Liebe bis in den Tod: Ilona Revolskaya (Giulietta) und Anna Alàs i Jové (Romeo) (Foto Reinhard Winkler)
Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel
Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel
Es dauert nicht lange und Wehmut schleicht sich ein, während man im heimischen Wohnzimmer den Stream von Vincenzo Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ verfolgt und sich doch eigentlich ins Linzer Musiktheater sehnt. Aber in Zeiten wie diesen muss man genießen, was möglich ist – und Genuss gibt es an diesem Abend reichlich. Die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia ist sattsam bekannt. Ihr Unglück ist die Folge eines erbitterten Streits zweier Familien in Verona, die neben persönlichen Befindlichkeiten auch noch unterschiedlichen politischen Lagern angehören, den Ghibellinen und Guelfen. Kriegerisch gebärden sich Cappelio, Clanchef der Capuleti, und seine Getreuen – insbesondere Tebaldo, der ein Auge auf die Tochter des Bosses geworfen hat. Dass Julia (bei Bellini Giulietta) ganz andere Pläne hat, weiß er noch nicht.
Regisseur Gregor Horres siedelt die auf Krawall gebürstete Familie vor einem anthrazitfarbenen, sich drehenden Betonquader an, der als Projektionsfläche für ein Video, eine Cocktailbar, ein Schlafzimmer und schließlich eine Grabkammer dient. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross unterstreicht die erstarrten Ansichten dieser Männergesellschaft, die, wenn gar nichts geht, nach Rache und Krieg schreit. Rache, weil Romeo, Sohn der feindlichen Montecchi, den männlichen Nachkommen der Capuleti in einer Schlacht erschlug. Tebaldo kämpft an vorderster Reihe als Rächer – vor allem, weil er als Preis seines Erfolgs die Heirat mit Giulietta erwarten darf. Tenor Joshua Whitener gibt den aalglatten Karrieremann, schafft es aber mit seiner Stimme, seiner Liebe zu Giulietta große Glaubhaftigkeit zu verleihen.
So startet die Oper ziemlich fulminant mit einem hochmotivierten Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Enrico Calesso. Richtig Fahrt nimmt der Abend mit dem Auftritt des Liebespaares auf. Bellinis Romeo ist eine Partie für einen Mezzosopran. Dadurch gestalten sich die gesanglichen Begegnungen der verzweifelt Liebenden nicht nur als eine Kette von Koloraturen, sondern auch als ein feinmelodisches Gewebe an Akzenten und Färbungen zwischen Sopran und Alt. Bellini hat sich mit seiner Komposition bereits vom reinen Schöngesang des Barocks entfernt, die traurigsten Botschaften kommen auf romantischen Wellen von lebhaften Dur-Tonarten daher und nehmen den Zuhörer völlig gefangen. Für dieses wohlige Gefühl sind in erster Linie die beiden Sängerinnen von Romeo und Giulietta verantwortlich. Anna Alàs i Jové gibt einen hingebungsvollen Liebhaber und lässt ihre weiche Stimme leuchten. Ilona Revolskaya füllt ihre Rolle nicht nur mit schwebenden, scheinbar leicht hingeworfenen Tönen aus, sondern zeigt auch glaubhaft, dass sie mehr von der Liebe begreift als ihr jugendlich stürmischer Angebeteter. Das unerfreuliche Ende der Oper ist nicht aufzuhalten, es wirken sowohl der von Lorenzo (Michael Wagner) vorbereitete Trank für den Scheintod als auch das Gift. Der finale Selbstmord erfolgt modern mit einer Pistole. Alle unglücklichen Protagonisten müssen ihr Leben lassen, nur der verbitterte Vater (Dominik Nekel) bleibt gebrochen zurück. Ein gelungener Abend, der in guter Erinnerung bleibt.
Susanne Dressler
„I Capuleti e i Montecchi“ (1830) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini
Erschreckend aktuelle Studie der Gleichschaltung … (Foto Reinhard Winkler)
Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“
Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“
Mit seiner Musical-Sparte hat das Landestheater Linz keineswegs nur seine hauseigene Cashcow, die massentaugliche Unterhaltung produziert. Der künstlerische Leiter Matthias Davids hat das Repertoire von Anfang an immer wieder auch mit interessanten Ur- und Erstaufführungen aufgewertet, um so die komplette Bandbreite des Genres abzubilden. Jüngster Streich ist die Weltpremiere von „The Wave“ aus der Feder von Or Matias, der sich dafür von Morton Rhues gleichnamigem Roman inspirieren ließ – einem Klassiker der Schullektüre, der seit seiner Veröffentlichung 1981 leider wenig an Aktualität eingebüßt hat.
