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Orpheus Magazin

Grüner Hügel ohne roten Teppich

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

Hohe Erwartungen nach einjähriger Stille: ein ungewöhnlicher Sommer für die Bayreuther Festspiele

von Roberto Becker

Nach einem Jahr Zwangspause ist vieles anders in ­Bayreuth: Katharina Wagner brauchte nach den ausgefallenen Festspielen des Vorjahres und wegen der pandemiebedingten Einschränkungen sicherlich jede Menge Nerven und Gelassenheit. Immerhin darf der Zuschauerraum in diesem Jahr im Schachbrettmuster zur Hälfte bevölkert werden. Genau 911 statt knapp zweitausend Besucher können das Haus mit dem „mystischen Abgrund“ besuchen.

Unzählige Tests, die Auslagerung in Zelte von allem, was nicht unbedingt im Opernhaus selbst sein muss, und eine ungewöhnliche Lösung für den Chor (eine Hälfte singt im Probensaal, die andere spielt lautlos auf Bühne) ermöglichen ein Corona-konformes Hygienekonzept. Das auf bayerische Strenge getrimmte Einlasspersonal sorgt für Sicherheit: Ohne buntes Gesundheitsbändchen und Maske kommt niemand durch. So gibt es zur Eröffnung zwar diesmal keinen roten Teppich für den Aufmarsch der Prominenten, dafür aber ein Polizeiaufgebot, das nicht nur böse Buben, sondern wohl auch gleich noch jedes einzelne Virus abschrecken soll. Dieser inszenierte Ausnahmezustand legt sich dann aber wieder.
Damit nicht genug: Günther Groissböcks Rücktritt als Wotan nach der Generalprobe (!) für die aktuelle „Walküre“ und gleich darauf auch für den kompletten neuen „Ring“ im kommenden Jahr muss in Windeseile mit Einspringer Tomasz Konieczny aus der Welt geschafft werden.

Das Publikum erlebt mit Barrie Koskys und Philippe ­Jordans „Meistersingern“ sowie Tobias Kratzers und (jetzt) Axel Kobers „Tannhäuser“ zwei bewährte Regiewürfe letztmalig beziehungsweise als erste Wiederaufnahme, die obendrein exzellent besetzt sind. Festspiel-Liebling Klaus Florian Vogt und Lise Davidsen, das Stimmwunder aus dem Norden, sind als Stolzing und ­Elisabeth nicht nur in verschiedenen Inszenierungen mit dabei, sondern stehen in der konzertanten ­„Walküre“ als überzeugendes Geschwisterpaar ­Siegmund und Sieglinde auch gemeinsam auf der Bühne.

Rausch der Farben und Drachentöten für alle

Dieser populäre „Ring“-Teil ist das Zentrum jenes besonderen Projektes der Reihe „Diskurs Bayreuth“, das unter dem Titel „Ring 20.21“ gleichsam als Platzhalter für den um zwei Jahre auf 2022 verschobenen neuen „Ring“ fungiert. Für den dafür vorgesehenen Dirigenten Pietari Inkinen ist diese „Walküre“ ein Testlauf. Man kann nur hoffen, dass er die Erfahrung nutzt, um seine Interpretation vor allem hinsichtlich innerer Spannung, Dichte und Tempo nachzubessern. So kann dann auch aus dem „Walkürenritt“ noch das mitreißende Stück Brachialmusik werden, auf das man wartet.

Es passt in die offene Dramaturgie des „Diskurs Bayreuth“, dass Katharina Wagner der musikalischen Seite eine besondere Dimension hinzufügt und dem Wiener Aktionisten-Altmeister Hermann Nitsch die Bühne für seine Farbvisionen zu Wagners Musik überlässt. Dreimal transferieren zehn Helfer, „dirigiert“ von Nitsch, die weißen Leinwände im Hintergrund und auf dem Boden zu farbiger Opulenz. Bunt jedenfalls ist es jedes Mal. Am Ende natürlich blut- beziehungsweise feuerrot. Für den Zusammenhang mit der Musik findet wohl jeder Zuschauer sein eigenes Maß.

Eine weitere Reminiszenz der bildenden Kunst ist ­Chiharu Shiotas Installation „The Thread of Fate“, die mit ihren verschlungenen Schicksalsfäden die „Götterdämmerung“ vertritt. Rotes Garn verbindet sechs gigantische Ringe als Symbol für Wagners großes Werk. Wer will, kann in den Pausen der Aufforderung des US-amerikanischen Video- und Performancekünstlers Jay Scheib „Sei Siegfried“ folgen – und an einem Stehpult mit 3D-Brille im Festspielhaus mit einem fiktiven Schwert in der Hand einen Drachen wie aus dem Märchenbuch erlegen.

Der Abschluss des Ersatz-„Rings“ zeigt, was nach der „Götterdämmerung“ bleibt: Die Uraufführung der einstündigen Auftragsoper „Immer noch Loge“ von ­Gordon Kampe findet vormittags am und im Teich des Festspielhausparks statt. Loge wird nach dem großen Weltenbrand, den die drei Rheintöchter und ebenjener Feuergott überlebt haben, von Urmutter Erda der Prozess gemacht (Libretto: Paulus Hochgatterer). Dass er am Ende mittels Sprengstoffgürtel in Flammen aufgehen soll, ist für einen Feuergott oder -teufel schon eine aparte Pointe. Daniela Köhler, Stephanie Houtzeel und Günter Haumer haben allerhand Text zu bewältigen – manchmal gibt es für eingeweihte Hörer hübsche Aha-Effekte. Puppenvirtuose Nikolaus Habjan führt Regie und setzt seine gewaltige Klappmaul-Erda in einen Rollstuhl. Die Puppen-Alter-Egos der Rheintöchter und bald auch Daniela Köhler stecken bis zum Hals in der Teichbrühe. Das alles hat Atmosphäre und passt hierher. Die Musik zwischen begleitendem Parlando und großer Geste ist weit genug von Wagner entfernt, um nicht in platte Vergleichsnähe zu geraten. Immer mal wieder aufblitzende Zitate machen richtig Spaß.

