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Orpheus Magazin

Spritziger Rossini

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (April 2021)
„La Cenerentola“ in fantasievoll-farbigem Gewand

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (April 2021)
„La Cenerentola“ in fantasievoll-farbigem Gewand

Nach klassischen Inszenierungen von Verdis „Il trovatore“ und Cileas „Adriana Lecouvreur” setzen die Amigos Canarios de la Ópera ihre 54. Saison mit Eigenproduktionen der italienischen Oper erfolgreich fort. Diesmal ist es Gioachino Rossini, der mit seiner „Cenerentola“ im wunderschönen, altehrwürdigen Opernhaus von Las Palmas zu Ehren kommt, dem Teatro Pérez Galdós. Das Haus wurde zunächst als Teatro Tirso de Molina 1890 eröffnet, brannte aber 1918 fast vollständig ab. Zehn Jahre später wurde es mit „Aida“ wiederöffnet. Nach Erweiterungs- und Verschönerungsarbeiten von 2004 bis 2007 erstrahlt es heute als das theatrale Kleinod der Kanaren. Die Akustik ist exzellent.

Dazu passt auf nahezu perfekte Weise eine Neuinszenierung der „Cenerentola“ durch Raúl Vázquez, dem einzigen Nicht-„Canarino“ im Regieteam, in den relativ einfachen, aber Stimmung schaffenden Bühnenbildern von Carlos Santos und der Beleuchtung von Iban Negrín sowie mit den Kostümen von Claudio Martín. Die ersten Szenen finden in der Hausbibliothek von Don Magnifico statt. Mit den Büchern haben die beiden Schwestern Tisbe und Clorinda zwar wenig im Sinn, aber sowohl Cristina del Barrio mit ihrem Rollendebüt als Tisbe wie auch Sofía Esparza als Clorinda lassen klangvolle und äußerst wortdeutliche Stimmen erklingen. Ihre Halbschwester Angelina (Cenerentola), Victoria Yarovaya, natürlich mit dem Abstauben der Regale befasst, steht ihnen mit einem ausdrucksvollen und geschmeidigen Mezzo nicht nach, mit dem sie später auch noch gute Koloraturen hören lässt.

Vázquez steuert eine exzellente Personenregie bei, gestaltet die Figuren sehr lebhaft und damit im Einklang mit den Noten Rossinis. Dazu agieren sie immer mit der passenden Mimik. Das trifft auch auf den vor Energie sprühenden Don Magnifico zu, aus dem Misha Kiria mit viel Komödiantik und einem gut geführten Bariton eine Charakterstudie macht.

Im zweiten Akt schlägt die Stunde des wahrlich erstklassigen Tenors Xabier Anduaga, der wie Yarovaya, Kiria und Fernando Campero (Dandini mit gutem Bass) von den Kanarischen Inseln stammt. Hier singen also offenbar nicht nur die Vögel gut. Es ist schon beachtlich, welches Sängerpotenzial die Inselgruppe hat. Anduaga singt Don Ramiro mit tenoraler Brillanz bei einem dunklen Unterton, was den stimmlichen Ausdruck verstärkt. Hinzukommen blendende Höhen, die an einen Juan Diego Flórez erinnern, ja vielleicht noch etwas dramatischer sind. Er spielt auch sehr nobel. Isaac Galán rundet als guter Alidoro das exzellente Ensemble ab. Im modernen Kabinett von Ramiro hat Bühnenbildner Santos einen langen Steg nach hinten installiert, sodass die Bühne tief genutzt wird. Auf schrägen Seitenwänden erscheinen situationsbezogen fantasievolle Lichtbilder. Der Farbenreichtum der Bilder und Kostüme passt zur Lebhaftigkeit der Inszenierung.

Der Coro de Amigos Canarios de la Ópera liegt in den kompetenten Händen von Olga Santana. Der junge Lorenzo Passerini gibt dem Ganzen mit dem Orquesta Filarmónica de Gran Canaria die stimmige Rossinianische Note.

Klaus Billand

„La Cenerentola ossia La bontà in trionfo“ (1817) // Dramma giocoso von Gioachino Rossini

Geisterbahn

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
Pascal Dusapins finsterer „Macbeth Underworld“ als faszinierendes Horrorspektakel

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
Pascal Dusapins finsterer „Macbeth Underworld“ als faszinierendes Horrorspektakel

Das Saarländische Staatstheater begreift die Krise als Chance. Begünstigt durch den Corona- Sonderweg der Landesregierung, bringt das Haus eine beispielhafte Premiere als deutsche Erstaufführung vor zwar pandemiebedingt limitiertem, immerhin aber physisch im Großen Haus anwesendem Publikum heraus. Das vor knapp anderthalb Jahren am Brüsseler La Monnaie uraufgeführte Werk setzt die Titelfigur samt Gemahlin unter permanenten Wiederholungszwang. Der Fluch der bösen Tat ist, dass sie immer von neuem durchlebt und dabei in ihrer grässlichen Sinnlosigkeit fortschreitend offenbarer wird. Wahnsinn und kryptisches Raunen, wie es die Sprache im Shakespeare-Stück zulässt, werden im Libretto von Frédéric Boyer auf die Spitze getrieben. Dusapins Musik verleiht dem orgelbrausende und streichersatte orchestrale Struktur sowie eine vokale Prägnanz, die sich besonders im Fall der Lady auf der spannungsgeladenen Schwelle zwischen rhythmischem Sprechen und Arioso bewegt.

