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Maike Graf

Lob der Arbeit!

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Oktober 2021)
Wichtige musiktheatrale Gesellschaftskritik „Stadt der Arbeit“

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Oktober 2021)
Wichtige musiktheatrale Gesellschaftskritik „Stadt der Arbeit“

Arbeit als Lebensmittelpunkt, als das eine sinnstiftende Moment, als die einzige Sache, die einen Menschen wertvoll für die Gesellschaft macht. Wie viel Zeit bleibt, das Arbeiten zu reflektieren, wenn man sich 40 bis 80 Stunden in ebendiesem versenkt? Regisseur Volker Lösch und Autor Ulf Schmidt nutzen ihre Zeit und Arbeit, um gerade das für das Opernpublikum zu tun, indem sie die Lohnarbeit, deren Sinn und Strukturen hinterfragen. Dafür gittern sie 15 Bürgerinnen und Bürger – Laien aus Gelsenkirchen, die aber so gar nicht mehr wie Laien spielen und singen – in einzelne Zellenwürfel eines Arbeitshauses, in dem sie das ordentliche Arbeiten erlernen sollen. Angeblich passen sie nicht in das Systembild, das sich beispielsweise aus einer 40-Stunden-Woche und einer stringenten Karriere erbauen soll. Es gilt: „Seid produktiv und preist die Arbeit.“ So prügelt es das personifizierte Arbeitsamt aus Aufseherin (Gloria Iberl-Thieme) und Aufseher (Glenn Goltz) in die Körper der Arbeitslosen. Dabei wird eine Kreuzung aus perfektem Mann des Goldenen Schnittes und boshaft-draculahaftem Monster (Sebastian Schiller) mit Deutschland-Stola von der Bühnendecke gelassen, welches die Deutschlandhymne mit arbeitsverherrlichendem Text singt. In giftgrünem Licht antwortet der Chor der Arbeitslosen mit gelogener Liebe zur Lohnarbeit.

In brutaler Ehrlichkeit und Echtheit liegt die berührende Qualität dieses Abends, denn Autor Ulf Schmidt hat das Libretto aus den persönlichen Arbeits- und Arbeitslosigkeitsgeschichten der Teilnehmenden generiert. Da ist zum Beispiel Vera, die mitten im Jurastudium zur alleinerziehenden Mutter wird und ohne Abschluss in ehrenamtlichen, sozialen, aber geldlosen Tätigkeiten hängen bleibt. Oder Klaus, der auf seine Ausbildung als Versicherungskaufmann verzichten muss, weil keines der Versicherungsgebäude im Umkreis einen barrierefreien Zugang für seinen Rollstuhl ermöglichen kann. Es sind Arbeitsplatzknappheit, Bürokratiewahnsinn, psychische Krankheiten oder das Individuum übersehende Arbeitsamt-Strukturen, welche die Teilnehmenden auf die Gelsenkirchener Bühne bringen, um die Stereotype ihrer Arbeitslosigkeit zu entkräften.

Über zwei Akte mit eindringlichem Forderungen-Epilog sind Musiken und Lieder gestreut, die mal Hanns Eisler oder Heino, aber auch Haydn oder Mozart zitieren. Die bläserstarke, poppige Band auf der Bühne, geleitet von Michael Wilhelmi, trifft Stimmung und Töne – die singende Fraktion nicht durchgehend. Während Sopranistin Eleonore Marguerre das umgetextete „Casta Diva“ mit metallischem Vibrato wärmt, fällt es ihr schwer, ihre Stimme in die poppigen Passagen zu zwängen. Bei Schauspielerin Gloria Iberl-Thieme und Schauspieler Glenn Goltz sieht man das nicht so eng, weil sie den ganzen Abend springen, tanzen oder später auf Segways über die Zielscheiben-Bühne von Carola Reuther rollen. Multitalent Sebastian Schiller, der mit musicaldurchtränkter Stimme seinen verschiedensten Rollen gerecht wird, könnte der Star des Abends sein, wenn die Musik eine tragendere Rolle spielen würde. Es sind aber die Geschichten der Bürgerinnen und Bürger und damit das Schauspiel, das hier im Fokus steht und über den Abend hinaus dringt, bis man wieder am gewohnten Arbeitsplatz sitzt und angeregt das eigene Arbeiten infrage stellt.

