten Aufführung unverrückt, sodass die Inszenierung eigentlich selbst entlarvt, dass die alte Ordnung formal intakt bleibt.

Mit Andreas Reckwitz gesagt: Falstaffs Singularität wird kopiert, die Bürger erleben scheinbare Freiheit, folgen aber in Wahrheit einer neuen impliziten Norm – Transformation ersetzt Überwindung. So wird die Inszenierung zum unfreiwilligen Spiegel jener Gesellschaft, die sie überwinden will: prächtig unterhaltend und strukturell unverändert.

Hendrik Ruhe

„Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849) // Komisch-fantastische Oper von Otto Nicolai

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Augsburg

2. Dezember 2025

Heiligabend mit Teufelsballett

München / Bayerische Staatsoper (November 2025)
Rimski-Korsakows „Nacht vor Weihnachten“ nicht mehr als routiniert

München / Bayerische Staatsoper (November 2025)
Rimski-Korsakows „Nacht vor Weihnachten“ nicht mehr als routiniert

Das Pendant – Tschaikowskis Oper „Pantöffelchen“ – wird ab und zu gegeben, doch Rimski-Korsakows Gogol-Vertonung desselben Stoffes bleibt im Prinzip eine Leerstelle im Repertoire deutschsprachiger Länder. Sie heißt „Die Nacht vor Weihnachten“ und folgte 1895 Rimski-Korsakows Vertonung der „Mainacht“ (ebenfalls nach Gogol). Beide Werke ähneln sich nicht nur im Schauplatz – ein ukrainisches Dorf –, sondern auch in der Märchenhaftigkeit, der Lüsternheit eines Honoratioren plus allgemeiner Trinkfreude bis hin zu einer Hochzeit vor großem Feiertag. In der Mainacht ist es Pfingsten, in der „Nacht vor Weihnachten“ das Christfest. Doch wird dieses bei Gogol/Korsakow überlagert von den heidnischen Feiern der winterlichen Sonnenwende: Von nun an werden die Tage wieder länger; Licht, Leben und Wachstum erwachen neu. Der Volksglaube erhält dabei Auftritt mit Hexe, Teufel, Zauberer – und vielen festlichen „Koljada“-Gesängen.

Der teils ukrainisch-stämmige Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski tritt seit Jahren nachdrücklich für die Kulturen seiner russisch-ukrainischen Herkunft ein – jetzt also mit der „Nacht vor Weihnachten“. Dabei ist der Vierakter kein unproblematisches Stück, weil er mehr episodenhaft als in einem geschlossenen Bogen eine provinzhaft-nette Posse umreißt: Wie der Schmied Wakula gegen Teufelsmacht letztlich doch bei der selbstverliebten Oksana landet, indem er ihr Pantöffelchen der Zarin höchstselbst als Geschenk überreicht.

Wenn sich nun final Wakula und Oksana ganz in Weiß in die Arme fallen, dann blitzt nach einem bunten Abend der Gedanke nicht nur an Scherz, Satire, Ironie auf, sondern auch an Persiflage. Barrie Kosky ist als Regisseur einmal mehr an der Staatsoper zugange, diesmal routiniert das abspulend, was mutmaßlich beim Publikumsdurchschnitt Effekt macht, insbesondere bei einer Art „Familienabend“: Komik, Clownerie, auch Klamauk. Sein Rahmen für die Inszenierung: Ein Dorfvölkchen bringt – unter der Spielleitung eines boshaften Springteufels – sich selbst auf die Bühne. Erprobt wirbelig das Ganze, und auch ein zwölfköpfiges Teufelsballett sowie ein schwer feminin wirkendes Diversitätsballett sind – ausufernd – mit von der Partie. Mal wird Can Can getanzt, mal Kasatschok. Na ja. Im abstrahierenden Schneeflocken-Bühnenbild von Klaus Grünberg ist Hauptprotagonistin gleichsam Frau Holle. Viele, viele Papierschnipsel und einige Gänsefedern schaffen winterlich-weiße Gefühle.