Regisseur Lorenzo Fioroni erzählt – soweit das Geschehen es zulässt – stringent und billigt daher dem Wahnsinn so einiges an Methode zu. Die Zwänge, unter denen der Schottenkönig und seine Lady stehen, zeigen sich auf diese Weise desto augenfälliger. Permanentes Händewaschen und das Klopfen an Burg- und Höllenpforte geben ihrem untoten Dasein den Takt vor. Eros und Thanatos fließen ineinander über. Wenn die Lady in Dessous und rittlings einen Sarg besteigt, gewinnt das ebenso plakative wie eindrückliche Bildkraft. Die „Hexen“ wiederum formieren sich zu anmutigen, von klassischen Ballettchoreographien inspiriert moralinfreien Grüppchen jenseits von Gut und Böse. Paul Zoller baut für den Spuk eine wie mit Leichentüchern ausgeschlagene Bühne, von der eine riesige, sich oft in gefährlicher Schräge aufstellende Bettstatt aufragt. Entscheidend zur Gesamtwirkung der Produktion tragen die Kostüme von Katharina Gault bei. Macbeth steht wortwörtlich verstanden in Unterhosen da, die Gemahlin legt sich auch garderobenmäßig eine Vamp-Attitüde zu, die allzu dick aufträgt, um nicht den Verdacht zu erwecken, darunter verberge sich ganz anderes. Die „Hexen“ in weißen Tutus muten mit leicht ironischer Note versehen höchst grazil an, in Smoking und Stahlhelm charmant-frech.

Wie szenisch, so ist der Abend auch musikalisch ein Treffer. Die Damen des Opernchors hat Jaume Miranda zu verlockend-boshaftem Gleißen und attraktiv-gefährlichem Zirpen inspiriert. Justus Thorau realisiert mit dem Saarländischen Staatsorchester Dusapins Partitur gleichermaßen analytisch scharfsinnig und sinnlich zupackend. Streicher und Orgel treiben ihr klanglich opulentes Unwesen. Peter Schöne steigert seinen Bariton für die Titelfigur im Laufe des Abends in den auftrumpfenden, aber vergeblichen Kampf gegen das Verhängnis. Die Lady misst bei Dshamilja Kaiser vokale Facetten aus, die von robustem Eros und handgreiflichem Verbrechen bis zu Irrsinn wie aus dem Lehrbuch und luzidem Wahn reichen. Hiroshi Matsui gibt den Ghost mit Stentorbass. Auch alle weiteren Partien sind höchst angemessen besetzt.

Michael Kaminski

„Macbeth Underworld“ (2019) // Oper von Pascal Dusapin

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Gefühl contra Identität

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (April 2021)
Vera Nemirova inszeniert Kurzfassung von Künnekes „Vetter aus Dingsda“

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (April 2021)
Vera Nemirova inszeniert Kurzfassung von Künnekes „Vetter aus Dingsda“

„Wenn schon Krise, dann aber bitte mit Schmackes!“, galt schon 1921. Die Uraufführung von Eduard Künnekes Revue-Operette „Der Vetter aus Dingsda“ wurde zu Beginn der furchtbaren Inflation ein prompt mit „Dennoch!“ umjubelter Erfolg. Damit ist die derzeitige Covid-Krise noch nicht zu vergleichen. Aber das Staatstheater Nürnberg mag sich gesagt haben, gegen den anschwellenden Unmut „einfach mal unterhaltsame Albernheiten zu setzen“, und bietet eine pausenlose Kurzfassung als Stream an.

