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Alban Berg

Neustart mit Publikumsvotum

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2021)
Alban Bergs „Wozzeck“ im „Pandaemonium“

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2021)
Alban Bergs „Wozzeck“ im „Pandaemonium“

Der neue Intendant in Kassel heißt Florian Lutz. In Halle hat er sein Theater der Zukunft erprobt und damit zwar nicht das Publikum, aber die Politik vor Ort überfordert. Jetzt ist er nicht nur für die Oper zuständig, sondern für alle Sparten. Außerdem wird er wohl auch den Umzug des Hauses in ein Provisorium bewältigen müssen, denn dass der Bau überholt werden muss, steht schon fest. Da hat es etwas von einem (Vor-)Zeichen, dass Baugerüste schon bei seiner ersten eigenen Inszenierung eine tragende Rolle spielen. Dass sein Hausszenograf Sebastian Hannak ihm eine Raumbühne (das „Pandaemonium“) daraus gezaubert hat, ist aber vor allem ein künstlerisches Statement zur Öffnung der Oper in Richtung Publikum. Ein zeitbedingt willkommener Nebeneffekt ist die den Corona-Restriktionen abgerungene Zuschauerzahl von ca. 630. Die hygienesichere Aufteilung der Zuschauer zwischen Saal und den auf Bühne und Seitenbühnen errichteten Rängen erlaubt weit mehr Opernfreunden als an anderen vergleichbaren Häusern die Rückkehr aus der erzwungenen langen Abstinenz. Es geht aber vor allem um das Aufbrechen der vierten Wand, die größere Nähe zu Musik und Akteuren und damit auch zur andauernden Brisanz der Geschichte des von allen Seiten geschundenen Wozzeck (Filippo Bettoschi), der sich am Ende nicht anders zu helfen weiß, als seine Marie (Margrethe Fredheim) umzubringen.

Das macht er in der unmittelbar von unserer Gegenwart aus erfolgenden Neubefragung in Kassel zwar nur in Gedanken, das heißt für uns im Video. In der Realität (des Stückes) bleibt er gleichwohl in seinem tristen Verpacker-Job gefangen. Also im Griff der Firma, die den Superdrink Biofuel herstellt. Den bringt sie mit einer Werbekampagne mit dem Gesicht und sexy Körper des Tambourmajors (Frederick Ballentine) sowie mit einer Art Parlaments-Event unter die Leute. In dieser Rahmenhandlung führt der Hauptmann (Arnold Bezuyen) in Unterbrechungen der Musik die Zuschauer durch ein fiktives Gesetzgebungsverfahren, bei dem das Publikum über Gesetze zu Gesundheit, Kontakten und Sicherheit abstimmen kann. Der Effekt dieses Brückenschlages von den Themen Bergs und Büchners beim Blick in den Abgrund Mensch zum beklemmenden Blick in unsere von einem vorsorglichen Staat (respektive Konzern) durchregulierte Zukunft ist frappierend.

So ähnlich wie das außergewöhnliche Klangerlebnis für die Zuschauer, die in den Raumbühnenplätzen über dem fabelhaft unter seinem GMD Francesco Angelico aufspielenden Orchester platziert sind. Den Überblick zwischen dem Versandlager auf der einen, der Praxis des Doktors auf der anderen Seitenbühne, Maries Behausung im Hintergrund und dem Wirtshaus auf der Vorderbühne wird durch live produzierte und auf Großbildschirme übertragene Bilder gewährleistet. Wie im wahren Leben gibt’s einen Teil der Wahrheit immer nur aus zweiter Hand – packend radikales Gegenwartstheater in Kassel bis auf Weiteres aber aus erster.

Dr. Joachim Lange

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Manege frei!

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Alban Bergs „Lulu“ umweht die besondere Aura des Unvollendeten. Nach Friedrich Cerhas Komplettierung des dritten Aktes 1979 ist die Entscheidung für die zweiaktige Fassung ein Statement. Deren Gesamtbearbeitung für Soli und Kammerorchester durch Eberhard Kloke kommt obendrein den pandemiebedingten Restriktionen entgegen. In der Regie von Axel Vornam und unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Elias Grandy war diese Fassung jetzt als einmalige Streaming-Premiere zu erleben und wurde als digitale Preview für die noch nicht zu terminierende analoge Premiere deklariert.

Für den Bildschirm wechselt die Kameraführung in angemessener Frequenz zwischen der Totale des Einheitsbühnenbildes und den Naheinstellungen der Protagonisten. Das Manegen-artige Halbrund von Tom Muschs Bühne mit vier Drehtürelementen erweist sich als praktisch und im Handumdrehen wandelbar für alle Schauplätze, angereichert mit einem roten Riesensofa und Ausschnitten aus dem Porträt Lulus. Manchmal schaut einer der Protagonisten von oben über den Rand auf die Szene. Ganz so, als würde er in einem Terrarium Laborratten beobachten. Die fantasievoll ausschweifenden und bei passender Gelegenheit jede Menge nackte Haut zeigenden Kostüme von Cornelia Kraske verfremden Lulu und die Männer (und die Frau) um sie herum tatsächlich ein Stück in Richtung einer leichten Stilisierung.

Insgesamt erzählt Vornam die Geschichte unaufgeregt gradlinig. Das ermöglicht insbesondere der betörend lyrischen Jenifer Lary, alle Facetten einer schillernden Lulu auszuspielen. Sie ist kapriziös, offensiv verführerisch, skrupellos und dennoch einsam. Der sonore James Homann ist als Dr. Schön der sozusagen seriöse Fels in den Brandungen ihres bewegten Lebens, während Corby Welch dieser Frau als Alwa nicht mal ansatzweise etwas entgegensetzen könnte. Auf der anderen Seite nützen João Terleira als Maler und Ipča Ramanović als Tierbändiger offensiv zur Schau gestellte virile Attraktivität ebenso wenig, wie Gräfin Geschwitz die hochkonzentrierte Präsenz der Andersartigkeit, mit der Zlata Khershberg sie ausstattet. Lulu scheitert schließlich an sich selbst und an den Erwartungen, die die Männer, die die Welt beherrschen, an eigenen verkorksten Frauenbildern auf sie projizieren.

Am Ende entschwindet dieses (Alb-)Traumbild Frau fast wie unbemerkt. Und ein spannender Opernabend aus einem Guss am Bildschirm macht Lust aufs analoge Original im Theater Heidelberg. 

Roberto Becker

„Lulu“ (1937) // Opernfragment von Alban Berg; zweiaktige Fassung in einer Gesamtbearbeitung von Eberhard Kloke für Soli und Kammerorchester