Registrierung
Schlagwort

Premierenstreaming

Auf dem Weg zum großen Kino

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Das Staatstheater Braunschweig wartet mit dem 2004 uraufgeführten Opern-Psychothriller „Hanjo“ des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa beinahe im Kintopp-Format auf. Der auf des Messers Schneide balancierende Dramentext Yukio Mishimas und das von Hosokawa ins Japanische übersetzte Musikidiom der europäischen Nachkriegsavantgarde bieten treffliche Voraussetzungen. Isabel Ostermanns Regie lässt offen, was im Dreipersonen-Einakter Realität, was Projektion, Traum oder gar Wahn ist. Gut möglich, dass sie unmerklich ineinander übergehen oder gar erhebliche Schnittmengen bilden. Die seit geraumer Zeit des Geliebten harrende Hanako jedenfalls erklärt auf all diesen Ebenen das Warten zum Seinszustand. Der sie darin bestärkenden Malerin Honda gelingt daher, die junge Frau in Abhängigkeit von sich zu halten. Selbst das Auftauchen des lang ersehnten Liebhabers ändert nichts daran. Ausstatter Stephan von Wedel siedelt das Geschehen in einem Mietshaus an, dessen Querschnitt in der Totale erst einmal wenig Filmisches, sondern ein portalfüllendes Bühnenbild präsentiert. Geht es dann aber in Malerin Hondas stylisches Appartement, von dem eine Wendeltreppe in Hanakos Kombination aus Kerker und Jungmädchenzimmer hinabführt, rückt Ismail Khudidas Kamera den Figuren beklemmend nahe auf den Leib und zu Gesicht. Kontrastiv dazu blickt Khudida den Figuren immer wieder über die Schulter und zeigt die Gesichter geradezu symbolisch im verlorenen Profil. Ebenso augen- wie ohrenfällig tritt die stückimmanente Verschiebung von Wirklichkeit und Wahrnehmung zutage, wenn Bild und Ton auseinanderdriften, indem Lippenbewegungen und Gesang die Synchronität entzogen wird.

Auch musikalisch überzeugt die Produktion. Bezwingend arbeitet Alexis Agrafiotis mit dem Staatsorchester Braunschweig die filmmusikalischen Qualitäten der Partitur so heraus, dass das Blut in den Adern zu gefrieren droht. Darstellerisch und vokal erfüllt Jelena Banković die Seele der Titelfigur randvoll mit zuweilen kantabel überbordendem Warten. Milda Tubelytė verleiht der im Inneren brodelnden Honda äußere Fassung und Kühle samt scharsinnig-intellektuellem Raffinement. Auf sanglich eleganter Linie bewegt Maximilian Krummen den chancenlosen Liebhaber Yoshio. So sehr für die Zukunft auf Produktionen vor dann wieder physisch anwesendem Publikum zu hoffen ist: Das Staatstheater Braunschweig hat mit „Hanjo“ einen Weg der Synthese von Musiktheater und Film gefunden. Nun herrscht Spannung auf künftige Rückkopplungseffekte für die Bühne.

Michael Kaminski

„Hanjo“ (2004) // Oper von Toshio Hosokawa

Die Inszenierung ist als Stream bis 4. Januar 2022 über die Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).

Entfesseltes Welttheater

Mannheim / Nationaltheater Mannheim (Mai 2021)
Rameaus „Hippolyte et Aricie“ als opulentes Opernfest

Mannheim / Nationaltheater Mannheim (Mai 2021)
Rameaus „Hippolyte et Aricie“ als opulentes Opernfest

Für das Nationaltheater Mannheim ist die Erstaufführung einer Oper von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) ein Ereignis. Mit 50 Jahren hatte Rameau 1733 seine erste Oper „Hippolyte und Aricie“ auf die Bühne gebracht. Der Vorlage von Racine folgend, könnte sie ebenso gut „Phèdre“ heißen. Denn die mächtige Frau, die ihren Stiefsohn aktiv begehrt, steht im Zentrum der Geschichte. Dessen Geliebte Aricie ist ebenso eine Nebenfigur wie der zeitweise totgeglaubte Gatte Phèdres, Thésée. Der Rest des Personals ist staatstragende Umrahmung. Mit Göttern und Nebenfiguren, die auf die Spitze der Machtpyramide zulaufen. Es macht Sinn, dass Patrick Zielke, als Göttervater Jupiter unschwer als ein den XIV., XV. und XVI. zusammenfassender, gealterter Ludwig zu erkennen ist. Der fährt in goldener Kutsche vor, ruft das berühmte „Der Staat bin ich“ und setzt das folgende französische Welttheater in Gang, überstrahlt es aber längst nicht mehr. Hier liegt ein atmosphärisch melancholisches Abendlicht über der Szene.

