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Bayreuth

Grüner Hügel ohne roten Teppich

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

von Roberto Becker

Nach einem Jahr Zwangspause ist vieles anders in ­Bayreuth: Katharina Wagner brauchte nach den ausgefallenen Festspielen des Vorjahres und wegen der pandemiebedingten Einschränkungen sicherlich jede Menge Nerven und Gelassenheit. Immerhin darf der Zuschauerraum in diesem Jahr im Schachbrettmuster zur Hälfte bevölkert werden. Genau 911 statt knapp zweitausend Besucher können das Haus mit dem „mystischen Abgrund“ besuchen.

Unzählige Tests, die Auslagerung in Zelte von allem, was nicht unbedingt im Opernhaus selbst sein muss, und eine ungewöhnliche Lösung für den Chor (eine Hälfte singt im Probensaal, die andere spielt lautlos auf Bühne) ermöglichen ein Corona-konformes Hygienekonzept. Das auf bayerische Strenge getrimmte Einlasspersonal sorgt für Sicherheit: Ohne buntes Gesundheitsbändchen und Maske kommt niemand durch. So gibt es zur Eröffnung zwar diesmal keinen roten Teppich für den Aufmarsch der Prominenten, dafür aber ein Polizeiaufgebot, das nicht nur böse Buben, sondern wohl auch gleich noch jedes einzelne Virus abschrecken soll. Dieser inszenierte Ausnahmezustand legt sich dann aber wieder.
Damit nicht genug: Günther Groissböcks Rücktritt als Wotan nach der Generalprobe (!) für die aktuelle „Walküre“ und gleich darauf auch für den kompletten neuen „Ring“ im kommenden Jahr muss in Windeseile mit Einspringer Tomasz Konieczny aus der Welt geschafft werden.

Das Publikum erlebt mit Barrie Koskys und Philippe ­Jordans „Meistersingern“ sowie Tobias Kratzers und (jetzt) Axel Kobers „Tannhäuser“ zwei bewährte Regiewürfe letztmalig beziehungsweise als erste Wiederaufnahme, die obendrein exzellent besetzt sind. Festspiel-Liebling Klaus Florian Vogt und Lise Davidsen, das Stimmwunder aus dem Norden, sind als Stolzing und ­Elisabeth nicht nur in verschiedenen Inszenierungen mit dabei, sondern stehen in der konzertanten ­„Walküre“ als überzeugendes Geschwisterpaar ­Siegmund und Sieglinde auch gemeinsam auf der Bühne.

Rausch der Farben und Drachentöten für alle

Dieser populäre „Ring“-Teil ist das Zentrum jenes besonderen Projektes der Reihe „Diskurs Bayreuth“, das unter dem Titel „Ring 20.21“ gleichsam als Platzhalter für den um zwei Jahre auf 2022 verschobenen neuen „Ring“ fungiert. Für den dafür vorgesehenen Dirigenten Pietari Inkinen ist diese „Walküre“ ein Testlauf. Man kann nur hoffen, dass er die Erfahrung nutzt, um seine Interpretation vor allem hinsichtlich innerer Spannung, Dichte und Tempo nachzubessern. So kann dann auch aus dem „Walkürenritt“ noch das mitreißende Stück Brachialmusik werden, auf das man wartet.

Es passt in die offene Dramaturgie des „Diskurs Bayreuth“, dass Katharina Wagner der musikalischen Seite eine besondere Dimension hinzufügt und dem Wiener Aktionisten-Altmeister Hermann Nitsch die Bühne für seine Farbvisionen zu Wagners Musik überlässt. Dreimal transferieren zehn Helfer, „dirigiert“ von Nitsch, die weißen Leinwände im Hintergrund und auf dem Boden zu farbiger Opulenz. Bunt jedenfalls ist es jedes Mal. Am Ende natürlich blut- beziehungsweise feuerrot. Für den Zusammenhang mit der Musik findet wohl jeder Zuschauer sein eigenes Maß.

Eine weitere Reminiszenz der bildenden Kunst ist ­Chiharu Shiotas Installation „The Thread of Fate“, die mit ihren verschlungenen Schicksalsfäden die „Götterdämmerung“ vertritt. Rotes Garn verbindet sechs gigantische Ringe als Symbol für Wagners großes Werk. Wer will, kann in den Pausen der Aufforderung des US-amerikanischen Video- und Performancekünstlers Jay Scheib „Sei Siegfried“ folgen – und an einem Stehpult mit 3D-Brille im Festspielhaus mit einem fiktiven Schwert in der Hand einen Drachen wie aus dem Märchenbuch erlegen.