Im Zentrum: das Sozialexperiment eines amerikanischen Geschichtslehrers, der seine Schulklasse am eigenen Leib spüren lässt, dass eine scheinbar positive Gruppendynamik schnell ins Negative kippen kann. Und wie leicht faschistische Tendenzen auf fruchtbaren Boden fallen. All die missverstandenen und ausgegrenzten Teens in seiner Klasse finden in der von ihm gegründeten Bewegung „Die Welle“ zunächst ein neues Gemeinschaftsgefühl. „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ Es dauert jedoch nicht lange, bis die Gleichschaltung zur Ausgrenzung und letzten Endes zur offenen Gewalt führt. Eine Erkenntnis, die sich für den Lehrer Ron Jones mindestens so erschütternd offenbart wie für seine Klasse.
Passend zur Geschichte setzt die von jazzigen Anklängen durchzogene Partitur weniger auf den großen Effekt und mehr auf die ruhigen Töne, mit denen Matias in die Seelen seiner Figuren blicken lässt. Wenn auch nicht immer ganz frei von Klischees, die von Übersetzerin Jana Mischke ebenso kräftig bedient werden. Denn natürlich gibt es auch hier die üblichen Verdächtigen wie die Streberin, den Sportler oder den gedichteschreibenden Außenseiter. Anders als bei manchem 08/15-Teenie-Film sind diese Stereotypen jedoch keine Steilvorlage für flache Gags. Vielmehr zeigen sie, dass keiner von uns immun ist.
Das musikalische Spektrum ist ähnlich divers aufgestellt, vom eingängigen a-cappella-Auftakt über sanfte Balladen bis hin zu Ensembles im prägnanten Marschrhythmus. Richtige Ohrwürmer gibt es zwar nur wenige, doch stehen die Nummern stets im Dienst der Geschichte, die Christoph Drewitz im nüchternen, laborhaften Bühnenraum von Veronika Tupy sehr auf die Figuren fokussiert erzählt. Christian Fröhlich gibt den hemdsärmeligen Pädagogen mit der nötigen stimmlichen Autorität und schickt einem bei seiner Wandlung vom Kumpeltypen zum harten Anführer tatsächlich auch kleine Schauer über den Rücken. Aus der Schulklasse, die mit Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien aufgestockt wurde, sticht vor allem Hanna Kastner als Ella heraus, die als einzige den Aufstand wagt und dafür bitter bezahlt. Die anschließende Szene mit Ron und dem vom Mobbingopfer zum Fanatiker mutierten Robert (Lukas Sandmann) zählt wahrscheinlich zu den beklemmendsten Momenten dieser Show, der man nach Pandemie-Ende ein langes Bühnenleben wünscht.
Tobias Hell
„The Wave“ („Die Welle“) (Uraufführung aufgezeichnet am 5. November 2020 / Stream-Premiere am 20. März 2021) // Musical von Or Matias
Eine eigene Musical-Sparte ist immer noch exotische Attraktion in unserer Theaterlandschaft. Das Landestheater Linz hat den Schritt vor einigen Jahren gewagt – und wurde belohnt.
Eine eigene Musical-Sparte ist immer noch exotische Attraktion in unserer Theaterlandschaft. Das Landestheater Linz hat den Schritt vor einigen Jahren gewagt – und wurde belohnt.
von Tobias Hell
Mit dem Neubau des Musiktheaters am Volksgarten erhielt die oberösterreichische Landeshauptstadt 2013 nicht nur eines der modernsten Häuser Europas, sondern erweiterte gleichzeitig auch das künstlerische Spektrum um eine eigene Musical-Sparte. Ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich das Landestheater Linz auch überregional einen Namen gemacht hat. Als Künstlerischer Leiter waltet hier mit Matthias Davids von Beginn an ein versierter Kenner des Genres, der sein Publikum immer wieder mit ausgefallenen Titeln fordert.