Regisseur Lorenzo Fioroni und Barockspezialist Bernhard Forck am Pult haben ihre gekürzte Fassung der fünfaktigen Tragédie lyrique zu einer Melange aus großer Show, entfesselter Theateropulenz und hintersinniger Haupt- und Staatsaktion gemacht. Es wird stringent erzählt, die Entstehungszeit reflektiert und dabei das Wissen der Nachwelt um den Untergang des Ancien Régime dezent in die entfesselte Bilderflut integriert. Die barocke Contenance wird bei all den kleinen Störversuchen von auftauchenden Hippie-Demonstranten oder den (immer dosiert bleibenden) Video-Einblendungen, die sozusagen in die damalige Zukunft blicken, immer gewahrt, denn das Publikum im Saal (der famose Chor) ist barock ausstaffiert und macht so den Zuschauerraum zum Teil der Bühne von Paul Zoller.

Sophie Rennert ist eine mit Aplomb und Intensität zupackende Phèdre, die den begehrten Stiefsohn unmissverständlich in Dessous empfängt. Charles Sy gerät dabei als Hippolyte sichtbar in die Bredouille, bleibt aber mit seinem tenoralen Schmelz immer in der Spur. Er und seine Geliebte Aricie (Amelia Scicolone) sind in ihrer Aufmachung aus unserer Gegenwart in die Zeit der Intrigen von Göttern und Konventionen gefallen (Kostüme: Katharina Gault). Und entfliehen am Ende mit gepackten Koffern auch dorthin. Die Bühne ist eine Mischung aus Bühne, Garderobe und Requisiten, bietet aber dennoch Platz bietet für perfekt sitzende, verfremdende Balletteinlagen (Choreografie: Pascale-Sabine Chevroton). Wie ein Revuegirl aufgeputzt, treibt Marie-Belle Sandis als Oenone und Amor das Verhängnis voran. Bei seinem Ausflug in die militärisch beherrschte Unterwelt handelt Thésée (Nikola Diskić) eine Rückkehr zu den Lebenden ab. Dass er die Hölle, die er zu verlassen glaubt, dann bei sich daheim vorfindet, weil sich seine Frau gerade seinen Sohn gefügig machen will, ist der dramatische Clou des Stückes. An den Bildschirmen freilich war man eindeutig im Opernhimmel.

Joachim Lange

„Hippolyte et Aricie“ (1733) // Tragédie lyrique von Jean-Philippe Rameau

Die Inszenierung ist als Stream bis 31. Juli 2021 kostenfrei über die Plattform OperaVision abrufbar.

Zersplittert

Hannover / Staatsoper Hannover (April 2021)
Brittens „The Turn of the Screw“ in dichter Filmkunst

Hannover / Staatsoper Hannover (April 2021)
Brittens „The Turn of the Screw“ in dichter Filmkunst

Kann man die Spaltung einer Persönlichkeit, also eine schizophrene Symptomatik zum Thema eines Bühnenstückes machen? Benjamin Britten ist das mit seiner faszinierenden Oper „The Turn of the Screw“ gelungen. Seit der Uraufführung 1954 in Venedig fordert dieses finstere Psychodrama die Opernhäuser der Welt heraus. Jetzt hat sich die Staatsoper Hannover dieser Aufgabe gestellt. Und auf breiter Front gewonnen. Die aktuellen Corona-Bedingungen forderten eine Streaming-Version. Klug die Entscheidung, mit den erfahrenen Video-Machern der Firmen BFMI und OTB zusammen zu arbeiten. Das garantiert eine überzeugende, fernsehgerechte Umsetzung der Opernproduktion. Und die geht unter die Haut.

