Registrierung
Schlagwort

Musicalkritik

Wahlkampf in Neukölln

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Es ist Wahljahr. In der Provinzstadt Hohenpfaffenberg-Siegertsbrunn kämpfen die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die Rechte Alina Deutschmann um das Bürgermeisterinnen-Amt. Zimperlich geht es da nicht zu, auch für kriminelle Aktionen sind sich die beiden nicht zu schade. Und die halbwüchsigen Töchter samt Anhang müssen mitmachen. Am Ende gewinnt eine Dritte, die strategisch gewiefte Wahlmanagerin von Alina. So in etwa könnte es sich demnächst in der Realität abspielen, wohl aber nicht ganz so überspitzt wie in Peter Lunds neuestem Musical „Eine Stimme für Deutschland“. Denn da entpuppt sich Alina als Exmann von Regula, dessen Neigung zum Tragen von Frauenkleidern ein Trennungsgrund war. Und das Happy End? Neues Familienglück zu viert statt Partei-Karriere.

Die jüngste Koproduktion zwischen dem Studiengang Musical/Show der UdK und der Neuköllner Oper Berlin, wo die überspitzte Farce Premiere feierte, strotzt vor politischer und gesellschaftlicher Aktualität, angereichert mit Diversität jeglicher Art, Identitätsfindung, sexueller Orientierung, Gendern und allem, was momentan so modisch ist. Mit leichter Hand, Biss und viel Witz fügt Lund alle Stränge zusammen und schafft zudem Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Jede und jeder kriegt ihr Fett weg, es gibt weder nur gute noch rein böse Charaktere.

In der schnell wandelbaren Kulisse von Ulrike Reinhard, die auch die Kostüme entworfen hat, setzt Lund als eigener Regisseur auf Tempo und genaues Timing. Joel Zupan präsentiert Alina als imposante deutsche Diva mit blondem Haarkranz. Hochgewachsen, kerzengerade beherrscht er die Bühne, ob in glamouröser Goldrobe oder im schicken Schwarzen. Als Gegenpol zu diesem Überweib zeigt Veronika de Vries als Regula die Seiten einer überforderten und gleichzeitig verbissenen Konkurrentin. Ihre Töchter, verkörpert von Mascha Volmershausen und Maria Joachimstaller, sind Energiebündel, die die männlichen Teenager mit ihrer geballten Mädchenpower in Schach halten. Soufjan Ibrahim als Gutmensch Albert und Fabian Sedlmeir als Adolf erspielen sich mit ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit viele Sympathien. Clarissa Gundlach als taffe Wahlmanagerin und Gwen Johansson als verletzliche lesbische Freundin Anuk komplettieren das Ensemble, das toll spielt, singt und auch in den von Cristina Perera choreografierten Tanzeinlagen überzeugt.

Große Themen brauchen große Musik. Die hat Thomas Zaufke komponiert: Seine melodisch eingängigen, effektvollen Songs, teils mit Bezug auf Klassiker von Bach bis Beethoven und bekannte Musicalvorgänger, sind eingebettet in einen Sound, der durch Synthesizer-Verstärkung Orchesterfülle imaginiert. Die kleine Band, von Hans-Peter Kirchberg souverän geleitet, hat hörbar ihr Vergnügen daran. „Entschuldige“ heißt ein Song, der das Wort als inflationäre Floskel entlarvt. Doch für das Musical braucht sich das Team nicht zu entschuldigen. Es ist beste Unterhaltung am Puls der Zeit.

