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Henry Purcell

Vielseitig und flexibel

75 Jahre BR-Chor

75 Jahre BR-Chor

Der BR-Chor sucht und findet zu seinem 75. Geburtstag neue Wege, um die „Macht der Musik“ auch in Pandemiezeiten zu feiern

von Tobias Hell

Die Initialzündung kam am 1. Mai 1946, Punkt 8.15 Uhr morgens, als die erste Sendung mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks ausgestrahlt wurde. Auf dem Programm „Lieder und Chöre zum Tag der Arbeit“. Und tatsächlich waren die Sängerinnen und Sänger die Pioniere, die hier als erster neu gegründeter Klangkörper des Hauses die Ärmel hochkrempelten und ihre Stimmen ertönen ließen. Von Volksliedern und geistlicher Musik bis hin zu eigens produzierten Opernaufnahmen war das Repertoire des Ensembles von Anfang an breit gefächert.

Diese Vielseitigkeit wurde über die letzten 75 Jahre hin gewissenhaft gepflegt und zählt auch für den aktuellen künstlerischen Leiter Howard Arman zu den wichtigsten Qualitäten seines Ensembles. „Es ist ein sehr intuitiver Chor, der sich gern auf Neues einlässt und dabei nicht nur auf die Dinge reagiert, die ich auf der Probe sage, sondern auch im Konzert jede noch so kleine Geste wahrnimmt und sofort darauf reagiert. Mit anderen Worten, er verkörpert all das, worauf es beim Musizieren eigentlich ankommt.“ Eine Meinung, mit welcher der englische Dirigent keineswegs allein dasteht. Kaum ein Pultstar der Nachkriegszeit, der nicht mit dem BR-Chor gearbeitet hätte. Rafael Kubelík, Leonard Bernstein, Claudio Abbado oder Sir Simon Rattle. Aber auch ausgewiesene Originalklang-Experten wie Ton Koopman oder Nikolaus Harnoncourt. Umso mehr bedauert man, dass die zum Jubiläum angedachte Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin aus bekannten Gründen vorerst aussetzen musste. Gerade weil die beiden Ensembles auf eine ebenso lange wie fruchtbare künstlerische Freundschaft zurückblicken. Und mit seinem Untertitel „Die Macht der Musik“ wäre Händels „Alexanderfest“ tatsächlich das ideale Werk für diesen Anlass gewesen. Howard Arman ist jedoch kein Mensch, der lange über das klagt, was derzeit nun einmal nicht geht, sondern pragmatisch genug, um gemeinsam mit seinem Chor nach kreativen Alternativen zu suchen. „Beim ‚Alexanderfest‘ wäre vor allem die Orchesterbesetzung einfach zu groß gewesen. Aber wir bleiben trotzdem bei Händel und machen eine Geburtstagsode, kombiniert mit Kompositionen von Henry Purcell und Daniel Purcell. Bei diesem Programm haben wir die Möglichkeit, für die beiden Hauptwerke zwei separate Besetzungen aufzustellen und so trotzdem alle Mitglieder des Chores zum Geburtstag zu Wort kommen zu lassen. Das war mir sehr wichtig.“

Schöpferisch durch die Krise

Fünf Jahre nach seinem Amtsantritt hat Arman dem BR-Chor seinen eigenen Stempel aufgedrückt und neue Schwerpunkte gesetzt, daneben aber auch die von Vorgängern wie Michael Gläser oder Peter Dijsktra angestoßenen Linien weitergeführt. Der Blick geht zwar nach vorne, ohne dabei jedoch etablierte Traditionen zu vergessen. Eine Mischung, die so gut angenommen wird, dass Aboplätze für die eigene Konzertreihe schon lange als Mangelware gelten. Die enge Verbindung zu seinem Publikum wollen das Ensemble und sein künstlerischer Leiter daher auch unter den aktuell erschwerten Bedingungen nicht abreißen lassen. „Ein Chor ist immer Teil seines Umfeldes. Wir alle sind gezwungen, kurzfristiger zu planen und zu leben. Und wir müssen eben nicht nur mit der Situation zurechtzukommen, sondern auch darauf reagieren. Das haben Komponisten und Musiker zu allen Zeiten getan. Ich bin kein Fan davon, Programme nur zu verkleinern oder zu verkürzen. Deshalb haben wir im letzten Jahr auch Kompositionen in Auftrag gegeben und versucht, neue Verbreitungswege zu entwickeln. Das sehe ich durchaus als etwas sehr Schöpferisches. Damit wir mal nicht immer nur über die Nachteile der Pandemie reden.“

Ob das Jubiläum im Mai zumindest vor teilweise gefülltem Saal gefeiert werden kann oder wieder nur als Stream über die Bühne geht, steht zum Redaktionsschluss wie so vieles andere noch in den Sternen. Den Optimismus, dass irgendwann wieder eine Art von Normalität einkehren wird, will man sich aber auch beim BR nicht nehmen lassen, wo der Probenbetrieb unter strengen Auflagen in kleinen Gruppen weitergeführt wird und einiges von dem, was aus dem ersten Lockdown geschoben werden musste, nun eben in adaptierter Form kommen soll. So unter anderem ein groß angelegtes Mahler-Projekt mit dem österreichischen Kollektiv Franui oder auch eine „Schubertiade“ in kleinen Besetzungen.

Probenarbeit zu Arvo Pärts „Miserere“ anlässlich der Salzburger Festspiele 2019 unter Mitwirkung des Komponisten: Howard Arman (links) und Arvo Pärt im Gespräch mit Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler (Foto Salzburger Festspiele / Marco Borrelli)

Estnische Spiritualität und bayerische Stubenmusi

Frisch im Handel erhältlich ist dazu eine CD, mit der gleich noch an ein weiteres Jubiläum erinnert wird. Gilt es neben dem 75-jährigen Bestehen des BR-Chores doch ebenfalls den 85. Geburtstag von Arvo Pärt zu feiern, dessen Werke im Repertoire des Ensembles seit langem einen wichtigen Platz einnehmen. „Wir haben das als eine sehr angenehme Pflicht empfunden, weil wir eine sehr starke Verbindung mit ihm und seiner Musik haben. Er war sehr enttäuscht, dass er nicht nach München kommen konnte, um mit uns zu feiern.“ Hauptwerk auf der CD, die man gemeinsam mit dem œnm (œsterreichisches ensemble fuer neue musik) und dem Münchner Rundfunkorchester realisierte, ist Pärts „Miserere“ als Live-Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 2019. Ein Konzert, an das sich Arman ebenso gern erinnert wie an die vom Komponisten selbst intensiv begleitete Probenzeit.  „Es ist schön, zu unserem gemeinsamen Jubiläum eine Live-Aufnahme zu haben, die so viel Kraft vermittelt. So ein heikles Stück 1:1 ohne Korrekturen auf CD übernehmen zu können, sagt schon einiges aus. Über die gute Zusammenarbeit mit dem œnm, aber auch über unsere Sängerinnen und Sänger, weil wir mit Ausnahme des Countertenors alle Soli aus den eigenen Reihen besetzen konnten.“

Von der weltlichen Seite erlebt man den Chor dagegen auf der ebenfalls vor Kurzem erschienenen CD mit Edward Elgars „From the Bavarian Highlands“. Einem Zyklus, zu dem der englische Komponist bei einem Ferienaufenthalt in den Alpen beeinflusst wurde. Hier trafen sich Heimat und Wahlheimat von Howard Arman, beim Livekonzert im Münchner Herkulessaal ergänzt durch eine original bayerische Stubenmusi. Wobei es besonders schön war, dass man für dieses Crossover im besten Sinne des Wortes „nur geringfügig außerhalb der eigenen Familie“ schauen musste. Kamen die Volksmusik-Beiträge doch ebenfalls von Mitgliedern des Chores oder aus deren direktem Umfeld. „Es zeigt, aus welchem Hintergrund das Singen manchmal entspringt. In der Kindheit ist das erste, das man singt, ja eher selten Mendelssohns ‚Elias‘, sondern eben Volkslieder. Und da gibt es eine sehr lebendige Kultur, die wir zeigen wollten. Davon waren auch die Mitglieder der Elgar Society in London sehr begeistert, mit denen ich im Vorfeld über unsere Idee gesprochen habe.“

Experimente und neue Begegnungen ist man beim BR-Chor also gewohnt. Und auch, wenn sich das gemeinsame Singen auf absehbare Zeit wohl eher in übersichtlichem Rahmen abspielen wird, steht Qualität bei Howard Arman und seiner Truppe weiterhin an erster Stelle. „Natürlich planen wir auch größere Werke in der Hoffnung, dass diese bald wieder möglich sein werden. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von kleineren Stücken, auf die ich mich sehr freue. Die Größe der Besetzung sagt ja nichts über die Gedankengröße dahinter aus. Nehmen wir zum Beispiel Händel, der in seinen Opern oder Oratorien gern in wichtigen Momenten das Orchester reduziert. Wenn da eine Arie nur von einer Violine begleitet wird, dann heißt es aufpassen!“ Egal ob im kleinen oder großen Format, der BR-Chor ist für alles gerüstet.