Dafür sind zuerst die gesanglichen und darstellerischen Meisterleistungen des Gesangsensembles verantwortlich. Allen voran Sarah Brady in der Hauptrolle der immer mehr von psychotischen Obsessionen befallenen Gouvernante. Stimme und Schauspiel lässt sie von wunderbar durchsichtigem Piano bis hin zur großen dramatischen Geste zur Einheit verschmelzen. Erschreckend glaubwürdig gestaltet sie die Entwicklung der anfänglich zugewandt agierenden Erzieherin zur immer mehr vom Wahnsinn heimgesuchten Psychopatin, inklusive sexueller Obsession. Diese Gouvernante möchte man am Ende direkt bei der psychiatrischen Notaufnahme abliefern. Monika Walerowicz als Hausdame und Barno Ismatullaeva als herumgeisternde Miss Jessel sind ebenfalls herrlich singende Darstellerinnen auf Augenhöhe. Weronika Rabek wirkt in der Rolle des Mädchens Flora zwar zu erwachsen. Gleichwohl ist es für die junge Sängerin eine gut absolvierte Bewährungsprobe. Zu den stimmlichen Highlights werden die geisterhaften Erscheinungen des ehemaligen Hausdieners Quint, meistens aus dem Off gesungen. Dafür engagierte Hannover den hinreißend singenden südafrikanischen Tenor Sunnyboy Dladla. Schwingen in seiner Darstellung nicht Erinnerungen an Brittens Lebensgefährten Peter Pears mit, für dessen einzigartige Stimme Britten die Rolle des Mr. Quint einst entworfen hatte? Beklemmend überzeugend auch, wie Jakob Geppert den von der Gouvernante immer mehr in die Enge getriebenen Knaben Miles gestaltet.

Die ganze Inszenierung spiegelt wider, dass Britten seine 16 Szenenfolgen ursprünglich für eine filmische Umsetzung gedacht hatte. Das passt natürlich bestens zu den Anforderungen einer Streaming-Produktion. Das Kreativteam mit Immo Karaman (Regie), Thilo Ullrich (Bühne), Fabian Posca (Kostüme und Bewegungscoaching), Susanne Reinhardt (Licht) und Philipp Contag-Lada (Video) stellt das Geschehen in ein komplett schwarz-weiß gehaltenes Ambiente. Das minimalistisch gehaltene Bühnenbild verändert sich ständig szenengerecht per Videoprojektionen. Die so entstehenden, an Bauhaus-Ästhetik erinnernden Formen geben Rahmen und Hintergrund für die dicht konzentrierte Personenführung.

Die kleine Besetzung des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover schafft unter der sensibel mit der Bühne kommunizierenden Leitung seines Chefs Stephan Zilias mit durchsichtigem Klang kammermusikalische Höhepunkte, kann dabei aber auch zu rauschend-leidenschaftlichem Großklang hochfahren. Am Schluss anhaltenden Beifall und viele Vorhänge. Studiofake oder doch etwas Publikum im Saal? Egal. Verdient war das auf jeden Fall.

Claus-Ulrich Heinke

„The Turn of the Screw“ (1954) // Oper von Benjamin Britten

Die Inszenierung ist als Stream wieder am 15. Mai 2021 um 19.30 Uhr über die Website des Theaters verfügbar.

Mediales Allerlei um Nichts

München / Bayerische Staatsoper (April 2021)
Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna“ kehrt an seinen Uraufführungsort zurück

München / Bayerische Staatsoper (April 2021)
Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna“ kehrt an seinen Uraufführungsort zurück

Zehn Jahre nach der Uraufführung am 4. Dezember 1909 im damaligen Noch-Hof-, dem heutigen Nationaltheater war es letztlich inhaltlich, weil gesellschaftlich vorbei: Der neue Frauen-Typ des „Flappers“ durchtanzte die „Roaring Twenties“ – und rauchte natürlich, privat wie öffentlich. Dennoch war das fast in eine Ehekatastrophe mündende „Geheimnis“, das heimliche Rauchen Susannas, erfolgreiche Opernnostalgie noch bis in die siebziger Jahre.