Rimski-Korsakows Musik tönt dazu unter der liebevollen Leitung Jurowskis blühend spätromantisch, lautmalerisch, volkstümlich, chorisch kraftvoll bis hin zur hymnischen Weihnachtsfeier. Gleichzeitig singen Elena Tsallagova als Oksana und Sergey Skorokhodov als Wakula vortrefflich; sie mit einem so substanzreichen wie beweglichen Sopran, er mit tenoralem Metall ohne Kanten und Härte. Ekaterina Semenchuk spielt Wakulas Mutter Solocha als Schlachtross, und einmal mehr beweisen Violeta Urmana (Zarin) und Sergei Leiferkus (Dorfvorsteher) langjährige Bühnenpräsenz.

Rüdiger Heinze

„Ночь перед Рождеством“ („Die Nacht vor Weihnachten“) (1895) // Ein wahres Weihnachtslied. Oper von Nikolai Rimski-Korsakow

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

24. November 2025

„mit scharf Bruda“

Neustrelitz / Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz (November 2025)
Brüggemanns „Serail“-Döner kommt nicht über eine kalte Kartoffel hinaus

Neustrelitz / Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz (November 2025)
Brüggemanns „Serail“-Döner kommt nicht über eine kalte Kartoffel hinaus

Döner, Currywurst und Hamburger, Knarren, Drogen und Kleinkriminelle: Willkommen im Neustrelitzer Straßen-Imbiss … äh, Landestheater. Als erste Opernpremiere der Jubiläumssaison zum 250. Geburtstag des „Theaters für die Seenplatte“ steht Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf dem Spielplan. Regisseur Axel Brüggemann verlegt das Singspiel kurzerhand in die fettige Bude des türkischen Kleinkriminellen Sascha Pelim (vormals Bassa Selim). Und bedient nicht nur in dessen Werbung („Pelim’s Döner mit scharf Bruda“) Klischees, sondern auch darüber hinaus, wenn etwa Osmin (profund: Ryszard Kalus) den „Ich hab’ Feierabend“-Orientalen mimt. Das mag für einen Lacher reichen, nicht aber für ein in sich schlüssiges Konzept geschweige denn die Dramaturgie eines zweieinhalbstündigen Abends.

Stattdessen gibt es (Programm-)Einführungen zu (Mozarts) „kulturellen Aneignungen“ und zum „Plot“, werden reichlich Zwiebeln geschnitten und schlichte örtliche Anbiederungen geprobt. „Ganz Neustrelitz ist in meiner Hand!“ tönt Pelim (abgezockt: Patrick Khatami), dessen Imbiss von einer Horde feiernder Fußballfans der örtlichen TSG-Kicker geentert wird – vermutlich auch eine kulturelle Aneignung, allerdings eher der platten Art. Denn über diese vermeintlich zeitgenössischen Situationsübertragungen hinaus gelingt dem Regie-Debütanten Brüggemann keinerlei stimmige Personenführung und Fortentwicklung der Handlung. Mit der Folge von Rampengestehe und unlogischen Details: Ein gesprengter Tresor lässt sich nun einmal nicht wieder verschließen …

Schade um diese verpatzte Eröffnungspremiere der Jubiläumssaison des zweitältesten Theaters der Republik: Hatte doch hier dereinst Herzog Adolf Friedrich IV. für Aufsehen gesorgt, als der Regent in der Saison 1775/76 aus der Truppe des Wanderprinzipals Peter Florenz Ilgener sein Strelitzer Hoftheater formte, das fortan ein wöchentlich wechselndes Programm von Shakespeares „Hamlet“ bis Schillers „Räuber“ präsentierte – und damit den Grundstein legte für eine bildungsbürgerliche Residenzstadt, deren Geist bis heute in dem 20.000-Einwohner-Ort fortwirkt.

Wenigstens musikalisch kann sich die Produktion durchaus hören lassen: Generalmusikdirektor Daniel Geiss hat die Neubrandenburger Philharmonie im Griff, wenn diesem Mozart auch ein wenig mehr Feinarbeit in der Artikulation und federnde rhythmische Präzision zu wünschen gewesen wäre. Die fünf Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich trotz ihrer Rollendebüts sängerisch ordentlich (Lars Tapperts Belmonte allerdings mit mancher Ungenauigkeit in der Tongebung) bis eindrucksvoll (Yeonjoo Katharina Jang beweist als Konstanze nicht nur technische Souveränität). Zumindest ein kleiner Trost angesichts der misslungenen Döner-Regie.