Starke Frauen und ein Kleinstadtkrimi

Eröffnet werden die Festspiele aber mit der Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“, bei der vor allem Askmik Grigorian mit ihrem Senta-Debüt überwältigt. Oksana Lyniv, die erste Frau am Bayreuther Pult, erhält einhelligen Beifall für ihren Umgang mit der Hausakustik gerade bei Wagners Frühwerk und die Überwindung pandemiebedingter Zusatzhürden: Ein stummer Chor steht auf der Bühne, der Chorgesang selbst erschallt aus Glaskästen im Probensaal.

Euphorisches Debüt: Asmik Grigorian als Senta (Foto Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath)

Bei Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov ist das Echo geteilt: In karger Kleinstadtkulisse erzählt er eine parallel verlaufende Geschichte, die dann doch nicht ganz zur Vorlage passen will. Dass der ­Holländer als Kind miterleben muss, wie seine Mutter nach einem Fehltritt (womöglich mit Daland) in den Selbstmord getrieben wird, und er nun zurückkommt, um sich zu rächen, liest sich schlüssiger, als es beim Publikum ankommt. Glaubt man dem Holländer doch, dass er bei einem gemeinsamen Abendessen an der gedeckten Tafel in Dalands und Frau Marys Wintergarten ernsthaft um Senta wirbt. Warum er am Ende wahllos in die Menge schießt, ist mit seinem Kindheitstrauma jedenfalls nicht restlos zu erklären. Und dass Frau Mary den Holländer erschießt, auch nicht.

Senta hingegen will mit jeder Faser ihres Körpers vor allem weg, ist mit jeder Geste die pure Revolte – und Grigorian dafür eine Idealbesetzung. Der Vater (Georg Zeppenfeld ist als Daland ein vokaler Fels in der Brandung) will diese Göre unter die Haube bringen. Marina Prudenskaya wertet die Figur der Frau Mary vokal und darstellerisch auf. John Lundgren scheint mit seinem Holländer jenseits des Dämonischen noch etwas zu fremdeln, liefert aber ein vokal eindrucksvolles Rollenporträt.

Fazit: Bayreuther Festspiele der besonderen Art. ­Katharina Wagner bewährt sich dabei als umsichtige und kreative Hügelchefin. Gesichert ist trotz des zweiten Corona-Sommers das längst wieder übliche musikalische Festspielniveau. Mit bewährten Künstlern – Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld, Axel ­Kober, ­Philippe Jordan und natürlich Christian Thielemann, auch wenn der „nur“ mit dem konzertanten „Parsifal“ glänzt. Mit einigen, die zum wiederholten Male Furore machen – wie Lise Davidsen, Michael Volle oder Tobias Kratzer. Aber auch mit anderen, die mit vielversprechenden Debüts aufwarten wie Asmik Gregorian und Oksana Lyniv. Mit angepasster Programmgestaltung samt Einbeziehung bildender Künstler und der Nutzung des „Diskus Bayreuth“ holen die Festspiele für die Zuschauer heraus, was in diesem Pandemie-Sommer herauszuholen ist.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

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Schrei nach Humanismus

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2021)
Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in überwältigender Intensität

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2021)
Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in überwältigender Intensität

„Diese Reflexion über die Begriffe ‚Toleranz‘ und ‚Intoleranz‘ ist vermutlich nie wichtiger gewesen als heute, als jetzt, zu dieser Stunde.“ (Markus Hinterhäuser)

Das Wagnis der Salzburger Festspiele, Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ zur Aufführung zu bringen, ist gelungen. Die Aktualität, die Heutigkeit ist erschreckend. Es ist ein Abend des Innehaltens, ein politischer Abend fernab jeder Ideologie, ein Abend der Beklemmung, ein Schrei nach Humanismus, ein festspielwürdiger Abend. Die Felsenreitschule ist ein geradezu idealer Ort für die Musik. Nono wollte einen ungewöhnlichen Raum und hat ihn hier gefunden – es entsteht ein Kosmos zwischen Fortissimo und Pianissimo, allen Ausdrucksformen der menschlichen Stimme. Mit Ingo Metzmacher ist ein genialer Interpret von Nonos Musik am Werk, er führt Orchester, Chor und Solisten scheinbar mühelos durch die Schwierigkeiten der Partitur und lässt unglaubliche musikalische Momente entstehen. Das Orchester ist im ganzen Raum platziert, rechts auf der Galerie sind Vibraphon, Harfe, Pauke und Celesta, links 12 Schlagwerke, Becken und Militärtrommel. Die Wiener Philharmoniker folgen ihm mit hörbarer Freude und unglaublicher Präzision, ohne dass die Unmittelbarkeit verloren geht. Die eigentliche Hauptrolle hat der Chor, hier die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in der Einstudierung von Huw Rhys James. Sie ist in Höchstform, während der gesamten Azione scenica auf der Bühne, in ständiger choreografierter Bewegung.

