Wien / Wiener Staatsoper (Oktober 2020) „Eugen Onegin“ in unspektakulärem Einheitsbühnenbild
Die dritte Saison-Premiere an der Wiener Staatsoper beginnt zwei Tage zuvor mit einem unfreiwilligen Paukenschlag: Für Tamuna Gochashvili muss rasch eine neue Tatjana gefunden werden – Nicole Car springt ein und gibt ihr Hausdebüt vor ihrer geplanten „Faust“-Aufführung im nächsten April. Die Australierin schafft bei ihrem Sprung ins kalte Wasser eine einfühlsame Darstellung als „blasse Traurige und Schweigsame“. Die Briefszene gelingt dem schönklingenden Sopran vorzüglich mit ihrer dunklen Mittellage, aus der hohe Töne kraftvoll zu leuchten beginnen. Auch wenn es absolut unmöglich gewesen wäre, dass eine Frau im Russland des 18. Jahrhunderts den Dialog beginnt und einen heißblütigen Liebesbrief „an den Schutzengel oder heimtückischen Verehrer“ schreibt, kann der intensive Vortrag voller Zweifel und mit umfassender Zartheit berühren. Unverständlich ist nur, warum bei einem der Höhepunkte dieses Abends die Sessel an dem Tisch lautstark umfallen müssen – Tatjanas Gefühlsausbruch wäre auch ohne diesen Lärm glaubwürdig genug gewesen. Hausdebütant Andrè Schuen bietet vokal und darstellerisch eine solide Leistung, mitreißen kann sein Onegin aber mit wenig Leidenschaft (auch im letzten Akt) und seinem unauffälligen Bariton nicht; gut gefallen seine zur Schau gestellte Eitelkeit und Kühle. Brillant erlebt man hingegen Bogdan Volkov, der für die Rezensentin vom jugendlichen, feingliedrigen Aussehen und mit seiner eindringlichen Interpretation der ideale träumerische, sensible und tragische Lenski ist. Nach Olgas Koketterie ist der Dichter zutiefst verletzt und singt – in dieser Produktion – das Couplet von Triquet. Dies gelingt stimmlich famos und passt auch inhaltlich treffend, um einen Lenski zu zeigen, der – nach seinem empfunden großen Drama – Aufmerksamkeit sucht und geliebt werden will (auch wenn er sich dabei lächerlich macht). Schwermütig nimmt der russische Tenor bei „Kuda, Kuda“ mit zarten pianissimi und sentimentaler Höhe Abschied vom Leben und den entschwundenen Tagen seiner goldenen Jugend – ein fantastischer Glanzpunkt des Abends, bevor sich nach einem Gerangel mit Onegin an dem langen Tisch des Einheitsbühnenbildes ein tödlicher Schuss löst. Als sein „ausgelassenes Vögelchen“ Olga spielt die kokette Anna Goryachova mit frischem, dunklen Mezzo keineswegs das unschuldige Mädchen, sondern wirkt mit Kaltschnäuzigkeit sehr herablassend gegenüber ihrem Verlobten. Die Rolle des Fürsten Gremin ist dankbar: Der noble Russe Dimitry Ivashchenko kann sich zwei Akte vorbereiten, singt seine Arie mit sonorer Tiefe und Ausdrucksstärke, räumt ab und bekommt für sein schönes Liebesgeständnis auch noch den Sopran. Eine starke Leistung bietet Larissa Diadkova als Amme Filipjewna, die unglücklich von ihrer erzwungenen Eheschließung im 13. Lebensjahr erzählt.
Das Dirigat unter Tomáš Hanus bringt den lyrischen Charakter gut heraus, die intensiven Streicher neigen zur Melancholie und die dramatischen Steigerungen brechen lautstark aus. Regie und Bühnenbild von Dmitri Tcherniakov wurden 2006 für das Bolshoi-Theater Moskau kreiert und waren bereits in Paris, London, New York und Tokio zu sehen. An einem riesigen Tisch wird gegessen, geträumt, getrunken oder man duelliert sich. Die Personenführung wird bis ins kleinste Detail gezeichnet und zeigt spannende Charakterstudien über die Tragödien von Tatjana, Onegin und Lenski. Das Publikum ist vor allem erfreut, die ungeliebte Inszenierung von Falk Richter losgeworden zu sein, und das ausverkaufte Haus inklusive Plácido Domingo jubelt.
Susanne Lukas
„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski