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Dr. Joachim Lange

Wo Götter ins Zweifeln kommen

Eisenach / Landestheater Eisenach (Oktober 2021)
Wiederbelebung von Johann Christian Bachs „La clemenza di Scipione“

Eisenach / Landestheater Eisenach (Oktober 2021)
Wiederbelebung von Johann Christian Bachs „La clemenza di Scipione“

„Menschen? Wozu?“ Das fragen sich die Götter in Johann Christian Bachs (1735-1782) am Landestheater Eisenach erstmals nach der Londoner Uraufführung von 1778 wieder in szenischer Form aufgeführten Oper „La clemenza di Scipione“. „Bei den Schweinen hätten wir aufhören sollen.“ Falk Pieter Ulke und Kerstin Wiese schlurfen immer mal wieder als altes Götter-Ehepaar über die Bühne. Er in Unterhosen und offenem Bademantel – und sie auch nicht so ganz taufrisch. Regisseur Dominik Wilgenbus hat ihnen allerhand witzige Bonmots in die Klappmaulpuppen-Münder gelegt.

Die Handlung der Oper ist zwar nicht mehr ganz so barock verworren wie bei Händel und Co., aber doch ein Stresstest für die heutige Allgemeinbildung. Sie spielt vor dem Hintergrund der Punischen Kriege … Es geht natürlich um Liebe und um die Güte des Titelhelden Scipio. Nicht gleich wie bei Mozart 1791, also dreizehn Jahre später, um die Güte eines Kaisers (Titus), beim jüngsten Bach-Sohn tut’s auch ein römischer Feldherr als leuchtendes Vorbild für die Moral der Mächtigen. Wilgenbus, Peter Engel (Bühne) und Uschi Haug (Kostüme) haben diese frühklassische Opera seria mit unaufdringlichem Witz und leichter Ironie in Szene gesetzt.

Hört man die Musik von Johann Christian Bach, dann versteht man den Respekt Mozarts für den älteren Kollegen. Es handelt sich um eine Art vorweggenommenen „Idomeneo“-Sound, auch die Beredsamkeit der „Entführung aus dem Serail“ meint man zu hören. Alles als flotte Nummernfolge mit kunstvollen Arien samt der Möglichkeit, für jeden Protagonisten seine Koloraturkünste vorzuführen. Eine genau genommen unbekannte Musik, die dem heutigen Hörer dennoch vertraut ist. Zumal, wenn sie so frisch und dynamisch aus dem Graben kommt wie bei den 32 Musikerinnen und Musikern der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach unter Leitung von Juri Lebedev. Dazu ein junges Protagonisten-Ensemble: darunter Martin Lechtleitner (Scipio) und der kraftvolle Counter Onur Abaci (Luceio), der mit Sara-Maria Saalmann (Arsinda) einen Liebestod besingt, den freilich die Götter korrigieren. Dazu Alexandra Scherrmann als zweite besiegte Prinzessin und Geliebte des römischen Generals Marzio (Johannes Mooser). Wenn sie alle im Quintett gestrichene Chorpassagen übernehmen, fügt sich das bruchlos ein.

Das archaisch anmutende Bühnenhalbrund mit einem halben Dutzend Öffnungen ist nicht nur für das (manchmal sogar choreografierte) Spiel mit Charme und Sexappeal, sondern auch für die Koloraturpracht, das melodische Parlando und die Ensembleszenen der ideale Rahmen. Diese Ausgrabung ist ambitioniert, gut gemacht und unterhaltend. Man kann nur hoffen, dass sich möglichst viele, nicht nur Eisenacher, davon persönlich überzeugen.

Dr. Joachim Lange

„La clemenza di Scipione“ (1778) // Opera seria von Johann Christian Bach

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Neustart mit Publikumsvotum

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2021)
Alban Bergs „Wozzeck“ im „Pandaemonium“

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2021)
Alban Bergs „Wozzeck“ im „Pandaemonium“

Der neue Intendant in Kassel heißt Florian Lutz. In Halle hat er sein Theater der Zukunft erprobt und damit zwar nicht das Publikum, aber die Politik vor Ort überfordert. Jetzt ist er nicht nur für die Oper zuständig, sondern für alle Sparten. Außerdem wird er wohl auch den Umzug des Hauses in ein Provisorium bewältigen müssen, denn dass der Bau überholt werden muss, steht schon fest. Da hat es etwas von einem (Vor-)Zeichen, dass Baugerüste schon bei seiner ersten eigenen Inszenierung eine tragende Rolle spielen. Dass sein Hausszenograf Sebastian Hannak ihm eine Raumbühne (das „Pandaemonium“) daraus gezaubert hat, ist aber vor allem ein künstlerisches Statement zur Öffnung der Oper in Richtung Publikum. Ein zeitbedingt willkommener Nebeneffekt ist die den Corona-Restriktionen abgerungene Zuschauerzahl von ca. 630. Die hygienesichere Aufteilung der Zuschauer zwischen Saal und den auf Bühne und Seitenbühnen errichteten Rängen erlaubt weit mehr Opernfreunden als an anderen vergleichbaren Häusern die Rückkehr aus der erzwungenen langen Abstinenz. Es geht aber vor allem um das Aufbrechen der vierten Wand, die größere Nähe zu Musik und Akteuren und damit auch zur andauernden Brisanz der Geschichte des von allen Seiten geschundenen Wozzeck (Filippo Bettoschi), der sich am Ende nicht anders zu helfen weiß, als seine Marie (Margrethe Fredheim) umzubringen.

Das macht er in der unmittelbar von unserer Gegenwart aus erfolgenden Neubefragung in Kassel zwar nur in Gedanken, das heißt für uns im Video. In der Realität (des Stückes) bleibt er gleichwohl in seinem tristen Verpacker-Job gefangen. Also im Griff der Firma, die den Superdrink Biofuel herstellt. Den bringt sie mit einer Werbekampagne mit dem Gesicht und sexy Körper des Tambourmajors (Frederick Ballentine) sowie mit einer Art Parlaments-Event unter die Leute. In dieser Rahmenhandlung führt der Hauptmann (Arnold Bezuyen) in Unterbrechungen der Musik die Zuschauer durch ein fiktives Gesetzgebungsverfahren, bei dem das Publikum über Gesetze zu Gesundheit, Kontakten und Sicherheit abstimmen kann. Der Effekt dieses Brückenschlages von den Themen Bergs und Büchners beim Blick in den Abgrund Mensch zum beklemmenden Blick in unsere von einem vorsorglichen Staat (respektive Konzern) durchregulierte Zukunft ist frappierend.

So ähnlich wie das außergewöhnliche Klangerlebnis für die Zuschauer, die in den Raumbühnenplätzen über dem fabelhaft unter seinem GMD Francesco Angelico aufspielenden Orchester platziert sind. Den Überblick zwischen dem Versandlager auf der einen, der Praxis des Doktors auf der anderen Seitenbühne, Maries Behausung im Hintergrund und dem Wirtshaus auf der Vorderbühne wird durch live produzierte und auf Großbildschirme übertragene Bilder gewährleistet. Wie im wahren Leben gibt’s einen Teil der Wahrheit immer nur aus zweiter Hand – packend radikales Gegenwartstheater in Kassel bis auf Weiteres aber aus erster.

Dr. Joachim Lange

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website des Theaters