Tenor Sean Panikkar singt den Emigranten fulminant und bewältigt den musikalisch schwierigsten Part mit unzähligen hohen C’s geradezu bravourös. Er ist der Auswanderer, der sich nach seiner Heimat zurücksehnt und letztlich wie alle anderen im reißenden Strom untergehen wird. Die Frau, die mit ihm in der Emigration lebte und ihn zum Bleiben beschwört (solide gesungen von Anna Maria Chiuri), wendet sich voller Hass gegen ihn. Auf seinem Weg in die Heimat gerät der Emigrant in eine Demonstration und wird, obwohl völlig unbeteiligt, festgenommen und als einer von vielen gefoltert. Die fast 20-minütige Folterszene wird vom Chor, Performern und der Compagnie des Bhodi Projects und der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD) realistisch dargestellt. Bassbariton Musa Ngqungwana gestaltet mit großer Wortdeutlichkeit einen Gefolterten.

Die Gefolterten wenden sich ans Publikum mit der Frage: „Und ihr? Seid ihr taub? … Rüttelt Euch die Klage unserer Brüder nicht auf?“ Schwer, sich hier nicht persönlich betroffen zu fühlen. Mit dem Algerier, gesungen von Antonio Yang, gelingt dem Emigranten die Flucht aus dem Lager, die Freiheit wird zum wichtigeren Ziel als die Heimat. Die Gefährtin, perfekt gesungen und dargestellt unter totalem Körpereinsatz von Sarah Maria Sun, beschwört die Abkehr von Krieg und gibt Hoffnung. Regisseur Jan Lauwers füllt die Bühne mit permanenter Bewegung, geht mit den Folterszenen an die Grenzen. Er führt die Figur des blinden Poeten, gesprochen von Victor Lauwers, ein und verfasst ihm auch einen Text, der von allen verlacht wird. Letztlich verschlingt der Strom alle und alles. Es bleibt Brechts Schlusswort: „Gedenkt unsrer mit Nachsicht.“

Gabriela Scolik

„Intolleranza 1960“ (1961) // Azione scenica von Luigi Nono

Die Inszenierung ist bis 19. Dezember 2021 als kostenfreier Stream über ARTE concert verfügbar.

Kleine Oper ganz groß!

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2021)
Höchst relevantes Musiktheater mit der Pop-up Opera „Nau bens hald I“ über Georg Elser

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2021)
Höchst relevantes Musiktheater mit der Pop-up Opera „Nau bens hald I“ über Georg Elser

Vier Sängerdarstellerinnen und -darsteller, zwei Musiker und eine Schubkarre, ein Rathausvorplatz – kann das denn schon Oper sein? Wenn man sich die Pop-up Opera „Nau bens hald I“ – eine Auftragskomposition der Opernfestspiele Heidenheim aus dem letzten Jahr – anschaut, dann besteht daran kein Zweifel. Aufwändige Kostüme und Bühnenbilder, üppiges Orchester, ein großes Ensemble – all das braucht es für den Opern-Moment nicht (zwingend). Dem kleinen Stück Musiktheater über den ersten Hitler-Attentäter Georg „Schorsch“ Elser gelingt es, in gut zwanzig Minuten jeden Einzelnen im Publikum zu berühren, zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen, als wär’s im großen Opernhaus.

Das Stück erlebte bereits im letzten Sommer seine Uraufführung. An den damaligen Erfolg anknüpfend, aber auch durch die weiterhin anhaltende Pandemiesituation bedingt, sollte diese „Oper in drei Aufzügen“ erneut auf die Plätze und an die Menschen der Region herangetragen werden. „Pop-up“ lautet die Devise, die nicht nur in leerstehenden Gebäuden der Innenstädte zu finden ist, nein: Gerade in Zeiten „kultureller Leerstände“ ist die Idee der improvisierten Bühne, die an unterschiedliche Orte und sich stets zu den Leuten hinbewegt, eine gelungene Anwendung des „Berg und Prophet“-Prinzips in Ausnahmezeiten.

Librettist Hendrik Rupp führt uns in drei Szenen vom Attentatsjahr 1939 über die direkte Nachkriegszeit hin ins Heute und zeigt, wie unterschiedlich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung Elsers war und wie aktuell Geschichte – zumal diese, die von Zivilcourage und gesellschaftlichen Gruppenzwängen handelt – noch heute ist. In ostschwäbischer Mundart geschrieben, wird die Elser-Geschichte präsentiert als Stück regionaler Identität.

Das kleine Werk will nicht nur eine genuine Oper sein – es schafft das auch. Vor allem überzeugt die Reduktion auf das Wesentliche, die „Nau bens hald I“ zur Elser-Oper „in a nutshell“ macht: zwei Instrumente (Akkordeon, Schlagzeug) und zwei Personengruppen (Georg Elser und ein kleiner Chor, oder besser: Korps), mehr braucht der Komponist Sebastian Schwab für die Charakterzeichnung und Handlungslenkung seiner Figuren nicht. Schlagzeug und Chor bilden unüberhörbar eine Einheit: Der militante Trommelwirbel gibt den drei Jugendlichen den (Marsch-)Takt an. Georg Elser hingegen – hervorragend vom eingesprungenen Gerrit Illenberger verkörpert und im Übrigen der einzige Darsteller, der im klassischen Sinne „singt“ – findet sein Pendant im harmoniesuchenden Akkordeon. Die klare Regie von Lisa-Marie Krauß führt Wort, Musik, Szene und Sinn zusammen und schafft so in jeder Szene aufs Neue veritable Opernbühnen-Momente.

Das simple Prinzip „Pop-up“ mit einem anspruchsvollen Thema zu verknüpfen, das ist den Opernfestspielen Heidenheim hier zweifellos gelungen. Die Entscheidung, keinen Unterhaltungsstoff für dieses Format zu wählen, sondern ein gewichtiges Kapitel regionaler Geschichte, zeugt einmal mehr davon, dass dieses Festival seinen gesellschaftlichen Auftrag wahrnimmt und aufs Beste umsetzt. Hoffentlich bleibt diese Art von Oper auch in Post-Corona-Zeiten erhalten – sie ist ein wahrer Gewinn!

