Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021) Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream
Heute ist die Versuchung wohl, „Influencerin“ oder „Model“ zu werden und dazu Bernsteins „Glitter and be gay“ zu singen … Diesem schwelgerisch-bösen Mädchentraum setzte Abbé Prévost schon 1731 ein Roman-Denkmal. Den damaligen Bucherfolg hat dann über 100 Jahre später François Auber als Oper gestaltet. Doch erst Jules Massenets Vertonung von 1884 wurde zu einem Erfolg, den Giacomo Puccini wenige Jahre später noch übertrumpfte.
Massenets Manon verlangt keinen üppigen und am Ende fast hochdramatischen, auf alle Fälle hochexpressiven Sopran, sondern „Lyrismus pur“. Dafür ist Elsa Dreisig in der Hamburger Einstudierung eine Idealbesetzung: noch ein Hauch von Kindfrau, dazu viel ungeformte Lebenserwartung, die prompt mal auf diesen und mal auf jenen Weg gelockt werden kann. Das haben Regisseur und Dirigent erfreulicherweise erkannt und weitgehend interpretatorisch umgesetzt.
Regisseur David Bösch nutzt die Corona-Vorgaben und zeigt Menschen oft auf Distanz mit der Sehnsucht nach Nähe. Es sind Menschen in einem zeitlosen Jetzt und Hier und Heute. So genügen ein paar Stühle und Tische auf sonst leerer Bühne für die Erstbegegnung im Wirtshaus, dann für das sehr schlichte Liebesnest in Paris. Kontrastreich fulminant ist Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostümbildner Falko Herold Manons „Erfolg“ in der Welt des „Glitter and be gay“ gelungen: als Shootingstar im Showgeschäft, alles unter der Leuchtschrift „C’est la vie“, alles glamouröse Oberfläche – dahinter die Glücksuche an einarmigen Banditen, wo sich die nicht so glücklichen, daher sich sexy anbietenden „Freundinnen“ Poussette, Javotte und Rosette tummeln. Dass die dann doch zu zarte Manon noch einmal das Glück bei Des Grieux sucht, ihn aus seiner religiösen Zuflucht herauslockt: All das überzeugt szenisch wie musikdramatisch. Nach dem kurzen Glückspiel-Irrglauben lässt Bösch dann alles in einer leeren Öde enden, wo Massenet Manon im Gefangenentransport nach Le Havre an Erschöpfung sterben lässt. Doch Bösch muss da ärgerlicherweise wieder seine „eigene Sicht“ zeigen: Manon kommt wie am Anfang mit ihrem kleinen Rucksack und trinkt Gift, noch dazu aus einem Fläschchen, das eher aus dem 19. Jahrhundert stammt – Massenet ver-schlimm-bessert! Interpretationsgewinn: null!
Dafür entschädigt Dirigent Sébastien Rouland mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und idiomatischem Gespür: eben keinen Puccini aus dem Werk zu machen, sondern die schnellen Umbrüche in der „easy“-Stimmung, den vermeintlich „leichten“ Tonfall junger Menschen im Umgang mit ihrem „leichten“ Leben Klang werden zu lassen.
All das lässt auch Elsa Dreisig ihren musikalischen Feinsinn in Ton wie Körpersprache entfalten und macht Bösch letztlich zweitrangig. Ihr Sopran verströmt mädchenhaft scheue Süße – und blüht dann kurz auf zur großen Emotion. Ihre strahlenden Augen verwandeln sich mehrfach zu innerem Glanz, es singt aus ihr – um dann getreu der raffiniert feinen Komposition Manons Schwäche und die Stimmungsumschwünge vokal zu gestalten bis in die melodramatischen Phrasen hinein. Eine bildhübsche junge Frau, durchs Leben gewirbelt von vokaldramatischen Windstößen der Banalität, Berechnung und Gemeinheit – gut verkörpert und gesungen durch Björn Bürgers Lescaut, Daniel Kluges Guillot-Morfontaine und die anderen Männer. Zu ihnen kontrastiert der feingliedrige Des Grieux von Ioan Hotea, ein schlanker Tenor mit dem nötigen „lyrisme française“, dem Ernst und der Schwäche vor diesen divergierenden Anforderungen des Lebens. Dreisig und Hotea bilden ein anrührend fesselndes Paar des Scheiterns. Ein musikdramatisches Plädoyer für Massenet!
Wolf-Dieter Peter
„Manon“ (1884) // Opéra comique von Jules Massenet