Maike Graf

„Stadt der Arbeit“ (2021) // Ein musiktheatrales Projekt mit Gelsenkirchener Bürger*innen von Volker Lösch und Ulf Schmidt

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Liebe auf Distanz

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Ihre Hände berühren sich nur beinahe. Umrunden einander, formen einen Raum zwischen sich, den sie nicht überwinden können, und strecken sich bis ins letzte Fingerglied, an wiederum sehnsüchtig ausgerenkten Armen – aber nicht einmal die Fingerkuppen küssen sich. So gebärdet sich die Liebesgeste des Grenzen sprengen(-wollen)den Paares Romeo und Julia auf der Bühne der Deutschen Oper am Rhein. Distanz ist der prägende Gestus in dieser Inszenierung von Manuel Schmitt auf Boris Blachers Kammeroper der Shakespeare-Tragödie.

Es ist der Beinahe-Moment, der Zerrissenheitsraum, kreiert von visueller und musikalischer Distanz, der die Spannung erzeugt, um für eine Stunde an den Stream bei OperaVision gefesselt zu sein. Distanzierte Musik ist wohl jene, deren Emotionen einen nicht opern-italienisch überrollen, sondern diese mit ihren speziellen intellektuellen und strukturellen Mitteln zwar überzeugend ausformt, sie aber eher bei den Charakteren belässt. So ist es bei Blacher.

Während sich dessen Werk durch seine starke inhaltliche Reduktion vom Shakespeare’schen Original entfernt und sich dabei auf die Liebenden fokussiert, wendet sich Regisseur Manuel Schmitt wiederum eher von diesen ab und stattdessen hin zu den gesellschaftlichen Umständen der Handlung. Diesen Blickwinkel verdeutlicht er mit der Bühneneinteilung (Heike Scheele): Julia ist die ganze tragische Stunde in eine tiefergelegte, karge Ebene eingelassen. Der achtköpfige Chor steht erhöht, darf mit Requisiten und miteinander interagieren; auch die Handlung liegt maßgeblich bei ihm. Das Spiel mit den Ebenen und ihren einhergehenden Distanzen ist intellektuell und schmackhaft.

Damit auch die Unterhaltung in dieser Distanzqual nicht zu kurz kommt, schreibt Blacher die Figur der Chansonnier*e, die das Spiel immer wieder kommentierend unterbricht und die Szene zeitweise in die Theater-im-Theater-Idee schubst. Da rutschen einem die trauernden Stirnfalten schon mal in ein amüsiertes Schmunzeln, wenn Spieltenor Florian Simson in Frauenkostümen über die Bühne tänzelt. Er gestaltet seine Rolle absolut fabulös unterhaltsam aus. Ein Grad des Schauspiels, den man nicht bei allen Beteiligten beglückwünschen kann.

Musikalisch wurde gerade vom Chor ganze Arbeit geleistet. Die zahlreichen a-cappella-Akkord-Kumulationen, die nicht selten von unharmonischen Einwürfen erschüttert sind, stapeln sich ziemlich ordentlich auf- und nebeneinander. In dieses Lob kann man das kleine Orchester mit einreihen. Die Komposition bietet kaum lyrische Phrasen, an denen es sich entlanghangeln könnte; stattdessen zeugt sie von der Mathematik, die der Komponist vor seiner musikalischen Ausbildung studierte. Dirigent Christoph Stöcker bringt diese komplexe Musik mit seinen neun Musikerinnen und Musikern auf den Punkt. Obwohl der inszenatorische Fokus nicht auf Romeo und Julia liegt, sind sie musikalisch immer wieder ein Nähe-Moment. Lavinia Dames und Jussi Myllys haben schon bei Anno Schreiers „Schade, dass sie eine Hure war“ bewiesen, was für ein mitreißendes Liebespaar sie sein können und wie bereichernd sich ihre beiden ziemlich speziellen Klangfarben miteinander vermischen.

Insgesamt passiert nicht wirklich viel in dieser kurzen Stunde Kammeroper. Aber das was passiert, in minimal und eher monochrom, das bringt opernhafte Emotionen. Und die tun tragisch gut. 