Dr. Dimitra Will

„Nau bens hald I“ (2020) // Pop-up Opera von Sebastian Schwab (Komposition) und Hendrik Rupp (Libretto)

Kultur bei Würth

… und ein Abend mit Juan Diego Floréz

… und ein Abend mit Juan Diego Floréz

von Iris Steiner

Seit 2017 gibt es die auf Initiative des Unternehmers Reinhold Würth ins Leben gerufenen Würth Philharmoniker – ein Orchester, das unter der Leitung seines Chefdirigenten, Celibidache-Schüler Claudio Vandelli, bereits mit zahlreichen internationalen Stars zusammenarbeitete. Neben einer Kunstsammlung von Weltrang verfügt der kleine schwäbische Firmenstandort Künzelsau jetzt also auch über einen äußerst veritablen Klangkörper, eine Veranstaltungshalle mit 2.500 sowie einen Kammermusiksaal mit 600 Plätzen. „Kultur und Gemeinschaft als integralen Bestandteil des Firmenlebens im Herzen des Unternehmens verankern“, beschreibt Stararchitekt David Chipperfield die Vision des 86-jährigen Würth, der inmitten unverstellter Hohenloher Landschaft in direkter Umgebung zur Firmenzentrale ein modernes, 2017 eröffnetes „Begegnungszentrum“ baute.

Gleich der Auftakt zur äußerst hochkarätigen Kunstsaison 2021/22 – in schwäbischer Bescheidenheit lediglich überschrieben mit „Kultur bei Würth“ – erweist sich weitaus weniger bescheiden. In direkter Umgebung zu Kunstgegenständen von Weltrang nicht ganz unerwartet, titelt ein geschmackvoll gestaltetes, umfangreiches (!) Programmheft mit „Sommerzeit!“ und lädt zum Arienabend mit Startenor Juan Diego Flórez samt großem Orchester. Pandemiebedingt nur vor kleinem Publikum, fühlt sich dieser launige Abend mit von allen Plätzen unverstellter Sicht auf den Opernstar beinahe an wie ein exklusives Kammerkonzert. Die Programmauswahl zwischen Best-of-Rossini und -Lehár tut ihr Übriges, um das Livemusik-entwöhnte Publikum zu Beifallsstürmen hinzureißen. Eine sehr charmante Zugaben-Idee: südamerikanische Lieder, bei denen sich Floréz selbst nur auf der Gitarre begleitet. Nach dem Konzert: die weite Hügellandschaft beim Sonnenuntergang direkt vor dem Eingang in voller Schönheit. Na also, geht doch!

Das Carmen Würth Forum (Foto Arsart / Ufuk Arslan)

„Musik ist imstande, kulturelle, soziale und sprachliche Barrieren zu überwinden und universelle Gemeinschaften entstehen zu lassen.“ Eine Überzeugung, mit der das Unternehmerpaar Würth ihr großes Engagement nun auch für die Musik begründet. Neben dem eigenen Orchester am Standort Künzelsau verfügt die 2008 gegründete Musikstiftung noch über zwei wertvolle Violinen, die momentan als Leihgaben von den beiden Geigerinnen Veronika Eberle und Ksenia Dubrovskaya gespielt werden.

„Weitblick – Reinhold Würth und seine Kunst“ lautet der Titel eines großen Bildbandes über das direkt an die Veranstaltungsräume angegliederte Museum Würth 2. Dem ist nichts hinzuzufügen …

Zum Abheben schön

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2021)
Operettenglück mit Kálmáns „Csárdásfürstin“

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2021)
Operettenglück mit Kálmáns „Csárdásfürstin“

Führt man Emmerich Kálmáns „Csárdásfürstin“ am Ort ihrer „Geburt“ auf, liegt die Messlatte hoch. Fast unüberwindbar, wie der Standesunterschied zwischen Chansonette Sylva Varescu und ihrem geliebten Fürstensohn Edwin von und zu Lippert-Weylersheim: nämlich „so hoch wie ein ganzer Himalaya“, findet Graf Boni. In einer Villa im Bad Ischler Kurpark ging vor über 100 Jahren dieser Operettenstern auf. Und genau dort hat ihn Thomas Enzinger beim Lehár Festival einmal mehr zum Funkeln gebracht. Eine bittersüße Liebesgeschichte, am Rande der Katastrophe des Ersten Weltkrieges: der Tanz auf dem Vulkan, dem die leise Ahnung tiefer Verzweiflung innewohnt. Diese düsteren Schatten zeichnet Enzinger mittels Videoprojektionen mit originalen Dokumentarfilmen, die ein in die Inszenierung eingeführter Conférencier (Kurt Hexmann) mit dramatischer Geste zum Laufen bringt. Am Varieté-Theater „Orpheum“ ist von Weltkriegskrise jedoch nichts zu merken: Dort verliebt sich „von und zu“ Edwin in Chansonette Sylva. Eine Liebe, die nicht sein darf, finden die adelsstolzen Fürsteneltern. Für die ist Comtesse Stasi (Loes Cools) die Richtige. Damit der elterliche Wunsch in Erfüllung geht, wird ein kreativer Plan geschmiedet. Man wittert emotionales Chaos. Enzinger greift tief in die Operetten-Trickkiste, zieht souverän die richtigen Strippen, die das Publikum zum Schwärmen bringt, und entfacht damit inszenatorischen Rückenwind zur erfolgreichen Besteigung des Himalaya. Drei Stunden vergehen wie ein Wimpernschlag – verträumte Walzerseligkeit, heiße Liebesschwüre, turbulente Verwirrungen, zündende Dialoge, romantische Sehnsüchte und das Ganze im goldenen (Bühnen-)Rahmen eines in die Operetten-Ära passenden Bühnenbilds (Toto). Glanz und Glitter spiegeln auch die Kostüme wider. Sven Bindseil lässt kein Klischee aus: die Damen in edlen Kleidern, die Herren in Uniform und Frack. Was will Kálmán mehr?

