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Präcoronale Herzstücke

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ & Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ & Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“

„Vielleicht können sie nur gelingen, wenn man alle seine Poren öffnet, osmotisch, wenn man alle Stimmungen, Farben und Gerüche so weit inhaliert, dass sie im richtigen Augenblick ganz selbstverständlich wieder aus einem herausströmen“, sagt Christian Thielemann über Wagners „Meistersinger“ im Booklet. Und diesen Anspruch löst er in seiner Salzburger Osterfestspiel-Produktion auch ein: Majestätisch erstrahlt das lichte Vorspiel ohne falsches Pathos, komplexe, dramatische Szenen wie die „Prügelfuge“ bleiben trotz dynamischer Zuspitzung transparent im Stimmengeflecht, lyrische Szenen wie Stolzings Preislied, Sachs’ Fliedermonolog oder das Quintett bestimmen eine zärtliche Poesie ohne Anflüge ins Sentimentale. Und auch vor komischen Momenten hat diese Einstudierung keine Scheu.

„Die Meistersinger von Nürnberg“ zählt zu Thielemanns ganz besonderen Herzensstücken, was auch der Video-Mitschnitt einer Vorstellung von 2008 aus der Wiener Staatsoper dokumentiert, der eine der schönsten Inszenierungen dieses Stücks von Otto Schenk konserviert. Elf Jahre später konnte er nun – mittlerweile wie sein einstiger Förderer Karajan auch als Entdecker von Stimmen unterwegs – die Partien idealer besetzen, wovon der CD-Mitschnitt der Sächsischen Staatskapelle und des Staatsopernchors Dresden Zeugnis gibt: Mit exquisiter Textverständlichkeit, Ausdrucksintensität und profunder Stimmführung empfiehlt sich allen voran Georg Zeppenfeld als einer der momentan besten Interpreten des Hans Sachs, wobei sein Schuster weniger alt daherkommt als die meisten berühmten Kollegen vor 30 Jahren. Klaus Florian Vogt steht als Ritter Stolzing mit lichten Höhen im Zenit seiner lyrischen Sangeskunst. Als David gefällt der in allen Registern geschmeidig und agil tönende Sebastian Kohlhepp. Eine Klasse für sich in der kleineren Partie des Veit Pogner ist der kernige Bass Vitalij Kowaljow. Jacqueline Wagner singt die Eva mädchenhafter und anmutiger als Ricarda Merbeth in der Wiener Aufnahme, Adrian Eröd verleiht der düpierten Figur des Sixtus Beckmesser bewegende und elegante Tiefenschärfe. Aufführungsgeschichte dürfte diese Produktion vor allem aber auch dank der fulminanten Orchesterleistung schreiben: Jede Phrase, jedes Solo wird sensitiv erkundet und filigran ausziseliert, eine nach Fliederduft schimmernde Pianokultur bewirkt eine zutiefst anrührende Innigkeit im Lyrischen. Aber auch der überwältigende „Wach auf“-Chor, dessen Beginn mit der Fermate Thielemann wie ein Ausrufezeichen monumental ausstellt, kann in der Aufnahme in seiner starken energetischen Wirkung nachempfunden werden.

Wann die Aufführung einer so groß besetzten Oper in Pandemie-Zeiten wieder möglich sein wird, steht noch in den Sternen. Dasselbe gilt für Schönbergs „Gurre-Lieder“, die Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle in Dresden gerade noch rechtzeitig im März 2020 vor dem ersten Lockdown in Dresden aufführen konnte. Beide Aufzeichnungen erweisen sich von daher als ein großer Glücksfall und unverzichtbar für Thielemann-Fans. Stilistische Anklänge an Wagners „Tristan“ und Debussys „Pélleas et Mélisande“ ziehen sich durch dieses Drama um den König Waldemar und seine von der eifersüchtigen Königin ermordete geliebte Tove. Insbesondere im ersten Teil, dem Zwiegesang zwischen den Liebenden, schwankt die Musik zwischen geheimnisvollem Knistern und leidenschaftlicher Ekstase, weshalb man die Aufnahme am besten mit Kopfhörern abspielen sollte. In der sehr fordernden, hoch anspruchsvollen, strapazierenden Partie des Königs gelingt allen voran Stephen Gould eine Glanzleistung, wie sie wohl kaum ein anderer Heldentenor im Alter von 58 Jahren zu meistern in der Lage wäre.

Kirsten Liese

INFOS ZU DEN CDs

Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868)
Zeppenfeld, Vogt, Wagner u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
4 CDs, Profil


Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder“ (1913)
Gould, Nylund, Mayer u.a.
Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden – Christian Thielemann
2 CDs, Profil

Vokale Hommage

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“

Die Mezzosopranistin Margarita Gritskova und die Pianistin Maria Prinz haben ihre Affinität zum russischen Lied bereits in zwei Recitals bewiesen. Nach einem gemischten Programm und Vokalmusik von Sergey Prokofjiev setzt sich das Duo im dritten Album mit Dmitry Shostakovich auseinander. Eingespielt wurden zwanzig Sologesänge aus mehreren Zyklen, in denen er schwierige persönliche Lebensumstände und die repressiven politischen Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion verarbeitete. Am Anfang der weitgehend chronologisch angeordneten Auswahl steht die Fabelvertonung „Libelle und Ameise“ des Sechzehnjährigen, am Ende das Finalstück der autobiographisch geprägten Michelangelo-Suite, die der Komponist erst kurz vor seinem Tod schrieb. Die Doppelbödigkeit, die dem Kosmos aus expressiven Romanzen, folkloristischen Weisen und grellen Satiren innewohnt, erschließt Margarita Gritskova mit ihrem ebenmäßigen, geschmeidigen Mezzo durch eine Palette an Zwischentönen und Variabilität im Ausdruck. So charakterisiert sie zum Beispiel die unterschiedlichen Erzählebenen der „Undine-Ballade“ durch jeweils andere Stimmfärbung. Am Klavier korrespondiert Maria Prinz mit der Sängerin auf kongeniale Weise. Im musikalischen Dialog schafft sie Atmosphäre, setzt eigene pianistische Akzente und hebt illustrative Elemente hervor. Das Booklet mit Einführungen zu jedem Stück samt abgedruckter Texte in drei Sprachen – die deutsche Übersetzung ist von Maria Prinz selbst – rundet die hörenswerte Shostakovich-Hommage ab.  

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Dmitry Shostakovich: „Songs and Romances“
Margarita Gritskova und Maria Prinz
1 CD, Naxos

Oper im Fieberwahn

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

Camille Saint-Saëns hat ein enormes Œuvre hinterlassen, doch populär sind nur wenige Stücke, wie die Suite „Karneval der Tiere“ und die Dalila-Arie aus „Samson et Dalila“. Um das Interesse am Schaffen des Komponisten anzukurbeln, richtet das Forschungsteam vom Palazetto Bru Zane anlässlich seines 100. Todestags im Dezember 2021 in den kommenden Monaten einen vielseitigen Zyklus aus. Auftakt ist die Einspielung des ersten großen Bühnenwerks „Le Timbre d’argent“, die 2017 nach Vorstellungen in Paris entstand. Die Oper thematisiert Fieberfantasien des Malers Konrad, die sich um einen Pakt mit dem Teufel, eine Geld- und Tod-bringende Silberglocke sowie die Obsession zu einer Tänzerin ranken. Das musikalisch und szenisch effektvolle Künstlerdrama weist Parallelen zu Offenbachs „Hoffmann“ auf, einiges erinnert auch an die „Faust“-Vertonungen von Berlioz und Gounod. „Le Timbre d’argent“ hatte 1877 Premiere, die weiteren Aufführungen bis zur letzten Fassung 1914 waren durch widrige Bedingungen und etliche Umarbeitungen geprägt, so dass Saint-Saëns resümierte: „Es ist keine Oper, es ist ein Alptraum.“ Nicht so das Revival, das der Dirigent François-Xavier Roth mit seinem Orchester Les Siècles, dem Chor accentus und einem vorzüglichen Gesangsquintett zu einem lustvollen Musikfest werden lässt. Eröffnet wird der kurzweilige Mix aus romantischem Gesang, Operettenesprit, Chören und Balletteinlagen von einer ausgedehnten Ouvertüre. Die beiden Tenöre, der jugendlich-heldische Edgaras Montvidas und der lyrisch-geschmeidige Yu Shao, harmonieren perfekt miteinander, ebenso die Sopranpartien, die innige Hélène Guilmette und die bezaubernd klare Jodie Devos. Als Teufel zieht Tassis Christoyannis alle stimmlichen Register, seine Gestaltung des Bösen ist elegant und ungemein subtil.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Camille Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“ (1877)
Guilmette, Devos, Montvidas, Shao, Christoyannis
Les Siècles, accentus – François-Xavier Roth
2 CDs, Bru Zane