Maike Graf

„Romeo und Julia“ (1943) // Kammeroper von Boris Blacher

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Oktober 2021 kostenfrei über die Plattform OperaVision abrufbar.

Arthouse-Dragqueen

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Wie oft wird über die Probleme von Opernstreams gesprochen: Dass sie mittlerweile unerträglich seien und wie schwer es falle, ihnen mit Opernbesuchs-Manier gegenüberzusitzen, sie mit hoher Konzentration aufzusaugen oder überhaupt ohne repetitive Pausenknopf-Intermezzi bis zum Ende durchzuhalten. Gleichermaßen laut sind die Rufe nach neuen Formaten, die mehr wollen als die analoge Bühne zu imitieren, deren ästhetische Erfahrung sowieso nicht gespiegelt werden könne.

Aus diesem Covid-Riss durch die ziemlich versteinerten Bühnenstrukturen der Oper erwuchs der Arthouse-Opernfilm „The Island We Made“ an der Opera Philadelphia. Allein im Grundkonzept ist er genau das, wonach wir gerufen haben: ein kurzer ästhetischer Opernfilm mit einer emotional und inhaltlich verständlichen Handlung, gebettet in elektronische, aber sehr bekömmliche und nahegehende Musik. Und dazu noch der Funken „Wow!“, den es zum Bildschirmsog braucht: Die Hauptrolle spielt Dragqueen-Superstar Sasha Velour. Bei ihr sollte man nicht an große Perücken à la Olivia Jones denken, vielmehr an Pollock oder Dalí in Kleidung und Make-up. In der Oper erscheint Sasha Velour in minimalistischer und doch extravaganter Drag, gehüllt in ein gelbes Gewand und mit sanft glitzernden spitzen Schmucksteinen am Kopf, an den Händen und Schuhen. Schon extrovertiert, aber nicht aufdringlich. Ruhig und echt. Tief durchdringend in Velours Blick.

In „The Island We Made“ schmiegt sie die Performancekunst des Drags – das sogenannte Lip-Syncing (eine Art Playback-Performance) – an die Kunstform der Oper. Was sonst bei Dragshows bunt, spektakulär und popkulturell geprägt ist, sind jetzt die Harfenarpeggien von Bridget Kibbey und der ruhig erzählerische Gesang von Eliza Bagg. Sasha Velour lip-synced im „Duett“ mit einer weiteren Rolle und zwar der Mutter, die während der elf Minuten eine Tonfigur formt. Hier liegt der Handlungskern des Opernfilms. Er ist eine Ode an die Mütter, die uns schufen und uns durch all die Dinge formen, die sie selbst einst geprägt haben: „My ears, my lungs … you made me.“

Nun zum Visuellen. Während Regisseur und Produzent Matthew Placek durch eine Wohnung in der Blue hour filmt, die mit ihren Pastelltönen wie eine verblasste Erinnerung wirkt, könnte jedes Bild, dass er in abgehakten Jump Cuts auf die Bühne holt, ein eigenes Kunstwerk sein. Das hyper-symmetrische Schlafzimmer, das Licht in den Millimeter genau angeordneten Lamellen, das Regal mit der vergoldeten Teekanne – kein einziges Staubkorn, kein Gegenstand an falscher Stelle. Wir sind hier in einer liebevollen Erinnerung, die sich auf Sasha Velours Lippen zu einem Lächeln kräuselt.

Dazu erklingt Angélica Negróns Musik mit starker Harfenfärbung und elektronischen Verzerrungen in ähnlichem Pastell-Flair, wie die Einrichtung der Wohnung. Immer wieder leuchten elektronische oder gesangliche Spitzen in der sonst sphärischen Musik, wie die Kristalle an Sasha Velour. Sowohl das Visuelle als auch die Musik sorgen für sehr einheitlichen, unaufgeregten Genuss mit einer Prise an herausstechendem Sogpunkt, wie das leuchtende Gelb von Sasha Velours Kleid oder der musikalische Höhepunkt bei Minute 9, der sich in Harfentürmen und Stimmverwaberung ergibt.

Natürlich ist der Arthouse-Opernfilm mit seinen 10 Dollar für elf Minuten eine Investition. Aber er regt zum Nachdenken an, wie die Oper und die Kunst des Drags voneinander profitieren können – und lohnt sich.