Mit umwerfender Stimmbrillanz besticht Ursula Pfitzner als Sylva Varescu in schillernden Höhen. Warm und trotzdem kraftvoll gefällt Tenor Thomas Blondelle als Edwin – besonders das Schwalbenduett zum Abheben schön. Publikumsliebling aber ist Matthias Störmer als Graf Boni, der mit slapstickartigem Auftreten zum Lachen bringt und in jeder (Bühnen-)Lage, etwa tanzend, flüchtend oder liegend, bestens bei Stimme ist. Immer ein Gewinn ist auch das energievolle Spiel der Fürsteneltern (Josef Forstner und Uschi Plautz), wie auch Kurt Schreibmayer als Feri, ein äußerst sympathischer Kumpel Edwins. Laszlo Gyüker dirigiert Kálmáns dichtes Orchesterwerk mit sensiblem, aber flottem Taktstock und beflügelt das Franz Lehár-Orchester zur Bestleistung. Zwischen feurigem Csárdás und leidenschaftlichen Melodien in makellosem Gesang wachsen Glücksgefühle. Aufwertendes Sahnehäubchen im Operettenhimmel ist Evamaria Mayers Tanzchoreografie – grandiose Tänzerinnen und Tänzer begeistern csárdásierend, walzernd und schaffen im Grand jeté einen aufregenden Mix aus anderen Tanzstilen. Bravo – die „Csárdásfürstin“ lebt!

Kirsten Benekam

„Die Csárdásfürstin“ (1915) // Operette von Emmerich Kálmán

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Festivals

Weniger ist diesmal mehr

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Wer bei der aktuellen Neuproduktion von Intendant Ludwig Baumann auf den gewohnten inszenatorischen Überraschungseffekt wartet, wird zunächst ein wenig enttäuscht: Betont traditionell in Bühnenbild und Erzählweise kommt diese „Madama Butterfly“ daher – eine japanisch anmutende Papier-Hausfront vor zartrosa Hintergrund, lediglich bewegliche Schiebetüren geben dem „drinnen“ und „draußen“ der Handlung etwas Struktur. Manchmal dienen Lichteffekte und Schattenspiele zur Darstellung dessen, was parallel zur Handlung im Vordergrund dahinter „im Haus“ passiert. Wären da nicht die ausnahmslos prächtigen Kostüme und Masken – sogar der Chor trägt echte japanische Kimonos – gäbe es auf dieser Bühne nicht sehr viel zu sehen. Aber halt: Das Ganze mündet keineswegs in einem langweiligen Opernabend. Ganz im Gegenteil wirkt sich die Reduktion des Optischen wie ein Brennglas auf die akustische Melodramatik von Puccinis Musik aus. Erstaunlicherweise taugt gerade diese Art der Inszenierung hervorragend zum Beweis des dramatischen „Overloads“, den Puccinis Oper zu bieten hat – für ein emotional ausgehungertes Post-Corona-Publikum fast schon zu viel des Guten.

Dass die Idee gar so gut aufgeht, liegt an der herausragenden musikalischen Qualität – unabdingbar für ein solch puristisches Konzept. Allen voran Yana Kleyn, die Interpretin der Cio-Cio-San, der man darstellerisch wirklich alles abnimmt. Vom 15-jährigen Mädchen zur amerikanisch gewandeten „Mrs. Pinkerton“ und einer gebrochenen Madama Butterfly am Ende des Stücks beherrscht die junge Russin die Darstellung der verschiedenen Facetten ihrer Figur meisterhaft. Dazu macht sie mit einer überragenden Gesangsleistung dem Anspruch der Titelprotagonistin alle Ehre – und die Aufführung fast zur „One-Woman-Show“. Jenish Ysmanov ist ihr als Pinkerton mit vor allem in den Höhen strahlendem Schmelz ein ebenbürtiger Partner (keine einfache Aufgabe in diesem Fall). Ksenia Leonidova singt und spielt ihre Suzuki ausdrucksstark und überzeugend, Sergeij Kostov ist ein wunderbar-schmieriger Heiratsvermittler Goro mit auffällig schönem Tenortimbre. Lediglich der Sharpless von Ian Burns kann stimmlich mit dem sehr hohen Niveau nicht ganz mithalten, sein schauspielerisches Talent macht die kleinen Abstriche aber wieder wett. Sämtliche kleinere Solopartien komplettieren das Solistenensemble zu einer runden Gesamtleistung. Wie immer eine „feste Bank“ ist auch hier der Festivalchor Immling (Einstudierung Cornelia von Kerssenbrock), traditionell vorwiegend ein Laienchor mit erstaunlichem Leistungsvermögen und trotz pandemiebedingter Probeneinschränkungen voll spürbarer Begeisterung für die Sache. Die zweite Krone dieses Abends gebührt neben der Sängerin der Titelpartie allerdings eindeutig dem mitreißend spielenden Festivalorchester Immling, das unter der Leitung von Cornelia von Kerssenbrock diesen Puccini zu dem macht, was er ist: zweieinhalb Stunden italienisch-dramatische Sommerfestival-Oper at its best!