Eine Aufnahme zum Schwärmen!

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“

Der Einakter „Der unsterbliche Kashchei“, den Nikolai Rimski-Korsakov 1902 komponierte, basiert wie viele seiner Bühnenwerke auf einem Volksmärchen. Er handelt von der Befreiung einer Prinzessin aus den Fängen des titelgebenden Zauberers samt männermordender Tochter und deren anschießendem Untergang. Musikalisch kontrastiert die nur 70 Minuten dauernde Oper zwischen Fabel- und realer Welt. Die erste charakterisiert Rimski-Korsakov durch düstere Farben und kühne Harmonien, die zweite durch kantablere Melodien und traditionelle Formen. Die früheste Gesamtaufnahme, die 1949 eingespielt und vom Label Melodiya gerade in bester Klangqualität wiederaufgelegt wurde, ist ein elektrisierendes Dokument sowjetischer Opernkunst. Der damalige Bolschoi-Chef Samuil Samosud dirigiert wie entfesselt – beispielhaft etwa in dem illustrativen Schneesturm-Zwischenspiel. Stimmpracht und Charisma zeichnet das Gesangsensemble aus. Auf der Besetzungsliste befindet sich der alle Ausdrucksvarianten ausreizende Charaktertenor Pavel Pontryagin als Magier, der russische Ausnahmebariton Pavel Lisitsian als Prinz und der tief orgelnde Bass Konstantin Polyaev als Sturm. Zu rühmen sind desgleichen Natalia Rozhdestvenskaya, die Mutter des Weltklasse-Dirigenten Gennady, die der Prinzessin einen beseelten Sopran mit Höhenglanz schenkt, und Lyudmila Legostayeva, die den Furor der Kashchei-Tochter mit voluminösem, farbreichem Mezzo vorantreibt.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Nikolai Rimski-Korsakov: „Der unsterbliche Kashchei“ (1902)
Pontryagin, Rozhdestvenskaya, Lisitsian u.a.
Symphony Orchestra and Choir of All-Union National Radio Service – Samuil Samosud
1 CD, Melodiya

