Andrea Moses zieht in Cottbus für „Mazeppa“ alle Register. Zumindest all die, die das Virus zulässt. Wie sich im Laufe des etwas über zweistündigen, pausenlosen Abends zeigt, sind gerade mal hundert Zuschauer privilegierte Teilnehmer eines Opernereignisses von Rang.

Im Graben müssen GMD Alexander Merzyn und die 26 zugelassenen Musiker des Philharmonischen Orchesters den ganz großen Tschaikowski-Opernton treffen. Was ihnen mit aller Kraft und viel Geschick hervorragend gelingt. Auf der Bühne tragen selbst die Sänger Mundschutz, wenn sie sich zu nahe kommen. An dieses „Maske auf – Maske ab“ gewöhnt sich der Zuschauer so schnell, wie es ihm im eigenen Alltag (und beim Überschreiten der Schwelle des Theaters) halt auch zunehmend gelingt. Die Sänger muss das nerven. Aber die Freude daran, endlich mal wieder ihren Beruf auszuüben, überwiegt hörbar. Das russisch singende Protagonisten-Ensemble ist phantastisch – vom kraftvollen Andreas Jäpel in der Titelpartie über Tenorstrahlemann Alexey Sayapin als Andrej bis hin zu Kim-Lilian Strebels leidenschaftlicher Maria und Ulrich Schneider und Gesine Forberger als deren Eltern. Der im gesamten ersten Rang verteilte Chor (Einstudierung: Christian Möbius) steuert von da nicht nur einen fulminanten Raumklang bei und diskutiert zuweilen das Geschehen.

Der charismatische Kosakenhauptmann Mazeppa ist bei Moses, Christian Wiehle (Bühne) und Meentje Nielsen (Kostüme) ein prototypischer Wende-Gewinner und Macher des einziehenden entfesselten Neukapitalismus. Bei seinem Politikerhabitus à la Trump blitzt szenischer Witz vor der heruntergekommenen Plattenbaufassade auf. Die hat eine offene Wunde in Form eines Sowjetsterns. Offenbar eine metaphorische Bruchstelle, die das private Alltagsleben der Menschen auch nach dem Ende der Sowjetherrschaft immer noch beherrscht. So wie auch das Trauma von Stalins Großem Terror. Daran wird erinnert, wenn der Vater Marias zum prototypischen Opfer der Mächtigen wird, der in der Neuerzählung der Geschichte in einer metaphorischen Todeszelle nicht nur in der Maske eines russischen Bären, aus Sowjetfahnen nostalgische Shorts mit Hammer-und-Sichel-Logo nähen, sondern unter Folter jeden noch so absurden Unsinn zugeben muss, der ihm in den Mund gelegt wird. 

Wenn in kyrillischer Schrift ein Plakat „besseres Wohnen in der neuen Residenz“ verspricht und in kyrillischen Lettern „Lüge“ darüber geklebt wird, spielt die Regie mit den erfahrungsgespickten Vorkenntnissen des Publikums in einem der östlichsten Theater der Republik.

Im deprimierenden Finale dieser eindrucksvollen Inszenierung hat Maria den Verstand verloren. Mazeppa hat Andrej erschossen und ist auf der Flucht. Das alte Hochhaus ist zerstört, etwas Neues wird wohl vorerst nicht gebaut. Kinder betteln zwischen den Ruinen. Und spielen Krieg. Was mag es da wohl nützen, dass sich die schwer gezeichnete Maria die kyrillischen Buchstaben für „Demokratie“ auf die Brust gemalt hat? 

Roberto Becker

„Mazeppa“ (1884) // Pjotr I. Tschaikowski