Karin Coper

„Eine Stimme für Deutschland. Die musikalische Quittung“ (2021) // Musical von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text)

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Um Himmels willen

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

Nein, es müssen weder Mahalia Jackson oder Aretha Franklin aus dem Gospelhimmel herabsteigen noch Whoopi Goldberg „Sister Act“ wiederbeleben. Im Stream des Gärtnerplatztheaters erwies es sich jetzt nämlich als höchst unterhaltsam, gleichsam die Mütter dieser „sisters“ zu erleben. Dan Goggin hat viele Einzelideen und Songs 1985 zu einem Broadway-Revuetheater zusammengefügt, aus dem ein jahrelanger Dauerbrenner wurde und der dann letztlich den Filmhit anschob. „Dies Wort in Gottes Ohr: Nonnen haben auch Humor!“, lautet der Grundtenor – äääh, -sopran. Den müssen sie „herauslassen“, denn eine Schwester hat mit ihrer Bouillabaisse fast das ganze Kloster vergiftet. Es war eben nicht mehr das „jüngste“ Gericht … Vier tote Schwestern lagern nun in der Kühltruhe, weil das Geld für die Beerdigung nicht reicht – eine Benefizveranstaltung soll es richten.

Dafür haben „Vestiarischwester“ Judith Leikauf und „Klosterbaumeister“ Karl Fehringer einen hybriden Barockaltar auf die Bühne gestellt. Doch Amoretten sind schon nackte, halb mit Tüchern bedeckte Showgirls. Oben auf der Empore hat ein fünfköpfiger „Hortus musicus“ in Nonnentracht Platz genommen, angeführt von „Klosterkantor“ Andreas Partilla – und die lassen allerlei irdisch-fetzige Klangwölkchen sich auftürmen, dann auch die Sinne umsäuseln und die Füße mitwippen. Der Tabernakel ist ein von bunten Lämpchen umrahmtes Zirkus-Entrée, aus dem erstaunliche „Wunder“ auftreten, denn auch die Altarbilder links und rechts sind wundersam drehbar und wechseln von Heiligenbildchen zum muskulösen Bodybuilder Steve Reeves. Dass Farblichter-Ketten auch die Proszeniumslogen verdecken, signalisiert schon „Buntes“ …

Das folgt dann auch für zwei Stunden vom „Theatralischen Liturgen“ Josef E. Köpplinger, der die laienhafte Selbstdarstellungslust der fünf übrig gebliebenen Nonnen, ihre verborgenen Talente, aber auch Eifersüchteleien mal nuancenreich, mal deftig inszeniert. Dass die reife Oberin Regina (Dagmar Hellberg) und ihre Vize Maria Hubert (Tracey Adele Cooper) locker mithalten, wenn die jüngeren Schwestern Robert Anne, Maria Amnesia und Maria Leo eine gekonnt kleine Steppnummer hinlegen, ist dem natürlich „sittsamen“ Training von Ricarda Regina Ludigkeit zu verdanken, die auch die sonstigen Tanztalente der be-rock!-ten Schwestern amüsant entwickelt hat. Über alle mal herrlich schräg-unbedarfte, mal sehnsüchtig tiefverborgene, jetzt losbrechende „Showstar“-Anbetung hinter Klostermauern sind die komödiantischen Talente der „Schwestern“ Florine Schnitzel, Julia Sturzlbaum und Frances Lucey zu bestaunen. Ein Wirbel von „Elvis lebt“ über „Die sterbende Nonne“ zu „Wege zur unbefleckten Empfängnis“ und Zarah Leanders „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ samt Koloraturbrillanz – dafür kein „Pinguin“-Nonnenwitz, aber von „Winnetous Schwester“ über „Heidi“ zu „Sternenkrieg-Prinzessin Leia“ und „Jurassic Park“ viel Wortwitziges (Textbearbeitung ebenfalls „Liturg“ Köpplinger). Die finanzielle Rettung am Ende kommt nicht vom Filmprojekt „Nonnendämmerung“, nicht vom Schwestern-Kochbuch „BJM-Backen mit Jungfrau Maria“ samt Rezepten für „Sauce Catholique“, „Schlesisches Himmelreich“, „Rostbratwurst Hlg. Johanna“ und Nachspeise „Judasküsschen“, sondern von – nein, das sei noch nicht verraten! Diese Nonnen bieten allerlei reizend-weibliche Überraschungen, die das hoffentlich kommende „volle Haus“ toben lassen wird. Der theatralisch-heilige Geist war mit Euch!