Ein neuer Repertoire-Klassiker

Thomas Pigor u.a.: „Drei Männer im Schnee“

Thomas Pigor u.a.: „Drei Männer im Schnee“

Vor über zwei Jahren gab Gärtnerplatz-Intendant Josef E. Köpplinger dem Genre-erfahrenen Thomas Pigor den Auftrag zu einer Revue-Operette im Stil der 1920-30er Jahre. Die Wahl fiel auf ein durch zahlreiche Hörspiele und Verfilmungen populäres Werk von Erich Kästner. Endlich – denn Kästners Texte sind „Musik-affin“: Chansons mit seinen Gedichten zeugen davon, auch viele luftig leichte und kess-freche Passagen in den Romanen „schreien“ nach Vertonung. Kästners 1934 in Zürich – als Beispiel für die umstrittene „Innere Emigration“ – erschienener Roman „Drei Männer im Schnee“ mit seinen gesellschaftlichen Verkleidungen und Verwechslungen von „Oben“ und „Unten“ funkelt vor Situations- und Wortwitz samt kleinen politischen Seitenhieben. Thomas Pigors oft pointierte, auf CD leider verknappte Dialoge verbinden insgesamt 26 Musiknummern, für die Pigor selbst sowie sein langjähriger Kabarett-Partner Benedikt Eichhorn, Christoph Israel und Konrad Koselleck Texte und schmissig eingängige Musik geschrieben haben. Weills Song-Stil, Walzer, Schlager, Tango, grässlich ironische Jodl- und Zither-Einlagen, Foxtrott und Charleston – all das serviert Dirigent Andreas Kowalewitz mit dem um eine Jazz-Band erweiterten Gärtnerplatzorchester: im Mitschnitt anfangs etwas trocken, dann vibrierend und animierend. Der quirlige Galopp „Drei Männer im Schnee“, die Ensemble-Nummer über den Berg „Fragen wir doch einfach mal den Wolkenstein“, schließlich das nach vielen Kratzbürstereien doch mögliche Liebesduett „Komm unter die Laterne, süße, kleine Subalterne“ zwischen Habenichts Hagedorn und Industriellen-Tochter Hilde. Diese Nummern haben Hit-Qualitäten.

Regisseur-Intendant Josef E. Köpplinger beherrscht das temporeiche Spiel und fordert seine auch hörbar typgerechten Solisten in Mini-Dialogen entsprechend. Alle überragt Erwin Windeggers Tycoon Tobler, der durch alle Schikanen der Hotelleitung hindurch als verkleideter „armer Schlucker“ hübsch entlarvende Alltagserfahrungen macht und in Hagedorn einen Freund findet.

Doch speziell die von Adam Cooper stupend choreographierte Stepp-Nummer „Skifahr’n im Schnee“ auf Holzskiern (!) macht klar: Kästners „Ausflucht-Roman“ trifft als Musiktheater stilistisch die pulsierend witzige Revue-Operette jener kulturell überbordenden Weimarer Jahre und verdient in Köpplingers temporeich pfiffiger Inszenierung eigentlich eine DVD-Aufzeichnung. Jetzt ist nur zu hören, dass das Staatstheater am Gärtnerplatz dabei ist, einen neuen Repertoire-Klassiker zu etablieren.   

Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUR CD

Thomas Pigor u.a.: „Drei Männer im Schnee“ (2019)
Revueoperette nach Erich Kästner
Ensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz – Andreas Kowalewitz
1 CD, con anima

Hörenswerte Frühwerk-Neuentdeckung mit Elsa Dreisig

Jules Massenet: „Don César de Bazan“

Jules Massenet: „Don César de Bazan“

Jules Massenets erste abendfüllende Oper „Don César de Bazan“ beruht auf dem gleichnamigen Lustspiel des französischen Dramatikers Dumanoir. Im Zentrum des Geschehens: Straßensängerin Maritana, die dem König von Spanien den Kopf verdreht. Um seine Mätresse zu werden, soll sie standesgemäß mit dem Edelmann Don César verheiratet werden. Klar, dass beide sich verlieben und die höfischen Intrigen überwinden.  