Grundsätzlich ist es erfreulich, wenn die Bayerische Staatsoper ihre Geschichte reflektiert. Denn über die Uraufführung hinaus pflegte Ermanno Wolf-Ferrari enge Beziehungen zu München und Bayern – und außerdem passt der 45-minütige Einakter für zwei Sänger und einen stummen Diener perfekt in den Pandemie-Spielplan der „Montagsstücke“ als Lebenszeichen: Wir produzieren und spielen dennoch für unser Publikum!

Ebenso „dennoch“ wird Regisseur Axel Ranisch klar gewesen sein, dass das Werk inhaltlich „total out“ ist. Also hat er es multimedial aufgeblasen. Der Diener Sante führt die Zuschauerkamera zum offenen Spielpodest mit etlichen Möbeln auf der großen Bühne des Nationaltheaters (Ausstattung: Katarina Ravlic und Christian Blank). Dort ist auch das relativ große Bayerische Staatsorchester postiert: mit dem Rücken zum schwach erleuchteten leeren Zuschauerraum. Sante beginnt das nur noch albern wirkende Spiel zu inszenieren: Misstrauen von Graf Gil; Gräfin Susannas Verschleierung ihrer Tabak-Einkaufsgänge; Nebenbuhler-Eifersucht und Rauch-Schnuppern des neurotischen Hausherrn; Rauchen Susannas mit Sante; Ertapptwerden; Versöhnung und Bekehrung des Grafen zum Rauchen; das alles in heutigen Kostümen … Da hilft nur „Aufwand“: Regisseur Ranisch „doubelt“ die Handlung durch visuelle Film-Verlegung in eine Edelvilla in München-Nymphenburg, wo die Sänger stumm agieren mussten, während Gesang und Orchester von der Live-Aufführung im Theater kommen. Szenenwechsel hin und her und dann auch noch Überblendungen. Doch für überzeugendes Stumm-Film-Agieren in Nahaufnahme hätte Ranisch über ein paar Probenwochen und die Sensibilität eines Christof Loy für Personenregie verfügen müssen. Das war beides nicht gegeben, also: Aufwand und Aktionismus.

Dem Nachlesen nach hat 1958 Peter Ebert in Glyndebourne die stumme Dienerrolle zu einem umjubelten Kabinettstück geformt. Ranisch macht aus dem beleibten Heiko Pinkowski nicht nur einen wenig überzeugenden Regisseur, sondern auch noch den wenig „gustiösen“ Lover von Graf wie Gräfin mit einem Ende als „Ménage à trois“ – ach, wie zeitgemäß chic! Oder: ein nettes Nichts verschlimmbessert!

Ein wenig Trost aus der Musik: Dirigent Yoel Gamzou macht etliches der kleinen Preziosen und Raffinessen von Wolff-Ferraris Partitur hörbar, anderes geht in der Bilderflut einfach als Soundtrack unter. Selene Zanetti und Michael Nagy singen sehr gut, trotz Produktion dauernder E-Zigaretten-Rauchwolken. Insgesamt passt Shakespeares „Much Ado … um Nichts“.

Wolf-Dieter Peter

„Il segreto di Susanna“ („Susannens Geheimnis“) (1909) // Intermezzo von Ermanno Wolf-Ferrari

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 28. April 2021, 19 Uhr für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 9,90 Euro.

Grenzüberschreitung

Antwerpen / Opera Ballet Vlaanderen (April 2021)
Purcells und Kalimas „Dido and Aeneas“ auf Entdeckungsfahrt

Antwerpen / Opera Ballet Vlaanderen (April 2021)
Purcells und Kalimas „Dido and Aeneas“ auf Entdeckungsfahrt

Die Produktion ist ein Meilenstein. Es geht von ihr eine völlig neue, Opernbühne und Filmstudio verschmelzende Ästhetik aus. Zwar wurde das Amalgam aus Purcells Oper und den Ergänzungen des finnischen Jazzkomponisten Kalle Kalima im Jahr 2019 bereits in Lyon und bei der Ruhrtriennale gezeigt. Doch erst Regisseur David Martons Entschluss, sich den Herausforderungen durch die Pandemie offensiv zu stellen, bereitete den Boden für das richtungweisende Ergebnis.

