Hervé Niquet ist ein musikalischer Tausendsassa, der als Cembalist, Organist, Pianist, Sänger, Chorleiter und Dirigent reüssiert hat. 1987 gründete er sein eigenes Orchester Le Concert Spirituel, anfangs vor allem für Barock-Projekte. Inzwischen wirkt es aber auch regelmäßig bei Niquets Erkundungen auch späterer Epochen mit, insbesondere der französischen Oper. Jüngste Ausbeute dieser inspirierenden Kooperation sind die CD-Aufnahmen der Bühnenwerke „Armide 1778“ und „Richard Cœur de Lion“, die beide vor instrumentaler Vitalität und klangfarblicher Fantasie nur so sprühen.

„Armide 1778“ basiert auf Jean-Baptiste Lullys Antikentragödie, die für eine geplante Reprise an der Pariser Oper zeitgemäß bearbeitet werden sollte. Den Auftrag übernahm der Komponist Louis-Joseph Francœur, fügte neue Musiknummern ein und verstärkte die Orchesterbegleitung. Eine Premiere – gedacht als Konkurrenz zu Glucks kurz vorher entstandener Version – kam allerdings nie zustande und „Armide“ schlummerte im Archiv, bis sich Hervé Niquet ihrer annahm und mit einer illustren Besetzung einspielte. Véronique Gens singt die Titelrolle in blendender stimmlicher Verfassung, ihr passionierter Gesang, die Intensität der Gestaltung und die Palette an Ausdrucksnuancen für die wechselnden Affekte machen sie zur idealen Interpretin der zwischen Liebe und Hass schwankenden Zauberin. Mit Bariton Tassis Christoyannis und Tenor Reinoud van Mechelen sind weitere Könner am Werk, die für Stimmqualität und stilistisches Einfühlungsvermögen stehen.

Hervé Niquets zweiter Streich gilt André-Ernest-Modeste Grétrys 1784 in Paris herausgekommener Oper „Richard Cœur de Lion“, die 2019 auf Initiative des Dirigenten im Schlosstheater Versailles erfolgreich wiederaufgeführt wurde. Die stimmige, charmant historisierende und zudem humorvolle Inszenierung von Marshall Pynkowski liegt nun auf DVD vor, ergänzt um eine CD in fast identischer Besetzung. Der knapp neunzigminütige Dreiakter, eine der ersten Rettungsopern, erzählt die fiktive Befreiung des englischen Königs Richard Löwenherz durch den Minnesänger Blondel und verknüpft sie mit heiteren Volksszenen und verklärter Mittelalterromantik. Die Musik Grétrys, in der sich schlichte Romanzen, spritzige Ensembles und höfische Tänze die Hand reichen, funkelt in jedem Moment durch Niquets unbedingte Energie. Dabei kann er auf ein junges Gesangsensemble mit stimmlicher Flexibilität bauen, das zudem herzerfrischend agiert. Besondere Wandlungsfähigkeit beweist Marie Perbost in der Doppelrolle des Burschen Antonio und der Gräfin. Melody Louledjian ist eine reizende Laurette – ihre Arie „Je crains de lui parler la“ kennt man aus Tschaikowskis Oper „Pique Dame“, wo sie von der alten Gräfin zur Erinnerung an alte Zeiten gesungen wird. Der tenorale Wohlklang von Rémy Mathieu als Blondel (auf der CD ist es Enguerrand de Hys) und Reinoud van Mechelen als Richard macht das vokale Glück perfekt. Ob szenisch oder rein akustisch: dieser „Richard Cœur de Lion“ bietet Vergnügen im Doppelpack.

Karin Coper

INFOS ZU DEN PRODUKTIONEN

Jean-Baptiste Lully / Louis-Joseph Francœur: „Armide 1778“
Gens, van Mechelen, Christoyannis, Jeffery, Watson, Martin, Wilder
Le Concert Spirituel – Hervé Niquet
2 CDs, Alpha Classics


André-Ernest-Modeste Grétry: „Richard Cœur de Lion“ (1784)
Hervé Niquet (Dirigat), Marshall Pynkowski (Inszenierung)
Le Concert Spirituel
1 DVD und 1 CD, Chateau de Versailles