Maike Graf

„The Island We Made“ (2021) // Angélica Negrón

Der Opernfilm kann über die Website des Theaters abgerufen werden.

Weiblich, spritzig, jung

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

von Maike Graf

„Jung“: ein Wort mit einem ähnlich breiten Bedeutungsspektrum, wie die Meinungen zu einer Operninszenierung bei einem großen Auditorium auseinandergehen. In manchen Kontexten meint der Begriff „schön“, „frisch“, „neu“ und „frei“. Wieder andere denken an „nicht so erfahren“ – als hätte das karrieristisch „Junge“ noch nicht genügend Lebenszeit gehabt, alle wichtigen (alten) Bücher zu lesen. Auf der einen Seite wünscht man sich Stars und das Altbewährte. Auf der anderen ist „jung“ aber genau das, was die Kulturbranche braucht – mit Formaten für Kinder und Jugendliche oder auch experimentellen Publikumssituationen. Manchmal ist „jung“ also mit einem gleichgültigen Mundzucken versehen und manchmal mit strahlenden, faszinierten Funken in den Augen.

Die Regisseurin Ilaria Lanzino ist „jung“. Weil sie 30 Jahre alt ist, weil sie in mancher Hinsicht Regie-Debütantin ist, aber auch weil sie spritzig und agil auftritt. Dass das irgendwann irrelevant wird, erlebe ich Ende Oktober 2020 bei einer Probe zu Manuel de Fallas Stück „Meister Pedros Puppenspiel“ an der Deutschen Oper am Rhein. Hier passieren oft viele Dinge gleichzeitig: Gerade spielt die Regisseurin, über eine Breite von sechs Opernsitzen hinweg, einem Darsteller auf der Bühne eine Geste vor. „Grööößer!“ ruft sie dabei über den halben Zuschauerraum. Während daraufhin wieder die Probenmusik erklingt, wendet sie sich, mit einer Stimme in Zimmertemperatur, an ihre Puppentheaterregisseure, spricht leise zu ihren Regieassistenten, was gleich an der Szene verändert werden muss, und sprintet dann, von jetzt auf gleich, doch auf die Bühne, um mit dem Darsteller die gerade geprobte Szene zu reflektieren. Ich habe schon lange keine Regieführenden mehr rennen sehen. Aber das ist Lanzino, die eher über die Sitzreihen springen würde, als langsam und gemütlich den ordentlichen Weg über den Bühnenzugang zu wählen oder gar jemand anderes zu schicken. Bei dieser Power fragen sich die Probenden an diesem Tag nicht, wofür das Stück jetzt eigentlich „tipptopp“ gemacht wird, so der Anspruch der Regisseurin, obwohl die Premiere im November 2020 vorerst entfallen muss.

Kampf gegen Windmühlen: Manuel de Fallas „Meister Pedros Puppenspiel“ harrt Corona-bedingt weiter seiner Premiere (Foto Jochen Quast)

„Allora!“

Es ist nicht die einzige Corona-bedingte Extremsituation für Ilaria Lanzino in dieser Spielzeit. Die letzte ging allerdings ein wenig besser für die Regisseurin aus. Ihre Inszenierung von Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ erwuchs (durch die Verschiebungen aufgrund der ersten Bühnenschließungen) von einem Doppelabend in dem Format „Young Directors“ der Deutschen Oper am Rhein nicht nur zur alleinig abendfüllenden Oper, sondern auch zur Eröffnung einer Spielzeit, auf die viele Opernliebhaber so sehnsüchtig gewartet hatten.