Das Stück war die Basis für zwei musikalische Publikumsrenner des 19. Jahrhunderts: die Oper „Maritana“ von William Vincent Wallace und Rudolf Dellingers Operette „Don Cesar“ mit fast 1.500 Aufführungen. Solch großer Erfolg war Massenets 1872 entstandener Vertonung leider nicht beschieden. Es gab lediglich dreizehn Vorstellungen und auch die Neufassung, die der Komponist vornahm, weil das Original verbrannte, erlebte nur vereinzelte Wiederaufnahmen. Erst 2016 erinnerte sich die französische Operntruppe Les Frivolités Parisienne an das Frühwerk, rekonstruierte die Partitur für eine Tournee-Produktion und bannte sie auf CD. Mathieu Romano ist der musikalische Leiter, der die mit viel spanischem Flair und Sentiment ausgestattete Oper geschmack- und temperamentvoll dirigiert. Elsa Dreisig singt die Maritana mit Charme, leuchtendem Sopran und filigranen Verzierungen in der „Ballade aragonaise“. Kein Wunder, dass sie den König, dem Thomas Bettinger tenorale Eleganz gibt, bezaubert. Doch hat dieser gegen die stimmliche Noblesse und Ausdruckskunst von Don César – alias Bariton Laurent Naouri – keine Chance bei ihr. Trefflich besetzt ist auch der Bursche Lazarille, den Massenet mit zwei innigen Romanzen bedacht hat. Marion Lebègue singt sie mit warmem Mezzosopran, der zudem im Nocturne-Duo aufs Schönste mit Elsa Dreisig harmoniert.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Jules Massenet: „Don César de Bazan“ (1872)
Naouri, Dreisig, Lebègue, Bettinger, Helmer, Moungoungou
Ensemble Aedes, Les Frivolités – Mathieu Romano
2 CDs, Naxos

Ein Feuerwerk!

Jean-Baptiste Lully / Louis-Joseph Francœur: „Armide 1778“ & André-Ernest-Modeste Grétry: „Richard Cœur de Lion“

Jean-Baptiste Lully / Louis-Joseph Francœur: „Armide 1778“ & André-Ernest-Modeste Grétry: „Richard Cœur de Lion“

Hervé Niquet ist ein musikalischer Tausendsassa, der als Cembalist, Organist, Pianist, Sänger, Chorleiter und Dirigent reüssiert hat. 1987 gründete er sein eigenes Orchester Le Concert Spirituel, anfangs vor allem für Barock-Projekte. Inzwischen wirkt es aber auch regelmäßig bei Niquets Erkundungen auch späterer Epochen mit, insbesondere der französischen Oper. Jüngste Ausbeute dieser inspirierenden Kooperation sind die CD-Aufnahmen der Bühnenwerke „Armide 1778“ und „Richard Cœur de Lion“, die beide vor instrumentaler Vitalität und klangfarblicher Fantasie nur so sprühen.

„Armide 1778“ basiert auf Jean-Baptiste Lullys Antikentragödie, die für eine geplante Reprise an der Pariser Oper zeitgemäß bearbeitet werden sollte. Den Auftrag übernahm der Komponist Louis-Joseph Francœur, fügte neue Musiknummern ein und verstärkte die Orchesterbegleitung. Eine Premiere – gedacht als Konkurrenz zu Glucks kurz vorher entstandener Version – kam allerdings nie zustande und „Armide“ schlummerte im Archiv, bis sich Hervé Niquet ihrer annahm und mit einer illustren Besetzung einspielte. Véronique Gens singt die Titelrolle in blendender stimmlicher Verfassung, ihr passionierter Gesang, die Intensität der Gestaltung und die Palette an Ausdrucksnuancen für die wechselnden Affekte machen sie zur idealen Interpretin der zwischen Liebe und Hass schwankenden Zauberin. Mit Bariton Tassis Christoyannis und Tenor Reinoud van Mechelen sind weitere Könner am Werk, die für Stimmqualität und stilistisches Einfühlungsvermögen stehen.