Der Reihe nach: Chefgott Jupiter und Gemahlin Juno betätigen sich in einem Ruinenfeld als sorgsame Archäologen, wobei sie kommunikations- und informationstechnische Artefakte aus der Zukunft wie Mobiltelefon, Computermaus und Kabelsalat zutage fördern. Relikte, die jene immer virulente Geschichte der Königin von Karthago mit dem trojanischen Flüchtling aufrufen. Final sollen die Bodenfunde verscharrt werden, doch bleibt die Story zu präsent, um neuerlich unter die Erde zu geraten. Für all dies münzt David Marton die Zwänge der Covid-19-Lage zur Tugend um. Die Theatralität des Werks bleibt erhalten, genuin cineastische Elemente kommen durch Nahaufnahmen sowie mehr oder minder steile Draufsichten bis zur Vogelperspektive hinzu. Auch hat Marton mit den Sängern eine für Close-ups taugliche Mimik erarbeitet. Christian Friedländers Szenografie changiert bruchlos zwischen Filmsequenzen, wie der in einem fahrenden Auto, und Bühnenbildhaftem, so bei manchem Horizont und einem demonstrativ künstlichen Baum. Pola Kardum kleidet die Personage im Fall von Göttern und Aeneas antikisierend, Dido und Belinda kommen heutig daher.

Trotz Crossover zwischen Alter Musik und Jazz ist die Produktion musikalisch aus einem Guss. Das B’Rock Orchestra bewährt sich gleichermaßen auf der Barockschiene und beim Jazz. Am Pult sorgt Bart Naessens für fließende Übergänge vom Einst zur Gegenwart. Alix Le Saux ist eine ebenso anmutige wie rührende Dido. Guillaume Andrieux gibt einen rollenbedingt etwas eindimensionalen Aeneas. Claron McFadden versieht Belinda mit vokal reich facettierten Farben. Umwerfend präsent bietet Erika Stucky ihre Jazzröhre für die Zauberin und Zwischenspiele auf. Schauspielerin Marie Goyette stattet Juno mit performancehafter Groteske und Bizarrerie aus. Eher unauffällig agiert der Jupiter von Thorbjörn Björnsson.  Zu hoffen steht, dass das mit dieser Produktion betretene Neuland künftig weiter erschlossen wird.

Michael Kaminski

„Dido and Aeneas“ (1689/2019) // Henry Purcell / Kalle Kalima

Die Inszenierung ist bis 8. Mai 2021 als kostenpflichtiger Stream über die Website des Theaters verfügbar.

Geisterbahn

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
Pascal Dusapins finsterer „Macbeth Underworld“ als faszinierendes Horrorspektakel

Saarbrücken / Saarländisches Staatstheater (April 2021)
Pascal Dusapins finsterer „Macbeth Underworld“ als faszinierendes Horrorspektakel

Das Saarländische Staatstheater begreift die Krise als Chance. Begünstigt durch den Corona- Sonderweg der Landesregierung, bringt das Haus eine beispielhafte Premiere als deutsche Erstaufführung vor zwar pandemiebedingt limitiertem, immerhin aber physisch im Großen Haus anwesendem Publikum heraus. Das vor knapp anderthalb Jahren am Brüsseler La Monnaie uraufgeführte Werk setzt die Titelfigur samt Gemahlin unter permanenten Wiederholungszwang. Der Fluch der bösen Tat ist, dass sie immer von neuem durchlebt und dabei in ihrer grässlichen Sinnlosigkeit fortschreitend offenbarer wird. Wahnsinn und kryptisches Raunen, wie es die Sprache im Shakespeare-Stück zulässt, werden im Libretto von Frédéric Boyer auf die Spitze getrieben. Dusapins Musik verleiht dem orgelbrausende und streichersatte orchestrale Struktur sowie eine vokale Prägnanz, die sich besonders im Fall der Lady auf der spannungsgeladenen Schwelle zwischen rhythmischem Sprechen und Arioso bewegt.