Christoph Forsthoff

„Die Entführung aus dem Serail“ (1782) // Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart mit Dialogtexten von Axel Brüggemann

Infos und Termine auf der Website von Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz

4. November 2025

„Aida“ auf der AIDA

Kassel / Staatstheater Kassel (Oktober 2025)
Das neue „Interim“ bietet im Multifunktionsraum fast schon zu viel

Kassel / Staatstheater Kassel (Oktober 2025)
Das neue „Interim“ bietet im Multifunktionsraum fast schon zu viel

Es riecht noch nach frischer Farbe. Gerade einmal 18 Monate waren es von der ersten Idee bis zur Eröffnung des „Interim“, der Ersatzspielstätte des Kasseler Opernhauses während der technischen Sanierung. Intendant und Regisseur Florian Lutz zeigt zur Eröffnung mit Giuseppe Verdis „Aida“, was der Multifunktionsraum kann.

Der modulare Theaterbau – komplett rückbaubar zur Wiederverwendung an anderen Orten – bietet mit einem Bühnenraum von 25 mal 50 Metern und einer Höhe von 18 Metern Platz für bis zu 850 Gäste. Der Holzboden erstreckt sich über die gesamte Fläche, die Obermaschinerie mit 28 Zügen über die komplette Raumlänge. Im Boden eingelassen sind ein variabler Orchestergraben und eine Schwerlast-Drehscheibe. Eine umlaufende Gerüstgalerie dient als Spielfläche und Zuschauerraum. Die flexiblen Sitztribünen bieten unterschiedliche Varianten: Guckkasten, Raumbühne und immersive Arena. Bei „Aida“ steht die Tribüne auf der Drehscheibe, die die Zuschauer um 180 Grad zu einer Spielfläche im Hintergrund bewegt.

Verdis Oper spielt auf dem gleichnamigen Kreuzfahrtschiff. Chor und Statisten bevölkern auf Liegestühlen das Sonnendeck im Bühnenraum von Sebastian Hannak. Darunter sind auch einige Zuschauerinnen und Zuschauer – man kann „Adventure-Sitze“ an der Bar und im Restaurant buchen, geführte Ortswechsel durch „Crewmitglieder“ inbegriffen.

Statt ägyptischen Pyramiden gibt es Politik an Bord (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Heerführer Radamès (Gabriele Mangione) wird zu Wolodymyr Selenskyj, Priester Ramfis (Sebastian Pilgrim) ist Donald Trump. Als Priesterin (Daniela Vega) erleben wir Ursula von der Leyen, der ägyptische König (Ian Sidden) ist Frank-Walter Steinmeier. Aidas Vater Amonasro (Filippo Bettoschi) erinnert an Putin – inklusive filmischem Pferderitt. Aidas Rivalin Amneris, hinreißend dargestellt von Emanuela Pascu, kommt mit einem Porsche auf die Bühne gerollt. Aida arbeitet als Servicekraft auf dem Luxusschiff. Sie wird von Ilaria Alida Quilico grandios in ihrer Zerrissenheit zwischen Liebe und Loyalität dargestellt. Leinwände und Bildschirme (Videos: Konrad Kästner) untermalen jede Sekunde mit großflächigen Projektionen: Nachrichtenschnipsel, Livebilder und KI-generierte Sequenzen.

Das Staatsorchester Kassel unter Leitung von Ainārs Rubiķis überzeugt schon bei den ersten leisen Tönen und füllt den Raum auch in den kraftvollen Momenten. Gerade die Abstimmung zwischen Orchester und den überall im Raum befindlichen Solisten gelingt und schafft – je nach Sitzplatz – ungewöhnliche Gänsehautmomente. Es ist schon etwas Besonderes, wenn der sich gerade noch neben einem an der „Schiffsbar“ befindliche Mensch nicht als Zuschauer, sondern als Chorsänger entpuppt (hervorragend einstudiert von Marco Zeiser Celesti und Anne-Louise Bourbion). Fast möchte man mitsingen und mitspielen.

Der Start ist gelungen – es gibt freundlichen Applaus, einige Buhs für die Inszenierung und Jubel für die musikalische Seite des Abends.

Marcus Leitschuh

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Kassel