Hervé Niquets zweiter Streich gilt André-Ernest-Modeste Grétrys 1784 in Paris herausgekommener Oper „Richard Cœur de Lion“, die 2019 auf Initiative des Dirigenten im Schlosstheater Versailles erfolgreich wiederaufgeführt wurde. Die stimmige, charmant historisierende und zudem humorvolle Inszenierung von Marshall Pynkowski liegt nun auf DVD vor, ergänzt um eine CD in fast identischer Besetzung. Der knapp neunzigminütige Dreiakter, eine der ersten Rettungsopern, erzählt die fiktive Befreiung des englischen Königs Richard Löwenherz durch den Minnesänger Blondel und verknüpft sie mit heiteren Volksszenen und verklärter Mittelalterromantik. Die Musik Grétrys, in der sich schlichte Romanzen, spritzige Ensembles und höfische Tänze die Hand reichen, funkelt in jedem Moment durch Niquets unbedingte Energie. Dabei kann er auf ein junges Gesangsensemble mit stimmlicher Flexibilität bauen, das zudem herzerfrischend agiert. Besondere Wandlungsfähigkeit beweist Marie Perbost in der Doppelrolle des Burschen Antonio und der Gräfin. Melody Louledjian ist eine reizende Laurette – ihre Arie „Je crains de lui parler la“ kennt man aus Tschaikowskis Oper „Pique Dame“, wo sie von der alten Gräfin zur Erinnerung an alte Zeiten gesungen wird. Der tenorale Wohlklang von Rémy Mathieu als Blondel (auf der CD ist es Enguerrand de Hys) und Reinoud van Mechelen als Richard macht das vokale Glück perfekt. Ob szenisch oder rein akustisch: dieser „Richard Cœur de Lion“ bietet Vergnügen im Doppelpack.

Karin Coper

INFOS ZU DEN PRODUKTIONEN

Jean-Baptiste Lully / Louis-Joseph Francœur: „Armide 1778“
Gens, van Mechelen, Christoyannis, Jeffery, Watson, Martin, Wilder
Le Concert Spirituel – Hervé Niquet
2 CDs, Alpha Classics


André-Ernest-Modeste Grétry: „Richard Cœur de Lion“ (1784)
Hervé Niquet (Dirigat), Marshall Pynkowski (Inszenierung)
Le Concert Spirituel
1 DVD und 1 CD, Chateau de Versailles

Im Portrait: Livine Mertens

„Livine Mertens, Mezzo-soprano. Airs et mélodies“

„Livine Mertens, Mezzo-soprano. Airs et mélodies“

Das Belgische Label Musique en Wallonie wurde 1971 gegründet, um das musikalische Erbe der wallonischen Region zu pflegen. Im Fokus stehen daher Aufnahmen von Werken nationaler Komponisten, darunter viele unbekannte. Ein weiterer Schwerpunkt des Interesses sind Arienporträts historischer einheimischer Gesangspersönlichkeiten, Opernstars wie Lucienne Delvaux oder Pierre d’Assy. Die jüngste Veröffentlichung gilt der 1898 geborenen Mezzosopranistin Livine Mertens. Sie debütierte 1923 an der Brüsseler Oper, eroberte sich schnell große Rollen wie Carmen, Mignon, Octavian oder Charlotte, sang aber auch viel Zeitgenössisches und Operetten. Während der Besetzung Belgiens durch die Nationalsozialisten engagierte sie sich im Widerstand, wurde zweimal inhaftiert und zog sich deshalb aus Sicherheitsgründen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Nach der Befreiung trat sie wieder in Brüssel auf, verkündete aber 1945 – vermutlich wegen interner Intrigen – ihren Rückzug.

Das mit schönen Fotos ausgestattete Album versammelt Aufnahmen vom Anfang der dreißiger Jahre wechselweise mit Orchester- oder Klavierbegleitung. Mertens besitzt eine schlanke, kultiviert geführte Stimme von heller Farbe und leichter Höhe. Sie bringt Stilbewusstsein für das französische Repertoire mit, überzeugt aber auch als freche Operetteninterpretin in Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ und Suppés „Boccaccio“. Besonderen Reiz erhält das Album durch einige Raritäten wie den Gesangswalzer von Louis Hillier, dazu kommen Ballett-Intermezzi, temperamentvoll dirigiert vom Ehemann der Mertens, Maurice Bastin.

Karin Coper

INFOS ZUR CD

„Livine Mertens, Mezzo-soprano. Airs et mélodies“
1 CD, Musique en Wallonie