Iris Steiner

„Madama Butterfly“ (1904) // Tragedia giapponese von Giacomo Puccini

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Festivals

Schäferstündchen mit Happy End

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2021)
Frauenpower in Telemanns „Pastorelle en musique“

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2021)
Frauenpower in Telemanns „Pastorelle en musique“

Ein Festival wird dreißig und niemand darf persönlich gratulieren. So trist sah es noch vor Kurzem für die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci aus. Doch Anfang Juni war unverhoffte Bescherung mit dem wohl schönsten Geburtstagsgeschenk: der Erlaubnis, zu spielen und dies zumindest teilweise vor Publikum. Was das Hin und Her – erst die bereits zweite Absage des Programms, dann das Erarbeiten einer rein digitalen Version und letztendlich eine mit Live-Veranstaltungen – für das Team um Intendantin Dorothee Oberlinger an Fantasie, Organisationsgeschick und starken Nerven bedeutet hat, ist nur zu erahnen.

Bei der Opernpremiere ist von diesem Kraftakt nichts zu spüren. Sondern nur Freude und das auch noch aus einem weiteren Grund. Denn nach siebenjährigen Renovierungsarbeiten kann das Schlosstheater im Neuen Palais Sanssouci, ein Juwel unter historischen Spielstätten, wieder für das Musiktheater genutzt werden. Gegeben wird Georg Philipp Telemanns frühes, nach Texten von Molière komponiertes Bühnenwerk „Pastorelle en musique“, das von den Liebeständeleien zwischen zwei Schäferinnen und ihren männlichen Pendants handelt. 

Die erst Anfang 2000 in einem Archiv in Kiew aufgefundene Partitur ist eine musikalische Köstlichkeit mit französischem Einschlag und reizvoll instrumentierten Arien, die je nach Gefühlslage das idyllische Geschehen abbilden. Die bukolische Stimmung wird durch die von Johannes Ritter entworfenen Landschaftsprospekte und die in Naturtönen gehaltenen Kostüme perfekt illustriert. Auf Harmonie setzt auch Nils Niemann in seiner hübsch arrangierten Inszenierung, die historische Bewegungselemente miteinbezieht.

Das Festspiel-Motto heißt „Flower Power“. Doch bei „Pastorelle en musique“ passt die Überschrift „Frauenpower“ weit besser. Vor allem wird sie verkörpert von Dorothee Oberlinger, die am Pult des von ihr gegründeten Ensembles 1700 steht. Ihre Vitalität gepaart mit stilistischem Wissen befeuert die famosen Instrumentalisten zu farbreichem Musizieren – und dass sie es sich nicht nimmt, bei der Vogelarie zur Blockflöte zu greifen, versteht sich von selbst. Übrigens sitzen im Orchester noch mindestens zwei Mehrfachtalente. Yves Ytier zeigt sich als galanter Tänzer bei gleichzeitigem Geigenspiel und Max Volbers schwebt als flötender Cupido vom Kulissenhimmel herab.

Auch auf der Bühne haben die Damen das Sagen, das wird schon deutlich in Calistes Auftrittsarie „Freiheit soll die Losung sein“, die sich zum Duett mit Frauenchor erweitert. Lydia Teuscher singt sie mit überlegenen Koloraturen und lyrischem Leuchten, unterstützt durch die vokal ebenso gewandte, etwas dunkler timbrierte Sopranistin Marie Lys als Freundin Iris. Auf Wohlklang bedacht ist Bariton Florian Götz bei Damons Liebesschmachten, zurückhaltender, sanfter bemüht sich der Countertenor Alois Mühlbacher als Amyntas um seine Angebetete. Ein Happy End auf allen Ebenen. Nur der vorlaute Außenseiter Knirfix, den Virgil Hartinger mit tenoralem Witz ausstattet, bleibt alleine.

Karin Coper

„Pastorelle en musique oder Musicalisches Hirten-Spiel“ (1713/15) // Georg Philipp Telemann

Wahlkampf in Neukölln

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Es ist Wahljahr. In der Provinzstadt Hohenpfaffenberg-Siegertsbrunn kämpfen die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die Rechte Alina Deutschmann um das Bürgermeisterinnen-Amt. Zimperlich geht es da nicht zu, auch für kriminelle Aktionen sind sich die beiden nicht zu schade. Und die halbwüchsigen Töchter samt Anhang müssen mitmachen. Am Ende gewinnt eine Dritte, die strategisch gewiefte Wahlmanagerin von Alina. So in etwa könnte es sich demnächst in der Realität abspielen, wohl aber nicht ganz so überspitzt wie in Peter Lunds neuestem Musical „Eine Stimme für Deutschland“. Denn da entpuppt sich Alina als Exmann von Regula, dessen Neigung zum Tragen von Frauenkleidern ein Trennungsgrund war. Und das Happy End? Neues Familienglück zu viert statt Partei-Karriere.

Die jüngste Koproduktion zwischen dem Studiengang Musical/Show der UdK und der Neuköllner Oper Berlin, wo die überspitzte Farce Premiere feierte, strotzt vor politischer und gesellschaftlicher Aktualität, angereichert mit Diversität jeglicher Art, Identitätsfindung, sexueller Orientierung, Gendern und allem, was momentan so modisch ist. Mit leichter Hand, Biss und viel Witz fügt Lund alle Stränge zusammen und schafft zudem Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Jede und jeder kriegt ihr Fett weg, es gibt weder nur gute noch rein böse Charaktere.

In der schnell wandelbaren Kulisse von Ulrike Reinhard, die auch die Kostüme entworfen hat, setzt Lund als eigener Regisseur auf Tempo und genaues Timing. Joel Zupan präsentiert Alina als imposante deutsche Diva mit blondem Haarkranz. Hochgewachsen, kerzengerade beherrscht er die Bühne, ob in glamouröser Goldrobe oder im schicken Schwarzen. Als Gegenpol zu diesem Überweib zeigt Veronika de Vries als Regula die Seiten einer überforderten und gleichzeitig verbissenen Konkurrentin. Ihre Töchter, verkörpert von Mascha Volmershausen und Maria Joachimstaller, sind Energiebündel, die die männlichen Teenager mit ihrer geballten Mädchenpower in Schach halten. Soufjan Ibrahim als Gutmensch Albert und Fabian Sedlmeir als Adolf erspielen sich mit ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit viele Sympathien. Clarissa Gundlach als taffe Wahlmanagerin und Gwen Johansson als verletzliche lesbische Freundin Anuk komplettieren das Ensemble, das toll spielt, singt und auch in den von Cristina Perera choreografierten Tanzeinlagen überzeugt.