Regisseur Lorenzo Fioroni erzählt – soweit das Geschehen es zulässt – stringent und billigt daher dem Wahnsinn so einiges an Methode zu. Die Zwänge, unter denen der Schottenkönig und seine Lady stehen, zeigen sich auf diese Weise desto augenfälliger. Permanentes Händewaschen und das Klopfen an Burg- und Höllenpforte geben ihrem untoten Dasein den Takt vor. Eros und Thanatos fließen ineinander über. Wenn die Lady in Dessous und rittlings einen Sarg besteigt, gewinnt das ebenso plakative wie eindrückliche Bildkraft. Die „Hexen“ wiederum formieren sich zu anmutigen, von klassischen Ballettchoreographien inspiriert moralinfreien Grüppchen jenseits von Gut und Böse. Paul Zoller baut für den Spuk eine wie mit Leichentüchern ausgeschlagene Bühne, von der eine riesige, sich oft in gefährlicher Schräge aufstellende Bettstatt aufragt. Entscheidend zur Gesamtwirkung der Produktion tragen die Kostüme von Katharina Gault bei. Macbeth steht wortwörtlich verstanden in Unterhosen da, die Gemahlin legt sich auch garderobenmäßig eine Vamp-Attitüde zu, die allzu dick aufträgt, um nicht den Verdacht zu erwecken, darunter verberge sich ganz anderes. Die „Hexen“ in weißen Tutus muten mit leicht ironischer Note versehen höchst grazil an, in Smoking und Stahlhelm charmant-frech.

Wie szenisch, so ist der Abend auch musikalisch ein Treffer. Die Damen des Opernchors hat Jaume Miranda zu verlockend-boshaftem Gleißen und attraktiv-gefährlichem Zirpen inspiriert. Justus Thorau realisiert mit dem Saarländischen Staatsorchester Dusapins Partitur gleichermaßen analytisch scharfsinnig und sinnlich zupackend. Streicher und Orgel treiben ihr klanglich opulentes Unwesen. Peter Schöne steigert seinen Bariton für die Titelfigur im Laufe des Abends in den auftrumpfenden, aber vergeblichen Kampf gegen das Verhängnis. Die Lady misst bei Dshamilja Kaiser vokale Facetten aus, die von robustem Eros und handgreiflichem Verbrechen bis zu Irrsinn wie aus dem Lehrbuch und luzidem Wahn reichen. Hiroshi Matsui gibt den Ghost mit Stentorbass. Auch alle weiteren Partien sind höchst angemessen besetzt.

Michael Kaminski

„Macbeth Underworld“ (2019) // Oper von Pascal Dusapin

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Gefühl contra Identität

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (April 2021)
Vera Nemirova inszeniert Kurzfassung von Künnekes „Vetter aus Dingsda“

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (April 2021)
Vera Nemirova inszeniert Kurzfassung von Künnekes „Vetter aus Dingsda“

„Wenn schon Krise, dann aber bitte mit Schmackes!“, galt schon 1921. Die Uraufführung von Eduard Künnekes Revue-Operette „Der Vetter aus Dingsda“ wurde zu Beginn der furchtbaren Inflation ein prompt mit „Dennoch!“ umjubelter Erfolg. Damit ist die derzeitige Covid-Krise noch nicht zu vergleichen. Aber das Staatstheater Nürnberg mag sich gesagt haben, gegen den anschwellenden Unmut „einfach mal unterhaltsame Albernheiten zu setzen“, und bietet eine pausenlose Kurzfassung als Stream an.

Weil das theatralisch Leichte bekanntermaßen das wirklich Schwere ist, muss ein Team ran, das Handwerk und Ziel vereinen kann. Die sich sonst mit Opern-Schwergewichten befassende Vera Nemirova wurde mit der Regie betraut. Und da sie seit Jahren symbiotisch stets mit ihrer Mutter Sonja inszeniert, wurde diese gleich mitengagiert. Das Produktionsteam kürzte den Dreiakter auf pausenlose 90 Minuten, straffte und modernisierte die kurzen Dialogteile zwischen den schlager-populär gewordenen Musiknummern vom „armen Wandergesell“, dem Lied an den „Strahlenden Mond“ bis hin zu den „Sieben Jahren in Batavia“. Was 1921 in der Kolonie-enteigneten Weimarer Republik noch zu dem Wortwitz taugte, dass dieser vor Jahren nach „Ba…Ba…Batta… äh, eben nach Dingsda“ ausgewanderte Roderich hoffentlich verschollen bleibe. Die reiche Erbin Julia liebt ihn aber noch immer (jetzt per täglicher SMS), leider nur ohne Antwort. Das lässt die geldgierigen Vormünder „Tante und Onkel“ Josse und Wimpel hoffen und vorläufig in sich hineinfressen, was nur geht. Julias gerade für volljährig erklärtes und sehnsüchtig glühendes Herz entflammt jedoch für den hereinschneienden Augustin. Es folgen allerlei Verwicklungen, in denen Gefühle und Identitäten durcheinanderwirbeln: Romeo und Julia grüßen mit Shakespeare-Zitaten, der echte Roderich taucht als längst anderweitig orientierter Weltenbummler auf und „wie im Märchen“ kriegen sich Julia und Augustin. Deren resolute Freundin Hannchen nimmt derweil Roderich – und wer nicht weiterweiß, soll „nach Batavia“ …