Auf die Frage nach ihrem Inszenierungsstil ruft sie „Allora!“, hüpft auf ihrem Stuhl in eine aufrechte Haltung und rückt sich selbst in eine erklärende Rolle, in der sie viel, aber elegant gestikuliert. Nachdem sie zufällig bei Spotify, wo sie oft nach neuem Repertoire stöbert, auf den „Kaiser von Atlantis“ stieß, musste sie sich eingestehen: „Das Stück ist besser als ich und alles, was ich daraus machen könnte.“ Was für sie heißt, es nicht aus einer arroganten Erhabenheit zwanghaft umzuinterpretieren. Bei anderen Stücken ist das ganz anders, „da muss ich das richtig knallhart neu interpretieren, weil sie Werte vertreten, die ich nicht im Geringsten teile“. So beispielsweise bei der Oper „Straszny Dwór“ („Das Gespensterschloss“) von Stanisław Moniuszko, dem Werk, mit dem sie 2020 den renommierten 11. Europäischen Opernregie-Preis (EOP) gewann. Dieses Stück aus dem 19. Jahrhundert vertritt Werte, die man heute als „männlich-chauvinistisch“ bezeichnen würde. Um sich zu distanzieren, wird Lanzino Symbole des polnischen Feminismus und Drag Queens auf die Bühne stellen, flüstert sie mir zu. Und ja, die Inszenierung soll bald auch in Polen, in Poznań, auf die Bühne kommen – dem Land, das gerade seine LGBT-ideologiefreien Zonen verteidigt hat.

Wer also einen kleinsten gemeinsamen Nenner in den Inszenierungen von Ilaria Lanzino zu finden sucht, die sich von Kinderoper über Uraufführungen hin zu großer und schwergewichtiger Oper erstrecken, der entdeckt ihn in der Spielfreude der Darstellerinnen und Darsteller ihrer Produktionen. Das ist kein Zustand, in dem es darum geht, wie viel Spaß von der Bühne strömt, und auch keiner, der die Motivationsfähigkeit der Regisseurin ausdrückt. Nein, die Sängerinnen und Sänger in den Produktionen von Lanzino schauspielern unglaublich gut! Eine Aussage, die in Bezug auf Oper nicht immer fällt.

Probenabhängig

„Ich gebe im Wort ‚Musiktheater‘ der Musik nicht automatisch die höhere Bedeutung. Die Musik darf natürlich nicht kaputtgemacht werden und es muss im Spielen auch eine Temperaturbalance geben. Aber es ist trotzdem das Wichtigste, dass die Szene lebendig ist“, beteuert die Regisseurin. Sogar im Gespräch hat sie eine derartige Ausdrucksstärke, dass man manchmal vergisst, in der Opernkantine und nicht auf der Bühne zu sitzen. An erster Stelle steht für Ilaria Lanzino, den Singenden ihre Charaktere „sehr sehr“ bewusst zu machen und gemeinsam die kleinsten Gesten, genauesten Gesichtsausdrücke und sogar Hand- oder Fußstellungen zu spitzen. Etwas, was sie nicht nur zuhause in ihrem Regiebuch plant, sondern gemeinsam vor Ort erarbeitet. Manchmal auch mit viel Mühe, weil das Schauspiel kein so großer Teil des Bildungsbetriebs sei, „der sehr auf Stimmenpornographie fokussiert ist“, kritisiert sie mit dem Begriff von Regisseur Peter Konwitschny, der den Fokus auf rein klangliche Befriedigung anprangert.

Müde ist Ilaria Lanzino bei diesen intensiven Proben aber nie. Sie hat nicht einmal einen Hauch von Augenringen, obwohl sie in der letzten Zeit drei Dienste gemacht hat, um die zwei Besetzungen für „Meister Pedros Puppenspiel“ einzustudieren und das Wort Urlaub eigentlich nicht kenne, wie sie sagt. „Ich bin probenabhängig“, beschreibt sie den rauschartigen Zustand, den die Bühne in ihr auslöst. „Die Proben sind wie eine Droge für mich.“ Und wenn sie einmal nicht arbeitet? „Eigentlich tue ich nur so, als würde ich nicht arbeiten“, lacht sie. „Ich gehe dann ins Kino, ins Theater oder schaue zuhause einen Film und lasse mich inspirieren.“  Die Regisseurin zwinkert, während sie gefüllt von Spannung über ihr arbeitsdurchzogenes Leben schwärmt, das ihr die größte Inspirationsquelle ist: „Du musst leben, um auch lebendige Menschen zu inszenieren.“

Auf der Probebühne (Foto Michal Leskiewicz)