Große Themen brauchen große Musik. Die hat Thomas Zaufke komponiert: Seine melodisch eingängigen, effektvollen Songs, teils mit Bezug auf Klassiker von Bach bis Beethoven und bekannte Musicalvorgänger, sind eingebettet in einen Sound, der durch Synthesizer-Verstärkung Orchesterfülle imaginiert. Die kleine Band, von Hans-Peter Kirchberg souverän geleitet, hat hörbar ihr Vergnügen daran. „Entschuldige“ heißt ein Song, der das Wort als inflationäre Floskel entlarvt. Doch für das Musical braucht sich das Team nicht zu entschuldigen. Es ist beste Unterhaltung am Puls der Zeit.

Karin Coper

„Eine Stimme für Deutschland. Die musikalische Quittung“ (2021) // Musical von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text)

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Herausfordernder Optimismus

Serge Dorny und Vladimir Jurowski führen ab Herbst 2021 die Bayerische Staatsoper

Serge Dorny und Vladimir Jurowski führen ab Herbst 2021 die Bayerische Staatsoper

von Wolf-Dieter Peter

Intendant Serge Dorny, der von der Opéra de Lyon kommende Belgier, und der derzeit noch in Berlin als Orchesterchef tätige Vladimir Jurowski als neuer GMD präsentierten zusammen mit Ballettdirektor Igor Zelensky ihre erste Spielzeit – voller Optimismus, ab Herbst trotz Pandemie in vollen Zügen loslegen zu können: „Jeder Mensch ein König“ als Motto; viele bunte, regenbogennahe Balken im neuen Logo; elf Premieren; zwei Kleinfestivals vor den offiziellen Festspielen.

Keine Mozart-, Rossini-, Verdi- oder Wagner-Premiere und vom Hausgott Richard Strauss nur „Capriccio“, dieses halb-moderne „Sahnetörtchen“ für Kenner – dafür aber acht andere Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert und auch ein Gutteil der Akademiekonzerte mit Werk-Verbindungen zu den Opernpremieren: kein bequemes Zurücklehnen und kein Protzen mit Star-Abenden in Parallelität zu Berlin, Wien, Mailand oder auch Paris.

Neues und „Öffnung“

Ob sich mit den im Herbst dann wohl offensichtlichen beruflichen wie privaten Belastungen, Beschränkungen und Engpässen alle Kunstinteressierten im Motto „Jeder … ein König“ wiederfinden, sei dahingestellt. Eindeutig aber betont die Staatsoper ihr „Bayerisch“ und „Niederschwellig“ mit zehn „Oper-für-alle-Abenden“ im „Septemberfest“ in Ansbach und München – so soll dann jeweils eine Stadt im Land pro Spielzeit folgen. Erste Premiere im Nationaltheater wird am 24. Oktober die Erstaufführung von Schostakowitschs „Nase“ sein, Jurowski am Pult und für die Szene der in Russland noch immer unter Hausarrest stehende Kirill Serebrennikow. Also womöglich eine weitere Inszenierung per Video-Schalte: auch kein Zurücklehnen für das gesamte Produktionsteam im Haus, aber eben eine Kunst-Entscheidung, denn Serebrennikow gilt als Experte für den zur damaligen Uraufführung vorgesehenen Wsewolod Meyerhold. Diese überlegte Ernsthaftigkeit findet sich im Spielplan mehrfach – etwa auch bezüglich „Giuditta“ für Weihnachten/Silvester/Fasching. Mit dem an der Wiener Staatsoper und damaligen Stars wie Jarmila Novotná und Richard Tauber uraufgeführten Werk wollte Lehár sich endgültig als „seriöser Komponist“ etablieren – und zu diesem damals scheiternden Versuch passt dann eben Alt-Regisseur Christoph Marthaler. Mit dem „Schlauen Füchslein“, „Peter Grimes“, einem seltenen Haydn für die Sänger des Opernstudios im Cuvilliéstheater, mit „Les Troyens“ und „Die Teufel von Loudun“ als Festspieleröffnung folgen Herausforderungen, gipfelnd in einem neuen kleinen Festival „Ja, Mai“ – doch auch da kein bairisch-kulinarisches „Wonnemonat“-Programm: drei Kammeropern des zeitgenössischen Duos Georg Friedrich Haas und Händl Klaus werden mit Monteverdi-Madrigalen in Beziehung gesetzt – ein so gedachtes, aber bislang nie so aufgeführtes „Triptychon“, jeweils erstklassig besetzt, unter Mitwirkung von Residenztheater, Kammerspielen und Volkstheater sowie dem Münchner Kammerorchester. Im Brunnenhof der Residenz als „Agora“ sollen zusammen mit anderen Kulturinstitutionen und der neu gegründeten Abteilung „Offstage360“ Neues und „Öffnung“ vorangetrieben werden – bei Preisen von 8 bis 25 Euro.