Weil das theatralisch Leichte bekanntermaßen das wirklich Schwere ist, muss ein Team ran, das Handwerk und Ziel vereinen kann. Die sich sonst mit Opern-Schwergewichten befassende Vera Nemirova wurde mit der Regie betraut. Und da sie seit Jahren symbiotisch stets mit ihrer Mutter Sonja inszeniert, wurde diese gleich mitengagiert. Das Produktionsteam kürzte den Dreiakter auf pausenlose 90 Minuten, straffte und modernisierte die kurzen Dialogteile zwischen den schlager-populär gewordenen Musiknummern vom „armen Wandergesell“, dem Lied an den „Strahlenden Mond“ bis hin zu den „Sieben Jahren in Batavia“. Was 1921 in der Kolonie-enteigneten Weimarer Republik noch zu dem Wortwitz taugte, dass dieser vor Jahren nach „Ba…Ba…Batta… äh, eben nach Dingsda“ ausgewanderte Roderich hoffentlich verschollen bleibe. Die reiche Erbin Julia liebt ihn aber noch immer (jetzt per täglicher SMS), leider nur ohne Antwort. Das lässt die geldgierigen Vormünder „Tante und Onkel“ Josse und Wimpel hoffen und vorläufig in sich hineinfressen, was nur geht. Julias gerade für volljährig erklärtes und sehnsüchtig glühendes Herz entflammt jedoch für den hereinschneienden Augustin. Es folgen allerlei Verwicklungen, in denen Gefühle und Identitäten durcheinanderwirbeln: Romeo und Julia grüßen mit Shakespeare-Zitaten, der echte Roderich taucht als längst anderweitig orientierter Weltenbummler auf und „wie im Märchen“ kriegen sich Julia und Augustin. Deren resolute Freundin Hannchen nimmt derweil Roderich – und wer nicht weiterweiß, soll „nach Batavia“ …

Mit ihrer vertrauten Ausstatterin Pavlina Eusterhus verlegt Regisseurin Nemirova die Handlung in ein zeitlos-heutiges Einheitsbühnenbild. Mit ein paar Garten- und Liegestühlen deutet sie wechselnde Schauplätze an. Bis hin zu Julias „Wolkenkuckucksheim“: ein halbhoch gelegenes Gewächshaus, wo neben Grünzeug eben auch ihre „Liebe“ blühen kann und der Mond gleich nebenan als Lampion leuchtet. Dem Schmiss von Musik und Revue-Operette folgend, führt Nemirova eine temporeiche Personenregie.

Lutz de Veer dreht mit der auf Abstand sitzenden Staatsphilharmonie Nürnberg wiederholt sprudelnd auf. Das setzt ein engagiert mitgehendes Ensemble um, von Onkel und Tante (Taras Konoshchenko und Franziska Kern), dem resoluten Hannchen von Paula Meisinger und guten Nebenfiguren bis zu dem jugendlich lockeren Augustin-Tenor von Martin Platz sowie dem ihn süß überstrahlenden Julia-Sopran von Andromahi Raptis. Verwechslungsreiche Situationskomik, immer mal Wortwitz, augenzwinkernd als irre Realität servierte Unwahrscheinlichkeiten, frech entlarvtes, unausrottbar Allzumenschliches und all das in sofort eingängigen Melodien: Fern der „Kreisch-Brüll-Schenkelklopf“-Unterhaltung in den Massenmedien beweisen diese oft erst als Gebrauchsware produzierten, aber eben aufgrund ihrer Qualitäten zu „Klassikern“ gewordenen Werke theatralische Lebendigkeit. Erst recht in unlustigen Zeiten.

Wolf-Dieter Peter

„Der Vetter aus Dingsda“ (1921) // Operette von Eduard Künneke

Die Inszenierung wird am 7. Mai 2021 um 19.30 Uhr wieder als Stream über die Website des Theaters abrufbar sein; weitere Termine sollen folgen.

Liebe auf Distanz

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Ihre Hände berühren sich nur beinahe. Umrunden einander, formen einen Raum zwischen sich, den sie nicht überwinden können, und strecken sich bis ins letzte Fingerglied, an wiederum sehnsüchtig ausgerenkten Armen – aber nicht einmal die Fingerkuppen küssen sich. So gebärdet sich die Liebesgeste des Grenzen sprengen(-wollen)den Paares Romeo und Julia auf der Bühne der Deutschen Oper am Rhein. Distanz ist der prägende Gestus in dieser Inszenierung von Manuel Schmitt auf Boris Blachers Kammeroper der Shakespeare-Tragödie.

Es ist der Beinahe-Moment, der Zerrissenheitsraum, kreiert von visueller und musikalischer Distanz, der die Spannung erzeugt, um für eine Stunde an den Stream bei OperaVision gefesselt zu sein. Distanzierte Musik ist wohl jene, deren Emotionen einen nicht opern-italienisch überrollen, sondern diese mit ihren speziellen intellektuellen und strukturellen Mitteln zwar überzeugend ausformt, sie aber eher bei den Charakteren belässt. So ist es bei Blacher.

Während sich dessen Werk durch seine starke inhaltliche Reduktion vom Shakespeare’schen Original entfernt und sich dabei auf die Liebenden fokussiert, wendet sich Regisseur Manuel Schmitt wiederum eher von diesen ab und stattdessen hin zu den gesellschaftlichen Umständen der Handlung. Diesen Blickwinkel verdeutlicht er mit der Bühneneinteilung (Heike Scheele): Julia ist die ganze tragische Stunde in eine tiefergelegte, karge Ebene eingelassen. Der achtköpfige Chor steht erhöht, darf mit Requisiten und miteinander interagieren; auch die Handlung liegt maßgeblich bei ihm. Das Spiel mit den Ebenen und ihren einhergehenden Distanzen ist intellektuell und schmackhaft.