Das Musical ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum fest an den Staats- und Stadttheatern verankert. Dass sich neben Linz und dem Theater für Niedersachsen in Hildesheim trotzdem kein Haus eine eigene Sparte leistet, hat für Davids relativ profane Gründe. Denn durch den Neubau stand die Linzer Intendanz vor der Frage, wie man statt zwei Spielstätten auf einmal fünf füllen sollte. „Es hat sich quasi eine Lücke aufgetan, die geschlossen wurde. Aber das ist eine besondere Konstellation.“
Fruchtbarer Austausch
Der größte Vorteil des Linzer Modells liegt definitiv in dem mittlerweile von sieben auf zehn Stellen aufgestockten Ensemble aus Musicalspezialisten, das den Casting-Prozess auch bei ausgefalleneren Titeln erleichtert. Denn auch wenn sich viele Klassiker wie etwa eine „My Fair Lady“ oder „Hello Dolly“ durchaus passabel mit spielfreudigen Opernsängerinnen oder musikalisch begabten Schauspielern besetzen lassen, lässt Davids gerade diese Stücke in seiner Planung meist außen vor. „Es sind ja sehr oft immer wieder die gleichen Titel auf dem Spielplan, von denen die Intendanten wissen, dass damit das Haus voll wird. Aber als subventioniertes Theater haben wir schon die Aufgabe, uns auch einmal an weniger Bekanntes zu wagen.“
Was nicht bedeutet, dass man sich nicht auch in Linz hin und wieder gegenseitig aushelfen würde. „Es gibt einige Stücke, bei denen man zum Beispiel den Opernchor gut einsetzen kann. Neben dem Nutzen solcher Ressourcen finde ich es innerhalb eines Theaters grundsätzlich sehr wichtig, dass die Sparten immer wieder mal aufeinanderprallen.“ So geschehen unter anderem bei Linzer Erfolgsproduktionen wie „Show Boat“ oder „An American in Paris“, bei denen die Tanz-Company mit von der Partie war. „Die Musical-Darsteller können da von den Ballett-Leuten etwas lernen, aber auch umgekehrt. Diese Befruchtung finde ich sehr positiv. Allerdings im Repertoirebetrieb mit mehreren Spielstätten parallel nicht immer ganz leicht zu koordinieren.“
Ensembletheater nach alter Schule
Die Basis seiner Sparte ist und bleibt natürlich das eigene Ensemble, dessen Mitglieder bei der Planung der kommenden Spielzeiten stets im Hinterkopf des Leitungsteams präsent sind. In der schnelllebigen Musicalbranche, in der Besetzungen meist nur für eine Aufführungsserie zusammengewürfelt werden und sich danach in alle Winde verstreuen, ist es für Davids ein klarer Bonus, Menschen auf der Bühne zu haben, die von Stück zu Stück enger zusammenwachsen und sich dabei in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam neu ausprobieren können. Wobei es ihm auch wichtig ist, stets mit offenen Karten zu spielen und bei den jährlich anstehenden Vertragsverlängerungen klar zu kommunizieren, welche Rollen im Einzelfall zur Option stehen.
Ein System, das nicht nur dem Ensemble eine im Musical-Genre selten gegebene langfristige Planung ermöglicht, sondern auch das Identifikationspotenzial des Publikums mit „seinem“ Ensemble erhöht. Viele der Darstellerinnen und Darsteller bringen von früheren Produktionen Fans mit, die aus Wien, Hamburg oder Köln regelmäßig nach Linz reisen. Und auch die Linzer sind eher geneigt, einem weniger bekannten Titel eine Chance zu geben, wenn die Namen auf dem Besetzungszettel von vergangenen Theaterbesuchen noch in guter Erinnerung sind.
Konstant gute Leistung zu bringen, das ist für Davids das Credo seiner Arbeit. „Ich habe das früher auch schon erlebt, dass mir ein Intendant mal gesagt hat, dass er eine moderne Oper plant, die künstlerisch zwar sehr anspruchsvoll ist, aber natürlich nicht so ein breites Publikum anziehen wird. Ob ich das ausgleichen könnte. Da habe ich mich im ersten Moment schon gefragt, ob das jetzt eine Beleidigung ist. Nach dem Motto, wir machen die Kunst, mach du mal das Andere. Aber so etwas stört mich inzwischen nicht mehr, weil ich weiß, was das Musical-Genre bedeutet und was es verlangt.“
Belohnung durch Vertrauen
Dass die Qualität hier stimmt, belegt nicht nur die positive Resonanz bei Presse und Publikum. So ist etwa der Run auf das vor zwei Jahren erstmals aufgelegte Musical-Abo nach wie vor ungebrochen. Aber auch vonseiten der Verlage und Autoren scheint inzwischen ein Grundvertrauen in die Arbeit des Linzer Ensembles zu herrschen. So stehen dank guter Kontakte nach London und New York auch in der laufenden Spielzeit erneut mehrere Ur- und Erstaufführungen auf dem Spielplan.