Von wiehernden Pferden zur Regie

Dass die Sängerinnen und Sänger ihr vertrauen und sich, gerade im Spielen, über ihre eigenen Grenzen pushen lassen, liegt daran, dass Lanzino weiß, wovon sie spricht. Sie hat nämlich selbst Gesang studiert. Ein Bachelor und ein Master, das passiert nicht aus Versehen. Heute lacht sie darüber, dass es eher Glück war, bereits mit 16 und noch während der Highschool am Provinzkonservatorium in Lucca angenommen zu werden; bei Giovanni Dagnino, einem Lehrer, der seine Studierenden gerne mit besonders viel unterschiedlichem Repertoire beschäftigt. Die Regisseurin, die so aufs Schauspielern setzt, nimmt auch in unserem Gespräch immer wieder verschiedene Rollen ein und spielt mir die Szene ihrer Aufnahmeprüfung vor: „Beim Vorsingen muss der einzige Bewerber neben mir ein wieherndes Pferd gegeben haben. ‚Singen Sie bitte!‘ – ‚Hüüüüooopffff.‘ – ‚Vielen Dank, der Nächste!‘ Und dann komme ich und singe halb schief eine Aria antica. Sie fragten sich wohl: ‚Nehmen wir das wiehernde Pferd oder das halbtalentierte Mädchen? Na gut, dann eben das Mädchen. ‘“

„Das Gesangsstudium war sehr leidenschaftlich, ich habe oft die Highschool geschwänzt, um ins Konservatorium zu gehen“, schmunzelt sie in sich hinein. Aber nach einer Hospitanz bei Benedikt von Peters „Aida“ in Berlin habe sie sich dann für die Regie entschieden. Bis dahin wollte sie für ein weiteres Gesangsstudium nach Köln, aber das Singen sei immer mehr ein „Schauen wir mal, wie es kommt“ gewesen. Als sie das realisierte, sattelte sie um – auf das Metier, in dem sie sich tatsächlich durch die „bigger vision“ der Oper wühlen kann und nicht nur eine Partie lernt und nicht weiß, was im zweiten Akt passiert. „Jetzt springe ich nicht ab, die Regie ist mein Traumjob und mein Leben. Aber das Singen hilft mir trotzdem sehr sehr bei meiner Arbeit, weil ich konkrete Lösungen aus dieser Erfahrung einbringen kann. Beispielsweise, an welchen Stellen die Singenden atmen können, damit sie meine Ideen realisieren.“

Die Frage, ob es bei der ganzen Liebe zum Schauspiel dann nicht viel eher das Sprechtheater ihr Metier gewesen wäre, braucht man daraufhin auch nicht mehr zu stellen. Denn es war immer die Musik, seitdem sie mit acht Jahren das erste Mal Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ auf der Anlage ihrer Mutter gehört und sich dann durch die Kirchenmusik und Mozarts „Requiem“ unwiderruflich in die Welt der Musik verliebt hatte.

Sensibles Gespür für bildstarke und vielschichtige Deutungen: Szene aus Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ (Foto Hans Jörg Michel)

„Sehr sehr“

Ist Ilaria Lanzino jetzt jung oder etabliert? Wie ist sie im Vergleich zu den „gräulichen Urgesteinen“ zu positionieren? Ehrlich gesagt gibt es so viele Dinge, die sie besser beschreiben, als sie als „jung“ zu charakterisieren, was auch immer das heißen mag. Vielleicht sollten wir das Wort, bei dem sich sowieso jeder und jede für eine eigene Interpretation entscheiden kann, beiseitelegen und stattdessen sagen: Ilaria Lanzino ist energiegeladen, temperamentvoll, fantasiesprudelnd, hemmungslos. Und was sie noch charakterisiert, ist ihre große liebevolle und respektvolle Geste gegenüber der Bühne, der Oper und der Regie. Auch dass sie jede Kollegin und jeden Kollegen beim Namen nennt oder dass sie immer „sehr sehr“ sagt, um einen Umstand zu verdeutlichen, denn die einfache Form reicht einfach nicht.

„Sie singt und spricht und tanzt mit einer Freude, Hingabe und ganzen Körperlichkeit, dass man nur staunt – und das alles unterfüttert mit fachlicher Kompetenz“, erkennt Regisseur Axel Köhler bereits in ihrer Zeit als Regieassistentin seiner „Fledermaus“-Produktion an der Deutschen Oper am Rhein. Charakteristika, die sie auch heute noch auszeichnen.