CD-EMPFEHLUNGEN

Arvo Pärt: „Miserere“ (Chor- und Instrumentalwerke)
Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner ­Rundfunkorchester, œnm – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Edward Elgar: „From the Bavarian Highlands / Partsongs“
Chor des Bayerischen Rundfunks – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2021

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Grenzüberschreitung

Antwerpen / Opera Ballet Vlaanderen (April 2021)
Purcells und Kalimas „Dido and Aeneas“ auf Entdeckungsfahrt

Antwerpen / Opera Ballet Vlaanderen (April 2021)
Purcells und Kalimas „Dido and Aeneas“ auf Entdeckungsfahrt

Die Produktion ist ein Meilenstein. Es geht von ihr eine völlig neue, Opernbühne und Filmstudio verschmelzende Ästhetik aus. Zwar wurde das Amalgam aus Purcells Oper und den Ergänzungen des finnischen Jazzkomponisten Kalle Kalima im Jahr 2019 bereits in Lyon und bei der Ruhrtriennale gezeigt. Doch erst Regisseur David Martons Entschluss, sich den Herausforderungen durch die Pandemie offensiv zu stellen, bereitete den Boden für das richtungweisende Ergebnis.

Der Reihe nach: Chefgott Jupiter und Gemahlin Juno betätigen sich in einem Ruinenfeld als sorgsame Archäologen, wobei sie kommunikations- und informationstechnische Artefakte aus der Zukunft wie Mobiltelefon, Computermaus und Kabelsalat zutage fördern. Relikte, die jene immer virulente Geschichte der Königin von Karthago mit dem trojanischen Flüchtling aufrufen. Final sollen die Bodenfunde verscharrt werden, doch bleibt die Story zu präsent, um neuerlich unter die Erde zu geraten. Für all dies münzt David Marton die Zwänge der Covid-19-Lage zur Tugend um. Die Theatralität des Werks bleibt erhalten, genuin cineastische Elemente kommen durch Nahaufnahmen sowie mehr oder minder steile Draufsichten bis zur Vogelperspektive hinzu. Auch hat Marton mit den Sängern eine für Close-ups taugliche Mimik erarbeitet. Christian Friedländers Szenografie changiert bruchlos zwischen Filmsequenzen, wie der in einem fahrenden Auto, und Bühnenbildhaftem, so bei manchem Horizont und einem demonstrativ künstlichen Baum. Pola Kardum kleidet die Personage im Fall von Göttern und Aeneas antikisierend, Dido und Belinda kommen heutig daher.

Trotz Crossover zwischen Alter Musik und Jazz ist die Produktion musikalisch aus einem Guss. Das B’Rock Orchestra bewährt sich gleichermaßen auf der Barockschiene und beim Jazz. Am Pult sorgt Bart Naessens für fließende Übergänge vom Einst zur Gegenwart. Alix Le Saux ist eine ebenso anmutige wie rührende Dido. Guillaume Andrieux gibt einen rollenbedingt etwas eindimensionalen Aeneas. Claron McFadden versieht Belinda mit vokal reich facettierten Farben. Umwerfend präsent bietet Erika Stucky ihre Jazzröhre für die Zauberin und Zwischenspiele auf. Schauspielerin Marie Goyette stattet Juno mit performancehafter Groteske und Bizarrerie aus. Eher unauffällig agiert der Jupiter von Thorbjörn Björnsson.  Zu hoffen steht, dass das mit dieser Produktion betretene Neuland künftig weiter erschlossen wird.

Michael Kaminski

„Dido and Aeneas“ (1689/2019) // Henry Purcell / Kalle Kalima

Die Inszenierung ist bis 8. Mai 2021 als kostenpflichtiger Stream über die Website des Theaters verfügbar.