Im November geht hier etwa die Premiere der „Welle“ über die Bühne. Eine aus der Schullektüre wahrscheinlich bestens bekannte Geschichte, die leider nach wie vor nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Auf die neue Vertonung von Or Matias wurde man durch den derzeit in Amerika hoch gehandelten Komponisten Dave Malloy aufmerksam, dessen „Préludes“ in Linz ein kleiner Überraschungserfolg waren, an den man mit der Erstaufführung seines neuesten Musicals anknüpfen wollte. Ein Plan, der bislang zwar noch nicht realisiert werden konnte, aber dazu führte, dass Malloy seinen Freund und Kollegen Or Matias ins Gespräch brachte. Matias’ Musik überzeugte das Linzer Team sofort. Und wenn sich während den Endproben nun doch die Stirn in Falten legt, dann lediglich deshalb, weil der Komponist aufgrund der Pandemie in Texas festsitzt und der Uraufführung am 7. November nur virtuell beiwohnen kann. Aber wer weiß? Vielleicht ist auch dies nur der Anfang einer langen künstlerischen Freundschaft.
Kunst und/oder Kommerz?
Mag sich die Linzer Musical-Sparte auch Risiken erlauben können, sieht der Künstlerische Leiter dennoch sehr wohl Berührungspunkte mit kommerziell ausgerichteten Produzenten. Eine eindeutige Win-Win-Situation war hier zum Beispiel die deutschsprachige Erstaufführung von „Ghost“, die nach der Premiere in Linz mittlerweile auch vom Unterhaltungs-Riesen Stage Entertainment zweitverwertet wurde. „Das war erst einmal ein Experiment, das in der Zusammenarbeit aber sehr gut gelungen ist. Ich finde es schön, dass da die Gräben langsam zuwachsen.“ Sollte also ein neuer potenzieller Partner anklopfen, steht die Tür von Matthias Davids jederzeit offen. „Es muss natürlich für beide Seiten stimmen. Es gibt gewisse große Titel, die wir weder machen können noch wollen. Aber es gibt sicher spannende Geschichten, wo man dann gemeinsam etwa ein noch aufwändigeres Bühnenbild realisieren kann.“
Selbstverständlich startete auch die neue Linzer Spielzeit unter Corona-Vorzeichen zunächst vorsichtig im kleineren Format. Wobei Pam Gems’ „Piaf“ bei Davids schon länger durch den Kopf spukte. Auch als eine Art Geschenk für Hauptdarstellerin Daniela Dett, die von Beginn an zu den Säulen des Musical-Ensembles zählt. Im neuen Kalenderjahr soll es dann aber mit „Priscilla – Königin der Wüste“ und dem schwedischen Hit-Musical „Wie im Himmel“ hoffentlich wieder größer werden. „Momentan sieht es so aus, dass wir auf der Bühne eine Kerngruppe haben, die regelmäßig getestet wird und ein Corona-Tagebuch führt. Ganz nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele, wo das im Sommer gut funktioniert hat. Natürlich gab es für ›Piaf‹ einen Plan B und sogar einen Plan C, der dann halbkonzertant gewesen wäre. Aber dank der Tests klappt es so, wie ursprünglich gedacht. Alle Vorstellungen, die wir momentan im Vorverkauf haben, sind so gut wie ausgebucht. Daran sieht man, dass die Leute unserem Hygienekonzept vertrauen und sich bei uns sicher fühlen.“ Eine verkleinerte Saison, rein mit Kammer-Musicals und reduzierten Fassungen wäre zwar möglich gewesen, aber für Davids keine echte Alternative. „Weil ich glaube, dass die Menschen gerade jetzt Ablenkung brauchen und auf der Bühne eine gut gemachte Show sehen wollen.“