Wirken, Überzeugen, Gewinnen

Auch das Staatsballett bietet Wiederaufnahmen, gipfelnd in Neumeiers „Sommernachtstraum“ und der Premiere von „Cinderella“. Auch wenn die Tanzfeier von „30 Jahre Staatsballett“ pandemie-bedingt ausfiel, umso mehr freut sich die Compagnie auf die Einladungen ins St. Petersburger Mariinsky- und Moskauer Bolschoi-Theater. So wie hier Ballettdirektor Igor Zelensky ausführlich eingebunden war, so erfrischend offen, differenziert und erkennbar freudig engagiert äußerte sich auch GMD Vladimir Jurowski. Er gab sich als großer Ballett-Fan zu erkennen und hofft, gleichsam als Fortführung seiner Anfänge an der Komischen Oper Berlin, in einer der kommenden Spielzeiten selbst ein großes abendfüllendes Ballett zu dirigieren: die Gespräche mit Zelensky laufen. Jurowski bekannte sich zu den Grundprinzipien des „Felsenstein-Theaters“ und der prägenden Zusammenarbeit mit dem damaligen Star-Regisseur Harry Kupfer – weshalb er sich auf die kommende Zusammenarbeit mit einem Regisseur wie Simon Stone in den „Teufeln von Loudun“ freue. Auf diesen Werdegang führte er auch seine Entscheidung zurück, sowohl Schostakowitschs „Nase“ wie Pendereckis „Teufel“ in der jeweils härteren, auch dissonanteren Erstfassung einzustudieren; sehr eloquent und inhaltlich überzeugend legte er zu diesen, seinen beiden Premieren dar, dass es ihm um den politischen Kern gehe, um den Kampf von „individueller Identität gegen Unfreiheit“. Die Programme seiner drei Akademiekonzerte hat er zu den jeweiligen Premieren und dem dann hoffentlich in originaler Orchesterbesetzung vor Publikum zu spielenden „Rosenkavalier“ in spannende Beziehung gesetzt. Dass es in den nächsten Festspielen gemäß der „Hausgott“-Tradition einen Strauss-Schwerpunkt geben wird, verbanden Jurowski und Dorny zum wiederholten Mal mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zum Ensemble-Gedanken und dem Repertoire-Prinzip.

Alle drei Herren wirkten erkennbar „publikumsbezogen“. Nicht ein Hauch von Ich-bezogenen Intendanten- oder Direktoren-Attitüden stellte sich ein. Vielmehr präsentierte sich ein „Team“, das miteinander unbedingt loslegen, das mit seinen Vorhaben wirken, überzeugen und gewinnen will. An der Bayerischen Staatsoper geht also ein Trio an den Start – mit selbst über den Bildschirm ausstrahlendem Optimismus, mit erkennbarer Vorfreude auf die gemeinsame künstlerische Arbeit. Auguri a tutti tre!

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Auf dem Weg zum großen Kino

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Das Staatstheater Braunschweig wartet mit dem 2004 uraufgeführten Opern-Psychothriller „Hanjo“ des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa beinahe im Kintopp-Format auf. Der auf des Messers Schneide balancierende Dramentext Yukio Mishimas und das von Hosokawa ins Japanische übersetzte Musikidiom der europäischen Nachkriegsavantgarde bieten treffliche Voraussetzungen. Isabel Ostermanns Regie lässt offen, was im Dreipersonen-Einakter Realität, was Projektion, Traum oder gar Wahn ist. Gut möglich, dass sie unmerklich ineinander übergehen oder gar erhebliche Schnittmengen bilden. Die seit geraumer Zeit des Geliebten harrende Hanako jedenfalls erklärt auf all diesen Ebenen das Warten zum Seinszustand. Der sie darin bestärkenden Malerin Honda gelingt daher, die junge Frau in Abhängigkeit von sich zu halten. Selbst das Auftauchen des lang ersehnten Liebhabers ändert nichts daran. Ausstatter Stephan von Wedel siedelt das Geschehen in einem Mietshaus an, dessen Querschnitt in der Totale erst einmal wenig Filmisches, sondern ein portalfüllendes Bühnenbild präsentiert. Geht es dann aber in Malerin Hondas stylisches Appartement, von dem eine Wendeltreppe in Hanakos Kombination aus Kerker und Jungmädchenzimmer hinabführt, rückt Ismail Khudidas Kamera den Figuren beklemmend nahe auf den Leib und zu Gesicht. Kontrastiv dazu blickt Khudida den Figuren immer wieder über die Schulter und zeigt die Gesichter geradezu symbolisch im verlorenen Profil. Ebenso augen- wie ohrenfällig tritt die stückimmanente Verschiebung von Wirklichkeit und Wahrnehmung zutage, wenn Bild und Ton auseinanderdriften, indem Lippenbewegungen und Gesang die Synchronität entzogen wird.

Auch musikalisch überzeugt die Produktion. Bezwingend arbeitet Alexis Agrafiotis mit dem Staatsorchester Braunschweig die filmmusikalischen Qualitäten der Partitur so heraus, dass das Blut in den Adern zu gefrieren droht. Darstellerisch und vokal erfüllt Jelena Banković die Seele der Titelfigur randvoll mit zuweilen kantabel überbordendem Warten. Milda Tubelytė verleiht der im Inneren brodelnden Honda äußere Fassung und Kühle samt scharsinnig-intellektuellem Raffinement. Auf sanglich eleganter Linie bewegt Maximilian Krummen den chancenlosen Liebhaber Yoshio. So sehr für die Zukunft auf Produktionen vor dann wieder physisch anwesendem Publikum zu hoffen ist: Das Staatstheater Braunschweig hat mit „Hanjo“ einen Weg der Synthese von Musiktheater und Film gefunden. Nun herrscht Spannung auf künftige Rückkopplungseffekte für die Bühne.

Michael Kaminski

„Hanjo“ (2004) // Oper von Toshio Hosokawa

Die Inszenierung ist als Stream bis 4. Januar 2022 über die Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).