Memento mori

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Der Mensch denkt, der Mensch lenkt: Gerne suhlen wir uns in diesem Ideal, betrachten uns als „Krone der Schöpfung“. Bis wieder einmal ein Zahnriemen im Getriebe der menschlichen Evolution verkeilt und unser Weltbild ins Wanken bringt. Unzweifelhaftes Paradebeispiel unserer Zeit: Corona. Was macht das mit uns, wenn eine Pandemie unsere Zukunftspläne unter krachendem Getöse einstürzen lässt, wo finden wir Antworten? Nicht zufällig hat die Seuchenliteratur gerade Hochkonjunktur: Albert Camus’ „Die Pest“, diverse Chronologien der Spanischen Grippe – oder auch Daniel Defoes fiktiver Dokumentarbericht „A Journal of the Plague Year“ von 1722. Letzteren hat Kobie van Rensburg jetzt am Theater Krefeld und Mönchengladbach zu einem „Opernpasticcio in virtueller Realität“ verarbeitet, gepaart mit Musik von Henry Purcell (und zwei weiterer englischer Barockkomponisten). Das Ergebnis ist ein überaus erfrischender Impuls abseits schließbedingter Verlegenheitslösungen.

„The Plague“ nimmt uns mit in ein Phantasie-England anno 1665/66. Damals forderte die „Große Pest von London“ geschätzte 100.000 Todesopfer, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Diese katastrophale Epidemie transferiert van Rensburg Corona-bedingt in den digitalen Raum. Sämtliche Aufnahmen seines Opernfilms wurden im Blue-Screen-Verfahren gedreht und mittels VR-Animation in minutiöser Kleinarbeit montiert. Konzeption, Ausstattung, Gesamtregie, Kamera, Schnitt, Postproduktion – Arbeitsschritte, die allesamt vom Südafrikaner verantwortet wurden. Das Ergebnis: eine artifizielle und bis zu einem gewissen Grad doch auch realistische Ästhetik am Reibungspunkt von Statik und Dynamik, gehalten in postmoderner Schwarz-Weiß-Optik. Vor folienartigen Kulissen nimmt ein neunköpfiges Ensemble in historischen Spätrenaissance-Kostümen wechselnde Rollen im „Spiel des Lebens“ ein. Im Verlauf der knapp siebzigminütigen Produktion breites sich ein sattes Panorama existenzieller Reaktionen auf eine verheerende Seuche aus: Wir begegnen sterbenden, trauernden, fliehenden und leugnenden Menschen. Wir werden Zeuge von Panik und Feierwut, Gottesfurcht und Scharlatanerie, Mitgefühl und Egoismus, erwachender Liebe und Abschied auf ewig. Dass im (auch filmischen) Spiel mit den Perspektiven immer wieder assoziative Brücken zur Gegenwart aufscheinen, van Rensburg aber nicht der Versuchung erliegt, diese in platten Bildern zu servieren, ist ein großer Verdienst der Produktion. Coronale Bezüge sind so überlegt und zurückhaltend platziert, dass sie nicht belehrend aufstoßen (darunter eine charmante kleine Klopapier-Choreo).

So reizvoll die Bespielung barocker Musik mit Bildern aus dem virtuellen Baukasten auch ist: Ohne ein tragfähiges Ensemble bliebe nicht viel mehr als eine schöne Idee auf dem Papier. Doch auch hier agiert das Haus auf hohem Niveau. Die Meisterschaft der barocken Emotionsskala gebührt dabei klar den Damen: Wie Maya Blausteins Selbstgeißelung zu einem nuancierten Affekt des Wahnsinns gerät, wie Susanne Seefing feine Zynik aufblitzen lässt und Chelsea Kolic ein herzzerreißendes Lamento anstimmt, ist große Opernkunst für den kleinen Bildschirm. Alte Musik in emotionaler Reinkultur, die von einem Instrumentalensemble unter Yorgos Ziavras zwischen pastoraler Idylle, koketter Hybris und trostloser Wehklage rhythmisch pointiert illustriert wird.

Florian Maier

„The Plague“ („Die Seuche“) // Opernpasticcio in virtueller Realität von Kobie van Rensburg, nach Motiven von Daniel Defoes „A Journal of the Plague Year“ („Die Pest zu London“) (1722) und mit Musik von Henry Purcell, Pelham Humfrey und Thomas Ravenscroft

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand zum Preis von 10 Euro bis zum 4. Juli 2021 über die Website des Theaters verfügbar. Alternativ wird auch eine DVD zum selben Preis angeboten.