„I’m here to watch your art!“, ruft Tenor David Fischer von der Bühne, um zu erklären, warum er da ist, obwohl seine Szene gar nicht mehr geprobt wird. „Love you!“, ruft Lanzino zurück. Ob es nun ihr großartiger „Kaiser von Atlantis“ ist, die Corona-bedingt verschobene Produktion von „Meister Pedros Puppenspiel“ oder ihr „Gespensterschloss“, das nach Polen auch in Wiesbaden zur Aufführung kommen soll: We should be there to watch her art!

Aufruf zum Diskurs

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Wir müssen reden. Darüber, wie man heute Opern umsetzt, deren Geschichten eine nicht-westliche Welt „verlangen“, deren Hauptcharaktere Menschen marginalisierter Gruppen „sein sollen“ und bei denen die hiesige Opernwelt versucht ist, in exotische Klischees zu stürzen. Wir müssen reden über „Carmen“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Otello“ und „Aida“, denn sie alle haben gemein, dass wir besonders als weiße Personen nicht mehr unkommentiert über ihre Problemzonen hinwegsehen dürfen. Darüber, dass die Kunstform der Oper einst ein starkes Mittel war, „das Andere“ und „das Exotische“ zu entwerfen, um den Kolonialismus zu legitimieren. Wir müssen darüber reden, wie Blackfacing an mancher Stelle als Werktreue und nicht als rassistische Geste gelesen wird. Die „Aida“-Inszenierung von Regisseurin Lotte de Beer an der Opéra national de Paris trägt den Aufruf zum Diskurs über genau diese Themen in jeder Szene mit sich.

De Beers Prämisse, Aida nicht von einer weißen Sängerin spielen zu lassen, sondern sie mit einer Puppe zu doubeln, ist ein genialer Spiegel für die Problematiken von Verdis Oper. Dieses Vorgehen übersieht nicht, dass die Rolle eine Äthiopierin „sein soll“, vermeidet aber, eine weiße Sängerin wortwörtlich in „Aidas Haut“ zu stecken, die sie allerdings jederzeit wieder ablegen könnte (eines der großen Probleme des Blackfacings). Damit die Gestalt der Puppe nicht exotischen Stereotypen zum Opfer fällt, wurde die simbabwische Künstlerin Virginia Chihota, wohnhaft in Äthiopien, beauftragt, die Vorlage zu der Puppe von Aida zu gestalten. Zusätzlich erscheint ihre düsterbunte Kunst, die sich mit dem marginalisierten schwarzen weiblichen Körper beschäftigt, immer wieder prominent auf der Bühne von Christof Hetzer.

Konzeptuell ist die Pariser „Aida“ eine werkkritische und damit sehr starke Inszenierung; leider ist ihre Umsetzung nicht lupenrein. Das Puppenspiel macht Probleme, denn immer wieder rutscht der Fokus von der Aida-Puppe zurück auf ihre Sängerin. Das Spiel von Sondra Radvanovsky, die immer wieder mit der Puppe interagiert, anstatt sich in den Hintergrund einzublenden, ist nicht sehr dienlich dafür, de Beers Prämisse zu schärfen. Dagegen steht allerdings der starke Mittelteil der Inszenierung mit dem gesanglichen Höhepunkt im Duett von Aida und ihrem Vater (Ludovic Tézier) und dem Triumphmarsch, bei dem die Statisterie berühmte Gemälde imperialer Macht nachstellt, was interessante und kritische Gedanken zum Spannungsfeld von Kunst und Imperialismus birgt.

Während in dem Bühnenmuseum mit düstergrünen Räumen die Kunst des Kolonialismus und die des Nationalstolzes aufeinanderprallen und das steinige Material der Puppen (Mervyn Millar) mit den strengen Uniformen der Ägypter schmackhaft konterkarieren (Kostüme: Jorine van Beek), ist der Abend auch musikalisch ziemlich voluminös. Jonas Kaufmann feuert seinen Radamès mit altvertrauter Kehligkeit in dramatische Höhen, Sondra Radvanovsky interpretiert die extremen Spitzen der Aida mit dünner Kopfstimme (was theatralisch, aber wirklich gut wirkt) und Ksenia Dudnikovas Amneris strahlt golden. Im leeren Theater beklatscht das Orchester sich selbst und ihren Dirigenten Michele Mariotti – nicht einmal geraten ihm der Graben und die Bühne musikalisch auseinander. Gemeinsam polieren sie den Abend auf den klassischen „Aida“-Hochglanz.