Damit auch die Unterhaltung in dieser Distanzqual nicht zu kurz kommt, schreibt Blacher die Figur der Chansonnier*e, die das Spiel immer wieder kommentierend unterbricht und die Szene zeitweise in die Theater-im-Theater-Idee schubst. Da rutschen einem die trauernden Stirnfalten schon mal in ein amüsiertes Schmunzeln, wenn Spieltenor Florian Simson in Frauenkostümen über die Bühne tänzelt. Er gestaltet seine Rolle absolut fabulös unterhaltsam aus. Ein Grad des Schauspiels, den man nicht bei allen Beteiligten beglückwünschen kann.

Musikalisch wurde gerade vom Chor ganze Arbeit geleistet. Die zahlreichen a-cappella-Akkord-Kumulationen, die nicht selten von unharmonischen Einwürfen erschüttert sind, stapeln sich ziemlich ordentlich auf- und nebeneinander. In dieses Lob kann man das kleine Orchester mit einreihen. Die Komposition bietet kaum lyrische Phrasen, an denen es sich entlanghangeln könnte; stattdessen zeugt sie von der Mathematik, die der Komponist vor seiner musikalischen Ausbildung studierte. Dirigent Christoph Stöcker bringt diese komplexe Musik mit seinen neun Musikerinnen und Musikern auf den Punkt. Obwohl der inszenatorische Fokus nicht auf Romeo und Julia liegt, sind sie musikalisch immer wieder ein Nähe-Moment. Lavinia Dames und Jussi Myllys haben schon bei Anno Schreiers „Schade, dass sie eine Hure war“ bewiesen, was für ein mitreißendes Liebespaar sie sein können und wie bereichernd sich ihre beiden ziemlich speziellen Klangfarben miteinander vermischen.

Insgesamt passiert nicht wirklich viel in dieser kurzen Stunde Kammeroper. Aber das was passiert, in minimal und eher monochrom, das bringt opernhafte Emotionen. Und die tun tragisch gut. 

Maike Graf

„Romeo und Julia“ (1943) // Kammeroper von Boris Blacher

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Oktober 2021 kostenfrei über die Plattform OperaVision abrufbar.

Vokaler „Karfreitagszauber“

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Musikalisch kann man Richard Wagners Spätwerk „Parsifal“ (Uraufführung 1882) derzeit wohl nicht besser besetzen: Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča entschied sich für die Wiener Staatsoper, um den seit Jahren angekündigten „Fachwechsel“ zu wagen. Das Ergebnis ist schlichtweg sensationell: Ihre Kundry ist je nach Bedarf lyrisch oder dramatisch, wechselt zwischen Belcanto-Samt und strahlenden Spitzentönen, agiert voller Spielfreude. Ein phantastisches Resultat – Amneris und Ortrud lassen grüßen! Auch Ludovic Tézier debütiert eindrucksvoll als Amfortas, Jonas Kaufmann sang zuvor erst einmal in Wien den „reinen Toren“ und ist in vokaler Höchstform – und Georg Zeppenfeld, Wolfgang Koch und Stefan Cerny komplettieren dieses „Traum-Ensemble“ als Gurnemanz, Klingsor und Titurel. Garanten für das hohe Niveau sind auch das Orchester und der Chor der Wiener Staatsoper unter dem ambitionierten Musikdirektor Philippe Jordan.

Pandemiebedingt findet „Parsifal“ zwar ohne Publikum statt. Regie und Ausstattung des russischen Dissidenten Kirill Serebrennikov, der trotz Ausreiseverbot vom Computer von Moskau aus agierte, werden jedoch hitzige Diskussionen auslösen. Der Allround-Künstler (Theater, Film, Oper) aktualisiert das „Bühnenweihfestspiel“ „auf Teufel komm raus“. Montsalvat ist ein südfranzösisches Gefängnis für „schwere Burschen“, Kundry fotografiert für ein Modemagazin (Blumen-Models), Amfortas kämpft erfolglos gegen die herrschenden Zustände. Und dann kommt es zu einem dramaturgischen Kniff, der das Pro und Contra zur Regie noch weiter anheizt: Parsifal wird doppelt dargeboten. Der Tenor (Jonas Kaufmann) wird durch sein um mindestens 20 Jahre jüngeres und stummes Double (Nikolay Sidorenko) ergänzt. Das wirkt so lange überflüssig, bis es zur Schlüsselszene – der misslungenen Verführung im zweiten Akt – kommt. Dann beginnt man das Konzept zu mögen – oder aber die Ablehnung wird noch größer! Der Rezensent gehört ersterer Gruppe an. Denn nach der vor Leidenschaft vibrierenden Kuss-Szene gibt es noch mehrere Episoden, die unter die Haut gehen: etwa die Herzeleide-Erzählung über Parsifals Mutter – da kommen auch noch die Großmütter hinzu und erinnern an die ewige Wiederkehr der Welt. Oder die Karfreitags-Szene, in der sich die Frauen der Gefangenen um Parsifal versammeln und Kerzen und Blumen bringen. Besonders eindrucksvoll: das Öffnen der Gefängnistüren und das einströmende Licht der Hoffnung. Alles in allem hätte man unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht mehr erreichen können.