Wolf-Dieter Peter

„Nunsense“ („Non(n)sense“) (1985) // Musical Comedy von Dan Goggin

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 3. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

Gegen den Strom schwimmen

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Mit seiner Musical-Sparte hat das Landestheater Linz keineswegs nur seine hauseigene Cashcow, die massentaugliche Unterhaltung produziert. Der künstlerische Leiter Matthias Davids hat das Repertoire von Anfang an immer wieder auch mit interessanten Ur- und Erstaufführungen aufgewertet, um so die komplette Bandbreite des Genres abzubilden. Jüngster Streich ist die Weltpremiere von „The Wave“ aus der Feder von Or Matias, der sich dafür von Morton Rhues gleichnamigem Roman inspirieren ließ – einem Klassiker der Schullektüre, der seit seiner Veröffentlichung 1981 leider wenig an Aktualität eingebüßt hat.

Im Zentrum: das Sozialexperiment eines amerikanischen Geschichtslehrers, der seine Schulklasse am eigenen Leib spüren lässt, dass eine scheinbar positive Gruppendynamik schnell ins Negative kippen kann. Und wie leicht faschistische Tendenzen auf fruchtbaren Boden fallen. All die missverstandenen und ausgegrenzten Teens in seiner Klasse finden in der von ihm gegründeten Bewegung „Die Welle“ zunächst ein neues Gemeinschaftsgefühl. „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ Es dauert jedoch nicht lange, bis die Gleichschaltung zur Ausgrenzung und letzten Endes zur offenen Gewalt führt. Eine Erkenntnis, die sich für den Lehrer Ron Jones mindestens so erschütternd offenbart wie für seine Klasse.

Passend zur Geschichte setzt die von jazzigen Anklängen durchzogene Partitur weniger auf den großen Effekt und mehr auf die ruhigen Töne, mit denen Matias in die Seelen seiner Figuren blicken lässt. Wenn auch nicht immer ganz frei von Klischees, die von Übersetzerin Jana Mischke ebenso kräftig bedient werden. Denn natürlich gibt es auch hier die üblichen Verdächtigen wie die Streberin, den Sportler oder den gedichteschreibenden Außenseiter. Anders als bei manchem 08/15-Teenie-Film sind diese Stereotypen jedoch keine Steilvorlage für flache Gags. Vielmehr zeigen sie, dass keiner von uns immun ist.

Das musikalische Spektrum ist ähnlich divers aufgestellt, vom eingängigen a-cappella-Auftakt über sanfte Balladen bis hin zu Ensembles im prägnanten Marschrhythmus. Richtige Ohrwürmer gibt es zwar nur wenige, doch stehen die Nummern stets im Dienst der Geschichte, die Christoph Drewitz im nüchternen, laborhaften Bühnenraum von Veronika Tupy sehr auf die Figuren fokussiert erzählt. Christian Fröhlich gibt den hemdsärmeligen Pädagogen mit der nötigen stimmlichen Autorität und schickt einem bei seiner Wandlung vom Kumpeltypen zum harten Anführer tatsächlich auch kleine Schauer über den Rücken. Aus der Schulklasse, die mit Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien aufgestockt wurde, sticht vor allem Hanna Kastner als Ella heraus, die als einzige den Aufstand wagt und dafür bitter bezahlt. Die anschließende Szene mit Ron und dem vom Mobbingopfer zum Fanatiker mutierten Robert (Lukas Sandmann) zählt wahrscheinlich zu den beklemmendsten Momenten dieser Show, der man nach Pandemie-Ende ein langes Bühnenleben wünscht.

Tobias Hell

„The Wave“ („Die Welle“) (Uraufführung aufgezeichnet am 5. November 2020 / Stream-Premiere am 20. März 2021) // Musical von Or Matias

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. April 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).