Maike Graf

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Die Inszenierung ist als Stream bis 20. August 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

Next Level Regietheater

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Luigi Rossi wiederzuentdecken, ist ja gerade der Trendsport in der Klassikszene. Erst kürzlich hat Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und in ziemlich prominenter Besetzung zahlreiche Rossi-Arien und -Duette ersteingespielt. Während sie sich noch penibel in historischer Aufführungspraxis versenkte, setzt die Opéra de Dijon lieber auf absolute Modernisierung. Die Oper „Il palazzo incantato“, 1642 im Barberini-Auftrag und in außergewöhnlich großer Besetzung komponiert, erhält nun die wohl größte Bühne derzeit: Die Plattform OperaVision streamt die publikumslose Aufführung für zwei Monate. Die Partitur soll dafür radikal reduziert worden sein (Leonardo García Alarcón), die Szene wiederum maximal erweitert (Fabrice Murgia), sei es durch moderne Charaktere, Kostüme, die aus den Läden von heute geklaubt sein könnten (Clara Peluffo Valentini), und natürlich: viel Hightech-Videoprojektion.

Das Schloss des Magiers Atlante hat die Kraft, allen seinen Besuchern den Kopf zu verdrehen, und er nutzt das, um diese Menschen seiner Macht zu unterwerfen. So simpel, so gut. Aber die Handlung mit ihren 33 Charakteren, die wiederum Kostüme wechseln, dann aber doch zeitweise von den gleichen Sängerinnen und Sängern verkörpert werden und in zahlreichen Räumen sowie Welten und szenischen Randepisoden auftreten, ist derartig schwer zu verstehen, dass die Rezensentin schlussendlich resümiert: Es geht gar nicht um die Handlung. Es muss um die Emotionen gehen. Und die transportiert diese Inszenierung wiederum absolut nachvollziehbar. Unbändige Liebe, absoluter Wahnsinn, tiefste Verzweiflung und düstere Depression werden von Videokameras eingefangen, die auf der unteren Bühnenhälfte herumgetragen werden und Close-ups auf die Leinwand darüber übertragen (was ziemlich genauso aussieht wie bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth). Das passiert hier mit derart kinematographischem und bildästhetischem Bewusstsein, dass man zeitweise vergisst, eine Oper und nicht eine Serie zu streamen. So zumindest im ersten Akt. Später gibt es noch dunkelstes, Verlies-artiges und grellstes himmlisch-magisches Bühnenbild (Vincent Lemaire). Dieses außergewöhnlich intensive Regietheater ist schon sehr beeindruckend.

Aus den Stimmen des Ensembles erleben wir, wie unterschiedlich brennende Herzen klingen können. Auch wenn wirklich der Großteil der Besetzung mit der barocken Klangsprache umgeht, als hätten sie nie etwas anderes gesungen (besonders eindrucksvoll Mariana Flores u.a. als Magique und Arianna Vendittelli, die ihre Koloraturen mal eben im Liegen meistert!), ist gerade die Addition von italienischem Pathos und moderner Exklamation bereichernd (sehr genossen bei Victor Sicard). Den ganzen Abend überstrahlt allerdings Mark Milhofer mit seiner Interpretation des Atlante. Seine Partie ist schon kompositorisch herrlich, aber er gestaltet sie auch noch mit kilometerweitem tonalen wie emotionalen Ambitus und einer Stimme, die in keiner Lage ihre Reichhaltigkeit verliert. Man kommt wohl in Dijons „Verzauberten Palast“, weil die Inszenierung einem die Abbildung des wirklich echten Lebens verspricht. Aber man bleibt für die Momente der Musik, in denen Rossis Händchen für Mehrstimmigkeit glänzt – poliert von Dirigent Alarcón, der seine Cappella Mediterranea und die Bühne absolut exakt zusammenhält.

Maike Graf

„Il palazzo incantato“ („Der verzauberte Palast“) (1642) // Azione in musica von Luigi Rossi

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 29. März 2021 kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.