Mit ihrer vertrauten Ausstatterin Pavlina Eusterhus verlegt Regisseurin Nemirova die Handlung in ein zeitlos-heutiges Einheitsbühnenbild. Mit ein paar Garten- und Liegestühlen deutet sie wechselnde Schauplätze an. Bis hin zu Julias „Wolkenkuckucksheim“: ein halbhoch gelegenes Gewächshaus, wo neben Grünzeug eben auch ihre „Liebe“ blühen kann und der Mond gleich nebenan als Lampion leuchtet. Dem Schmiss von Musik und Revue-Operette folgend, führt Nemirova eine temporeiche Personenregie.

Lutz de Veer dreht mit der auf Abstand sitzenden Staatsphilharmonie Nürnberg wiederholt sprudelnd auf. Das setzt ein engagiert mitgehendes Ensemble um, von Onkel und Tante (Taras Konoshchenko und Franziska Kern), dem resoluten Hannchen von Paula Meisinger und guten Nebenfiguren bis zu dem jugendlich lockeren Augustin-Tenor von Martin Platz sowie dem ihn süß überstrahlenden Julia-Sopran von Andromahi Raptis. Verwechslungsreiche Situationskomik, immer mal Wortwitz, augenzwinkernd als irre Realität servierte Unwahrscheinlichkeiten, frech entlarvtes, unausrottbar Allzumenschliches und all das in sofort eingängigen Melodien: Fern der „Kreisch-Brüll-Schenkelklopf“-Unterhaltung in den Massenmedien beweisen diese oft erst als Gebrauchsware produzierten, aber eben aufgrund ihrer Qualitäten zu „Klassikern“ gewordenen Werke theatralische Lebendigkeit. Erst recht in unlustigen Zeiten.

Wolf-Dieter Peter

„Der Vetter aus Dingsda“ (1921) // Operette von Eduard Künneke

Die Inszenierung wird am 7. Mai 2021 um 19.30 Uhr wieder als Stream über die Website des Theaters abrufbar sein; weitere Termine sollen folgen.

Liebe auf Distanz

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Duisburg / Deutsche Oper am Rhein (April 2021)
Boris Blachers „Romeo und Julia“

Ihre Hände berühren sich nur beinahe. Umrunden einander, formen einen Raum zwischen sich, den sie nicht überwinden können, und strecken sich bis ins letzte Fingerglied, an wiederum sehnsüchtig ausgerenkten Armen – aber nicht einmal die Fingerkuppen küssen sich. So gebärdet sich die Liebesgeste des Grenzen sprengen(-wollen)den Paares Romeo und Julia auf der Bühne der Deutschen Oper am Rhein. Distanz ist der prägende Gestus in dieser Inszenierung von Manuel Schmitt auf Boris Blachers Kammeroper der Shakespeare-Tragödie.

Es ist der Beinahe-Moment, der Zerrissenheitsraum, kreiert von visueller und musikalischer Distanz, der die Spannung erzeugt, um für eine Stunde an den Stream bei OperaVision gefesselt zu sein. Distanzierte Musik ist wohl jene, deren Emotionen einen nicht opern-italienisch überrollen, sondern diese mit ihren speziellen intellektuellen und strukturellen Mitteln zwar überzeugend ausformt, sie aber eher bei den Charakteren belässt. So ist es bei Blacher.