Der Abschluss des Ersatz-„Rings“ zeigt, was nach der „Götterdämmerung“ bleibt: Die Uraufführung der einstündigen Auftragsoper „Immer noch Loge“ von ­Gordon Kampe findet vormittags am und im Teich des Festspielhausparks statt. Loge wird nach dem großen Weltenbrand, den die drei Rheintöchter und ebenjener Feuergott überlebt haben, von Urmutter Erda der Prozess gemacht (Libretto: Paulus Hochgatterer). Dass er am Ende mittels Sprengstoffgürtel in Flammen aufgehen soll, ist für einen Feuergott oder -teufel schon eine aparte Pointe. Daniela Köhler, Stephanie Houtzeel und Günter Haumer haben allerhand Text zu bewältigen – manchmal gibt es für eingeweihte Hörer hübsche Aha-Effekte. Puppenvirtuose Nikolaus Habjan führt Regie und setzt seine gewaltige Klappmaul-Erda in einen Rollstuhl. Die Puppen-Alter-Egos der Rheintöchter und bald auch Daniela Köhler stecken bis zum Hals in der Teichbrühe. Das alles hat Atmosphäre und passt hierher. Die Musik zwischen begleitendem Parlando und großer Geste ist weit genug von Wagner entfernt, um nicht in platte Vergleichsnähe zu geraten. Immer mal wieder aufblitzende Zitate machen richtig Spaß.

Starke Frauen und ein Kleinstadtkrimi

Eröffnet werden die Festspiele aber mit der Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“, bei der vor allem Askmik Grigorian mit ihrem Senta-Debüt überwältigt. Oksana Lyniv, die erste Frau am Bayreuther Pult, erhält einhelligen Beifall für ihren Umgang mit der Hausakustik gerade bei Wagners Frühwerk und die Überwindung pandemiebedingter Zusatzhürden: Ein stummer Chor steht auf der Bühne, der Chorgesang selbst erschallt aus Glaskästen im Probensaal.

Euphorisches Debüt: Asmik Grigorian als Senta (Foto Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath)

Bei Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov ist das Echo geteilt: In karger Kleinstadtkulisse erzählt er eine parallel verlaufende Geschichte, die dann doch nicht ganz zur Vorlage passen will. Dass der ­Holländer als Kind miterleben muss, wie seine Mutter nach einem Fehltritt (womöglich mit Daland) in den Selbstmord getrieben wird, und er nun zurückkommt, um sich zu rächen, liest sich schlüssiger, als es beim Publikum ankommt. Glaubt man dem Holländer doch, dass er bei einem gemeinsamen Abendessen an der gedeckten Tafel in Dalands und Frau Marys Wintergarten ernsthaft um Senta wirbt. Warum er am Ende wahllos in die Menge schießt, ist mit seinem Kindheitstrauma jedenfalls nicht restlos zu erklären. Und dass Frau Mary den Holländer erschießt, auch nicht.

Senta hingegen will mit jeder Faser ihres Körpers vor allem weg, ist mit jeder Geste die pure Revolte – und Grigorian dafür eine Idealbesetzung. Der Vater (Georg Zeppenfeld ist als Daland ein vokaler Fels in der Brandung) will diese Göre unter die Haube bringen. Marina Prudenskaya wertet die Figur der Frau Mary vokal und darstellerisch auf. John Lundgren scheint mit seinem Holländer jenseits des Dämonischen noch etwas zu fremdeln, liefert aber ein vokal eindrucksvolles Rollenporträt.

Fazit: Bayreuther Festspiele der besonderen Art. ­Katharina Wagner bewährt sich dabei als umsichtige und kreative Hügelchefin. Gesichert ist trotz des zweiten Corona-Sommers das längst wieder übliche musikalische Festspielniveau. Mit bewährten Künstlern – Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld, Axel ­Kober, ­Philippe Jordan und natürlich Christian Thielemann, auch wenn der „nur“ mit dem konzertanten „Parsifal“ glänzt. Mit einigen, die zum wiederholten Male Furore machen – wie Lise Davidsen, Michael Volle oder Tobias Kratzer. Aber auch mit anderen, die mit vielversprechenden Debüts aufwarten wie Asmik Gregorian und Oksana Lyniv. Mit angepasster Programmgestaltung samt Einbeziehung bildender Künstler und der Nutzung des „Diskus Bayreuth“ holen die Festspiele für die Zuschauer heraus, was in diesem Pandemie-Sommer herauszuholen ist.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

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Neuer Stern am Barockhimmel

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2020)
Fulminanter Einstand mit Porpora-Rarität „Carlo il Calvo“

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2020)
Fulminanter Einstand mit Porpora-Rarität „Carlo il Calvo“

Eine fünfstündige Barockoper in Corona-Zeiten: Der Countertenor und Regisseur Max Emanuel Cencic hat auf seinem ersten neuen „Baroque“-Festival in Bayreuth ein Wunder vollbracht. Seine Entschlossenheit, Nicola Antonio Porporas unbekannte Oper „Carlo il Calvo“ ohne Kürzungen, Abstandsregeln und szenische Einschränkungen als Herzstück im prächtigen Markgräflichen Opernhaus zu präsentieren, damit das Publikum einmal fünf Stunden lang die Pandemie vergessen kann, zahlte sich aus. Und das noch dazu im restriktiven Söder-Bayern.

So einen langen Opernabend mit üppiger Ausstattung hat man seit dem Lockdown nicht mehr erlebt. Porpora – um zumindest ein paar Worte über den Komponisten zu verlieren – muss mindestens ebenso produktiv gewesen sein wie Händel, mit dem er 1733 um das Londoner Opernpublikum rivalisierte. Jedenfalls soll er an die 60 Opern geschrieben haben! „Carlo il Calvo“ handelt von einem verfeindeten Familienclan. Das Stück spielt zur Zeit der Karolinger und setzt nach dem Tod des Kaisers Ludwig dem Frommen ein. Aber der Konflikt, ein Erbstreit, der allerhand Grausamkeiten nach sich zieht, mutet so zeitlos aktuell an, dass das kaum wichtig ist. Der Transfer ins Kuba der 1920er Jahre gelingt jedenfalls allemal überzeugend. Im Zentrum steht Lottario, das korrupte Familienoberhaupt, fulminant von Cencic mit Weißhaarperücke als fieser Alter gemeistert. Er entführt seinen Halbbruder, den Titelhelden, und ist sogar bereit, den sechsjährigen Jungen – dem im Stück nur eine stumme Rolle zukommt – brutal ermorden zu lassen, damit sein Sohn Adalgiso (Virtuose mit ungewöhnlich langem Atem: Franco Fagioli) an die Macht kommt. Am Ende geht aber alles gut aus, weil Adalgiso, der Carlos Schwester Gildippe (mit lyrischer Schönheit in einer ihrer besten Rollen: Julia Lezhneva) liebt, sich gegen den Vater stellt und den in dieser Produktion nicht kahlen, dafür aber behinderten, kindergelähmten Carlo rettet.  

Die von Porpora an die Sängerinnen und Sänger gestellten Ansprüche sind immens: Seine Melodien und Arien schrauben sich nahezu ins Endlose fort, erfordern mithin große Ausdauer und langen Atem. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass Cencic seinem rundum vorzüglichen Ensemble, zu dem neben den Genannten auch Suzanne Jerosme als Carlos Mutter Giuditta zählt, im Szenischen nicht zu viel abverlangt. Dass die Produktion gleichwohl mitnichten statisch wirkt, verdankt sich einem raffinierten Kunstgriff: 18 Statisten als zusätzliche, weitverzweigte Mitglieder des Familienclans illustrieren das Geschehen auf der opulent, mit mehreren Räumen und herrlichen Blickfängen von Pflanzen und Ölgemälden ausgestatteten Hacienda (Bühne: Giorgina Germanou) mit Aktionen im Hintergrund. Darunter eine Oma im Rollstuhl, die sich über das Verscheiden der Bosse schieflacht. Und so wie bisweilen nicht nur in solchen Momenten schwarzer Humor mitschwingt, wird der Abend nie lang. Das griechische Barockorchester Armonia Atenea erwies sich bei alledem einmal mehr als eines der besten für solche Produktionen. Vom Cembalo aus musizierte George Petrou mit ihm schwungvoll, klanglich differenziert und elegant. 

Kirsten Liese

„Carlo il Calvo“ (1738) // Nicola Antonio Porpora