Peter Dusek

„Parsifal“ (1882) // Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Juli 2021 kostenfrei über ARTE concert verfügbar.

Manege frei!

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Alban Bergs „Lulu“ umweht die besondere Aura des Unvollendeten. Nach Friedrich Cerhas Komplettierung des dritten Aktes 1979 ist die Entscheidung für die zweiaktige Fassung ein Statement. Deren Gesamtbearbeitung für Soli und Kammerorchester durch Eberhard Kloke kommt obendrein den pandemiebedingten Restriktionen entgegen. In der Regie von Axel Vornam und unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Elias Grandy war diese Fassung jetzt als einmalige Streaming-Premiere zu erleben und wurde als digitale Preview für die noch nicht zu terminierende analoge Premiere deklariert.

Für den Bildschirm wechselt die Kameraführung in angemessener Frequenz zwischen der Totale des Einheitsbühnenbildes und den Naheinstellungen der Protagonisten. Das Manegen-artige Halbrund von Tom Muschs Bühne mit vier Drehtürelementen erweist sich als praktisch und im Handumdrehen wandelbar für alle Schauplätze, angereichert mit einem roten Riesensofa und Ausschnitten aus dem Porträt Lulus. Manchmal schaut einer der Protagonisten von oben über den Rand auf die Szene. Ganz so, als würde er in einem Terrarium Laborratten beobachten. Die fantasievoll ausschweifenden und bei passender Gelegenheit jede Menge nackte Haut zeigenden Kostüme von Cornelia Kraske verfremden Lulu und die Männer (und die Frau) um sie herum tatsächlich ein Stück in Richtung einer leichten Stilisierung.

Insgesamt erzählt Vornam die Geschichte unaufgeregt gradlinig. Das ermöglicht insbesondere der betörend lyrischen Jenifer Lary, alle Facetten einer schillernden Lulu auszuspielen. Sie ist kapriziös, offensiv verführerisch, skrupellos und dennoch einsam. Der sonore James Homann ist als Dr. Schön der sozusagen seriöse Fels in den Brandungen ihres bewegten Lebens, während Corby Welch dieser Frau als Alwa nicht mal ansatzweise etwas entgegensetzen könnte. Auf der anderen Seite nützen João Terleira als Maler und Ipča Ramanović als Tierbändiger offensiv zur Schau gestellte virile Attraktivität ebenso wenig, wie Gräfin Geschwitz die hochkonzentrierte Präsenz der Andersartigkeit, mit der Zlata Khershberg sie ausstattet. Lulu scheitert schließlich an sich selbst und an den Erwartungen, die die Männer, die die Welt beherrschen, an eigenen verkorksten Frauenbildern auf sie projizieren.

Am Ende entschwindet dieses (Alb-)Traumbild Frau fast wie unbemerkt. Und ein spannender Opernabend aus einem Guss am Bildschirm macht Lust aufs analoge Original im Theater Heidelberg. 

Roberto Becker

„Lulu“ (1937) // Opernfragment von Alban Berg; zweiaktige Fassung in einer Gesamtbearbeitung von Eberhard Kloke für Soli und Kammerorchester

Operngondel auf Kurssuche

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Zürich / Opernhaus Zürich (April 2021)
Bilder von der Stange und tolle Stimmen in „Les contes d’Hoffmann“

Nach dem lauten Blätterrauschen rund um die Demission von Operndirektor Michael Fichtenholz soll sie im Idealfall für frische Schlagzeilen sorgen, die neue Produktion von „Les contes d’Hoffmann“ am Opernhaus Zürich. Der ebenfalls in Bedrängnis geratene Haus-Chef Andreas Homoki bringt als Regisseur das Opus summum des Kölner Parisers heraus, nur elf Jahre nach der erfolgreichen letzten Zürcher Premiere von Offenbachs einhundertzweiter (!) und letzter Oper. Nach dem Premierenstream folgen, Stand Redaktionsschluss, vier „echte“ Vorstellungen im Mai. Er interessiere sich für den Spaß in so vielen Situationen, die sich der ausgebuffte Theaterprofi Offenbach da wirkungsvoll erdacht habe, erklärt Homoki; der Faust’sche Theaterdirektor hätte sofort zugestimmt. Doch diese Spaß-Situationen stehen dann zwei Akte lang so schablonenhaft verhandelt, lose und steif nebeneinander, dass die Nummernoper zur Revue wird. Der fehlt freilich die Showtreppe: Ein großes Fass und das erhöhte, zur berühmten Barcarole unfehlbar schaukelnde Bühnentrapez in der Mitte (Wolfgang Gussmann) sind karge Bühnenbildkost und können eine stringente Entwicklung von Figuren und Plot nicht ersetzen. Auch die Kostüme strahlen jedenfalls am Bildschirm mehr Fundus aus denn Grand opéra.

