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Bogdan Roščić

Vokale Schwerelosigkeit

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Spätestens bei der Kavatine des Faust „Salut! demeure chaste et pure“ wird klar, dass man Zeuge eines großen Belcanto-Opernabends ist – trotz fehlenden Publikums, andauernder Corona-Pandemie und einer teilweise provokanten Inszenierung durch Frank Castorf. Der neue Direktor Bogdan Roščić punktet schon allein durch seine exzellenten Besetzungen. Diesmal ist es der peruanische Tenor Juan Diego Flórez, der seinen ersten Bühnen-Faust gestaltet. In der Gounod-Oper (Uraufführung 1859) kann er beweisen, dass sein Singen an Dramatik zugenommen hat, er aber auch weiterhin über jene vokale Schwerelosigkeit verfügt, die seinen Faust an Nicolai Gedda oder Giuseppe di Stefano erinnern lässt. Die große Liebes-Szene ist ebenso wie das Final-Terzett von höchster Qualität – fabelhaft! Ein Glücksfall ist aber auch die Marguerite der australischen Sopranistin Nicole Car. Sie gehört seit ihrem Herbst-Einspringen als Tatjana in „Eugen Onegin“ zu den neuen Publikumslieblingen Wiens. Sie verfügt über eine dunkle Mittellage, hat keine Schwierigkeiten mit den Koloraturen der Juwelen-Arie und wird im Finale fast „hochdramatisch“. Dazu kommt ein Hochtalent aus Polen: Adam Palka, ein junger Méphistopélès mit rollenden Augen, einer „öligen“ Bass-Stimme und ausgeprägtem Spieltrieb. Exzellent auch der höhensichere Valentin des Franzosen Étienne Dupuis – und ebenfalls auf der Haben-Seite der Siébel von Kate Lindsey, die Marthe von Monika Bohinic und der Wagner von Martin Häßler. Am Pult steht der Wahl-Österreicher (RSO-Ära) Bertrand de Billy. Das Orchester der Wiener Staatsoper wie auch der Chor (Leitung Thomas Lang) wollen offenbar beweisen, dass man sich nicht durch den Lockdown in die Knie zwingen lässt.

Bleibt noch die Regie von „Altmeister“ Frank Castorf (Bühnenbild Aleksandar Denić). An ihr werden sich wohl wieder die Geister scheiden. Sie bietet zu viel gleichzeitig – Drehbühne, Live-TV-Elemente, Videozuspielungen (aktuelle Straßenszenen aus der U-Bahn) – und setzt eine mehrstündige Beschäftigung voraus. Wie soll man die vielen afrikanischen Kostüme (Adriana Braga Peretzki) einordnen, wenn man nicht aus dem Munde von Castorf hört, dass für ihn das Entstehungs-Jahr 1859 ein Synonym für den beginnenden Mega-Kolonialismus der Franzosen in Afrika ist? Den Rezensenten hat die Inszenierung dennoch voll überzeugt, nicht zuletzt, weil die musikalischen „Ohrwürmer“ zu dem Übermaß an Aktivismus positiv ausgeklammert bleiben. Und das musikalische Niveau ist tatsächlich außerordentlich. Opernfreunde werden sich daran gewöhnen müssen, zu überprüfen, ob es eine Erweiterung des Repertoires am Haus gibt. Elīna Garanča als neue Kundry und Juan Diego Flórez als idealer Faust innerhalb von 14 Tagen: Es kann so bleiben!

Peter Dusek

„Faust“ (1859) // Oper von Charles Gounod

Neue Ära mit Mut zum Risiko

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Mut und fehlende Risikobereitschaft kann man dem neuen Direktor Bogdan Roščić nicht absprechen, wenn er gleich mit der ersten von zehn Saison-Premieren das Haus vor Corona-bedingt 1200 Besuchern und damit einer etwa 50-prozentigen Auslastungsquote (wieder-)eröffnet und Puccinis „Tragedia giapponese“ ansetzt. Alles steht und fällt mit einer Sopranistin, die stimmlich und darstellerisch die Entwicklung von der 15-jährigen japanischen Geisha zur liebenden und wartenden Ehefrau durchmacht und zuletzt nicht nur stirbt, sondern sich auch noch entehrt fühlend durch Jigai, dem weiblichen, japanischen Selbstmord-Ritual, selbst richtet.

Asmik Grigorian gibt ihr Hausdebüt und begeistert nach einer fantastischen Salome bei den Salzburger Festspielen 2019 auch diesmal auf allen Ebenen. Ihre Cio-Cio-San gibt sich anfangs noch reserviert, stimmlich zurückhaltend und zeitweise recht herb klingend. Während dem Liebesduett lassen die Spitzentöne aber jugendlichen Klang und den Wunsch, geliebt zu werden, aufblühen. Im zweiten Akt gelingt der phänomenalen Singschauspielerin dann ein emotionales Gesamtkunstwerk, wo alle Gefühlsausbrüche mit zarten Pianissimi-Bögen ebenso zutiefst berühren können wie die dramatischen Passagen. Sie erzeugt Gänsehaut-Gefühl, als sie dem berührten Konsul über ihr Kind mitteilt, dass sie, die verlassene Mutter, wieder tanzend ihr Geld verdienen soll.

Als unsensiblen B.F. Pinkerton erleben wir den britisch-italienischen Tenor Freddie De Tommaso, ebenfalls ein Hausdebütant. Höhensicher, durchsetzungskräftig und mit müheloser Phrasierungskunst erregt ihn das puppenhafte Spiel der Braut vor der Hochzeit und er freut sich, diese schöne Blume gepflückt zu haben. Darstellerisch kann das neue Ensemblemitglied aber kaum Akzente setzen. Einen mitfühlenden, mahnenden Sharpless stellt Boris Pinkhasovich mit warmem Klang und voluminösem Bariton dar. Die junge Virginie Verrez besticht mit klangvoller Tiefe und bringt beim Blumenduett stimmlich den Frühling auf die Bühne. Patricia Nolz ist eine hübsche Kate Pinkerton, als Heiratsvermittler Goro könnte Andrea Giovannini noch etwas stimmkräftiger singen, Stefan Astakhov wirbt als Fürst Yamadori umsonst mit schönem Tenor und Evgeny Solodovnikov donnert als Onkel Bonze.  

Der neue Generalmusikdirektor Philippe Jordan atmet mit den Solisten förmlich vom Pult aus mit und leitet sowohl kraftvoll und spannungsgeladen als auch zart und mit Wohlklang in den intimen Momenten. Der feinfühlige Summchor ist perfekt mit dem flexiblen Orchester abgestimmt und wenn man erstmals seit der Zwangspause im März die Wiener Philharmoniker hören darf, kommen manchem ohnehin die Tränen.  

Die Inszenierung aus dem Jahr 2008 stammt vom verstorbenen Filmregisseur Anthony Minghella („The English Patient“). Seine Witwe Carolyn Choa (Regie) setzt auf eine kahle Bühne mit Spiegelflächen an Decke und Boden, wo sich die farbenfrohen Kostüme opulent in Szene setzen können. Besonders berührend ist der dreijährige Bub, der als Puppe dargestellt und zuletzt der Mutter entrissen wird. Wer den einhelligen Erfolg versäumt hat, darf sich im Januar auf eine weitere Vorstellungsserie mit fast gleichem Ensemble freuen. 

Susanne Lukas

„Madama Butterfly“ (1904) // Giacomo Puccini