Dass der Abend dann doch Fahrt aufnimmt, liegt nicht nur an der konzentrierter werdenden Personenführung, sondern hauptsächlich an den Sängerinnen und Sängern, angeführt vom albanischen Tenor Saimir Pirgu, der Stimmreserven wie auch spielerischen Einsatz klug steigert und sein Hoffmann-Rollendebüt mit Strahlkraft und Selbstbewusstsein meistert. Höchst unterschiedlich und dabei sämtlich beeindruckend: seine drei unglücklichen Liebschaften. Die Amerikanerin Katrina Galka wirft sich bei ihrem Haus- und Rollendebüt als hüftsteife und höhensichere Puppe Olympia furchtlos in die Koloraturen; mit spürbarer Lust am Spielen verleiht Lauren Fagan ihrer Kurtisane Giulietta eine robuste Verführungskraft, passgenau für den besoffenen Dichter; und die wunderbare Ekaterina Bakanova als Antonia (ein Clara-Schumann-Verschnitt am Flügel) bringt Schmelz in der Stimme und wohltuend atmende agogische Freiheit mit. In ihren Vierfachrollen setzen Andrew Foster-Williams mit Dapertuttos Spiegelarie und Spencer Lang als herrlich komischer Diener Frantz ihre Glanzlichter. Herausragend mit über den ganzen Umfang samtigem und dabei stets strahlendem Mezzo und einer schauspielerischen Leistung, die alle anderen in den Schatten stellt: Alexandra Kadurina als Muse/Nicklausse. Dirigent Antonio Fogliani führt sein Sängerensemble per Übertragung aus dem Probenraum am Kreuzplatz sicher und formt ebendort einen erfrischend schlanken Orchesterklang, die Philharmonia Zürich ist im Antonia-Akt am besten in Form (Holzbläser, Solo-Oboe!). Und Regisseur Homoki findet nach zähem Anfang zu einem überraschenden, aber sicher nicht zufälligen Ende: Die Sängerin Stella begegnet dem Künstlerkollegen Hoffmann und dem Machtmenschen Lindorf plötzlich selbstbestimmt und auf Augenhöhe … Ein Opernhaus-Omen?

Stephan Knies

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach auf Basis der kritischen Edition von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand bis Ende April kostenfrei über die Website des Theaters abrufbar.

Raffiniert gemixt

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Das Stream-Bild zeigt den sich schließenden Eingang zum Bockenheimer Depot, diesem unbedingt erhaltenswerten „anderen Spielort“. Dann schweift der Blick durch die komplexe Dachkonstruktion, die altes Holzgebälk und modernen Stahl für die Theatertechnik vereint. Das Licht wirkt magisch bis exotisch – und da mischen sich auch Publikumsgeräusche und allerlei Tierlaute. Die Kamera führt in eine im dunklen Raum schwebende, opulente Loge à la Grand opéra: vergoldete Ornamente, roter Samt, Portalstützen aus antiken Nymphen. Da sitzt ein Herr im Frack und erzählt, dass niemand gekommen wäre, wenn es sich nicht „um ein kulturelles Ereignis von erregender Einmaligkeit“ handeln würde, den „Karneval der Tiere“. Er schaut durch sein goldenes Lorgnon – und wir mit ihm in zwei kreisrunde Blickausschnitte: auf eine wilde, bunte, aber „edel“ gekleidete Tiergesellschaft unten in der Sitztribüne. Da wird zu Tierkopf, -pfote, -pranke und -haut allerlei Talmi-Schmuck, Abendrobe, Pelz und sogar Kopfschmuck getragen – man ist ja schließlich wer! Eine gelungene Videomontage, mit der Ausstatter und Filmbildner Christoph Fischer und Regisseurin Katharina Kastening alle derzeitigen Besuchsverbote in einer Vorwegaufnahme gekonnt überbrücken. Da gibt es in regelmäßigen „Einblicken“ zwischen den Musiknummern was zu gucken und zu staunen, denn der Theater- und vor allem der Kostümfundus haben einfach „alles“ ausgegraben. So kunterbunt entlarvend, dass kurz philosophiert werden muss, ob nicht diese tierischen Exoten eher wir Menschen in allerlei Kostümen sind …

Nur kurz, denn dann setzt die Musik ein. Eine Krankamera hoch über dem Podium blickt senkrecht nach unten, auf die in Pandemie-Abständen sitzenden zwanzig Instrumentalisten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters sowie zwei offene Konzertflügel; an denen sitzen In Sun Suh und Lukas Rommelspacher, der spielt und dirigiert. In guter Klangtechnik wirkt der Marsch der Löwen wirklich „maestoso“, beschwören die Klavierläufe den Einzug der Hühner-Pyramide, führt der Kontrabass „pompös“ die Elefanten ein und beschwören Xylophon, Streicher-Sirren sowie Klavier-Perlen das „Aquarium“. Dazwischen wechselt das Bild immer wieder hinauf in die Loge, wo Schauspieler Christoph Pütthoff als „Kenner“ von Musik und Menschen die Zwischentexte von Loriot spricht. Der gab 1975 noch nicht wie in seinen späteren Klassikauftritten eminent wortwitzige, Opern-karikierende und herrlich entlarvende, sondern fein ironische Kommentare zum exquisiten Esprit der Musik. Pütthoff verstärkt dies mit kleinen mimischen Kommentaren, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Das Schmunzeln gipfelt in der quälend wiederholten Frage der jungen Katzen „Kommt jetzt der Schwan?“ als „Running Gag“ Loriots – und stellvertretend für das Musizieren aller sei das dann „grazioso“ erklingende Schwan-Cello-Solo von Sabine Krams genannt. Der musikalische „Zirkus“ klingt schließlich Cancan-nahe und fetzig aus. Nicht zu vergessen der Schluss-Coup der Inszenierung: Der Logenbesucher geht durch die leeren Reihen davon – da sitzt doch tatsächlich ein edel-weiß-gefiedertes, echtes Huhn gackernd auf einem Stuhl! Ist ihm das Taxi davongefahren? Gelungene musiktheatralische Unterhaltung.

Wolf-Dieter Peter

„Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) (1886) // Große zoologische Fantasie für Kammerorchester von Camille Saint-Saëns in der Textfassung von Loriot (1975)

Die Inszenierung ist als Stream bis 30. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

„Let the Sunshine In“ statt Social Distancing

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
„Hair“ in manischer Spiellust und zeitgemäßer Adaptierung

Unverhofft kommt viel zu selten: Das „American Tribal Love-Rock Musical“ „Hair“ begehrt im Lockdown auf und geht in Saarbrücken auf Anti-Corona-Kurs. Während Deutschlands Theater immer wieder vergeblich die Segel setzen, über die Weite des kulturleeren Ozeans schippern und eine rettende Insel suchen, bekommt das Saarländische Staatstheater unverhofft Rückenwind. Das Dreispartenhaus profitiert von der Teststrategie des saarländischen Ministerpräsidenten: Das Bundesland ist Modellregion und darf, unter strengen Auflagen, seine Bühnen bespielen. Fast schon gespenstisch, wenn in einem Theaterraum, der sonst 980 Zuschauer fasst, nur 220 Maskierte in großem Abstand zueinander sitzen. Da ist die Infektionsgefahr ebenso gering, wie das Stimmungsbarometer hoch sein kann. Sollte man meinen. „Hard work“ für das Ensemble um Regisseur Maximilian von Mayenburg, dessen Inszenierung im Oktober 2020, also schon zu Corona-Zeiten, fulminant Premiere feierte.

Doch mit antiviraler Sing-, Tanz- und Musizierwut ist die Beklemmung schnell verflogen, jeglicher Mindestabstand sinnbildlich überwunden, sodass sich ein unwiderstehlicher Flow ausbreiten kann. Ein wahrlich haariges Musicalevent: Kultige Freaks im Flower-Power-Styling (Ralph Zeger) machen mit Stimmgewalt in solistischen und kollektiven Gesangshöchstleistungen bei nicht weniger überzeugenden Choreographien von Eleonora Talamini dem Publikum das Aussteigen und Abheben leicht. Top Move, top Groove – wirkungsvoller als AstraZeneca. Der bunte Testballon steigt im Theaterhimmel hoch hinauf und weckt Lust auf mehr. Die Band, grandios mit „infizierendem“ Drive unter der musikalischen Leitung von Achim Schneider, agiert hinter Plexiglas und thront auf einem Konstrukt aus Europaletten mittig auf der Drehbühne im ansonsten eher spartanisch, aber sehr geschmackvoll gestalteten Bühnenbild (Tanja Hofmann). Das „Entfliehen durch Drogen“ der 68er erfährt in der Corona-Zeit ein „Entfliehen durch Toben“. Toben im Sinne einer friedlichen Revolte aus dem kulturellen Lockdown – und das mit satter Ladung erstklassiger Theaterkunst. Aufgestaute Spielfreude bricht sich in fast ekstatischer Manier Bahn. Große Leidenschaft trifft auf enorme Professionalität und wird, zur Bestleistung gebündelt, dem Theater-hungrigen Publikum dargeboten.

Während also damals mit Love & Peace gegen den Vietnam-Krieg und für uneingeschränkten Pazifismus demonstriert wurde, zieht von Mayenburgs Inszenierung ganz bewusst gegen Corona ins Feld und macht „Let the Sunshine In“ zur antiviralen Hymne. Hits wie „Aquarius“, „Hair“ oder „Ain’t Got No“ werden Gegenpol zum Social Distancing. Zugegeben: Trump, Wieler, Abstandsregeln, Masken oder Schutzanzüge sind das Letzte, was man dieser Tage im Theater sehen will. Von Mayenburg aber wagt und gewinnt: Er stellt Ein- und Ausdrücke der „neuen Normalität“ in den Dienst der Kreativität, indem er sie inszenatorisch als Steilvorlage für die Wirkkraft der Songs von Galt MacDermot nutzt und somit eine zeitgemäße Rahmenhandlung schafft. Ein erfolggekröntes Wagnis, ist doch der unsichtbare Feind, die Covid-Heimsuchung, allgegenwärtig. Warum sie also nicht gleich als wirksames (Stil-)Mittel in den Dienst der Kunst stellen? Tosender, nicht enden wollender Schlussapplaus mit Standing (und in den vielen Zugaben) „dancing“ Ovations. Der Abschied – fast schmerzlich.

Kirsten Benekam

„Hair“ (1968) // The American Tribal Love-Rock Musical (Musik: Galt MacDermot)

In Schönheit sterben

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Es dauert nicht lange und Wehmut schleicht sich ein, während man im heimischen Wohnzimmer den Stream von Vincenzo Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ verfolgt und sich doch eigentlich ins Linzer Musiktheater sehnt. Aber in Zeiten wie diesen muss man genießen, was möglich ist – und Genuss gibt es an diesem Abend reichlich. Die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia ist sattsam bekannt. Ihr Unglück ist die Folge eines erbitterten Streits zweier Familien in Verona, die neben persönlichen Befindlichkeiten auch noch unterschiedlichen politischen Lagern angehören, den Ghibellinen und Guelfen. Kriegerisch gebärden sich Cappelio, Clanchef der Capuleti, und seine Getreuen – insbesondere Tebaldo, der ein Auge auf die Tochter des Bosses geworfen hat. Dass Julia (bei Bellini Giulietta) ganz andere Pläne hat, weiß er noch nicht.

Regisseur Gregor Horres siedelt die auf Krawall gebürstete Familie vor einem anthrazitfarbenen, sich drehenden Betonquader an, der als Projektionsfläche für ein Video, eine Cocktailbar, ein Schlafzimmer und schließlich eine Grabkammer dient. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross unterstreicht die erstarrten Ansichten dieser Männergesellschaft, die, wenn gar nichts geht, nach Rache und Krieg schreit. Rache, weil Romeo, Sohn der feindlichen Montecchi, den männlichen Nachkommen der Capuleti in einer Schlacht erschlug. Tebaldo kämpft an vorderster Reihe als Rächer – vor allem, weil er als Preis seines Erfolgs die Heirat mit Giulietta erwarten darf. Tenor Joshua Whitener gibt den aalglatten Karrieremann, schafft es aber mit seiner Stimme, seiner Liebe zu Giulietta große Glaubhaftigkeit zu verleihen.

So startet die Oper ziemlich fulminant mit einem hochmotivierten Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Enrico Calesso. Richtig Fahrt nimmt der Abend mit dem Auftritt des Liebespaares auf. Bellinis Romeo ist eine Partie für einen Mezzosopran. Dadurch gestalten sich die gesanglichen Begegnungen der verzweifelt Liebenden nicht nur als eine Kette von Koloraturen, sondern auch als ein feinmelodisches Gewebe an Akzenten und Färbungen zwischen Sopran und Alt. Bellini hat sich mit seiner Komposition bereits vom reinen Schöngesang des Barocks entfernt, die traurigsten Botschaften kommen auf romantischen Wellen von lebhaften Dur-Tonarten daher und nehmen den Zuhörer völlig gefangen. Für dieses wohlige Gefühl sind in erster Linie die beiden Sängerinnen von Romeo und Giulietta verantwortlich. Anna Alàs i Jové gibt einen hingebungsvollen Liebhaber und lässt ihre weiche Stimme leuchten. Ilona Revolskaya füllt ihre Rolle nicht nur mit schwebenden, scheinbar leicht hingeworfenen Tönen aus, sondern zeigt auch glaubhaft, dass sie mehr von der Liebe begreift als ihr jugendlich stürmischer Angebeteter. Das unerfreuliche Ende der Oper ist nicht aufzuhalten, es wirken sowohl der von Lorenzo (Michael Wagner) vorbereitete Trank für den Scheintod als auch das Gift. Der finale Selbstmord erfolgt modern mit einer Pistole. Alle unglücklichen Protagonisten müssen ihr Leben lassen, nur der verbitterte Vater (Dominik Nekel) bleibt gebrochen zurück. Ein gelungener Abend, der in guter Erinnerung bleibt.

Susanne Dressler

„I Capuleti e i Montecchi“ (1830) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

Die Inszenierung ist als Stream bis 8. Mai 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“)