Während sich dessen Werk durch seine starke inhaltliche Reduktion vom Shakespeare’schen Original entfernt und sich dabei auf die Liebenden fokussiert, wendet sich Regisseur Manuel Schmitt wiederum eher von diesen ab und stattdessen hin zu den gesellschaftlichen Umständen der Handlung. Diesen Blickwinkel verdeutlicht er mit der Bühneneinteilung (Heike Scheele): Julia ist die ganze tragische Stunde in eine tiefergelegte, karge Ebene eingelassen. Der achtköpfige Chor steht erhöht, darf mit Requisiten und miteinander interagieren; auch die Handlung liegt maßgeblich bei ihm. Das Spiel mit den Ebenen und ihren einhergehenden Distanzen ist intellektuell und schmackhaft.

Damit auch die Unterhaltung in dieser Distanzqual nicht zu kurz kommt, schreibt Blacher die Figur der Chansonnier*e, die das Spiel immer wieder kommentierend unterbricht und die Szene zeitweise in die Theater-im-Theater-Idee schubst. Da rutschen einem die trauernden Stirnfalten schon mal in ein amüsiertes Schmunzeln, wenn Spieltenor Florian Simson in Frauenkostümen über die Bühne tänzelt. Er gestaltet seine Rolle absolut fabulös unterhaltsam aus. Ein Grad des Schauspiels, den man nicht bei allen Beteiligten beglückwünschen kann.

Musikalisch wurde gerade vom Chor ganze Arbeit geleistet. Die zahlreichen a-cappella-Akkord-Kumulationen, die nicht selten von unharmonischen Einwürfen erschüttert sind, stapeln sich ziemlich ordentlich auf- und nebeneinander. In dieses Lob kann man das kleine Orchester mit einreihen. Die Komposition bietet kaum lyrische Phrasen, an denen es sich entlanghangeln könnte; stattdessen zeugt sie von der Mathematik, die der Komponist vor seiner musikalischen Ausbildung studierte. Dirigent Christoph Stöcker bringt diese komplexe Musik mit seinen neun Musikerinnen und Musikern auf den Punkt. Obwohl der inszenatorische Fokus nicht auf Romeo und Julia liegt, sind sie musikalisch immer wieder ein Nähe-Moment. Lavinia Dames und Jussi Myllys haben schon bei Anno Schreiers „Schade, dass sie eine Hure war“ bewiesen, was für ein mitreißendes Liebespaar sie sein können und wie bereichernd sich ihre beiden ziemlich speziellen Klangfarben miteinander vermischen.

Insgesamt passiert nicht wirklich viel in dieser kurzen Stunde Kammeroper. Aber das was passiert, in minimal und eher monochrom, das bringt opernhafte Emotionen. Und die tun tragisch gut. 

Maike Graf

„Romeo und Julia“ (1943) // Kammeroper von Boris Blacher

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Oktober 2021 kostenfrei über die Plattform OperaVision abrufbar.

Vokaler „Karfreitagszauber“

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Wien / Wiener Staatsoper (April 2021)
Wagners „Parsifal“ mit Traum-Ensemble

Musikalisch kann man Richard Wagners Spätwerk „Parsifal“ (Uraufführung 1882) derzeit wohl nicht besser besetzen: Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča entschied sich für die Wiener Staatsoper, um den seit Jahren angekündigten „Fachwechsel“ zu wagen. Das Ergebnis ist schlichtweg sensationell: Ihre Kundry ist je nach Bedarf lyrisch oder dramatisch, wechselt zwischen Belcanto-Samt und strahlenden Spitzentönen, agiert voller Spielfreude. Ein phantastisches Resultat – Amneris und Ortrud lassen grüßen! Auch Ludovic Tézier debütiert eindrucksvoll als Amfortas, Jonas Kaufmann sang zuvor erst einmal in Wien den „reinen Toren“ und ist in vokaler Höchstform – und Georg Zeppenfeld, Wolfgang Koch und Stefan Cerny komplettieren dieses „Traum-Ensemble“ als Gurnemanz, Klingsor und Titurel. Garanten für das hohe Niveau sind auch das Orchester und der Chor der Wiener Staatsoper unter dem ambitionierten Musikdirektor Philippe Jordan.

Pandemiebedingt findet „Parsifal“ zwar ohne Publikum statt. Regie und Ausstattung des russischen Dissidenten Kirill Serebrennikov, der trotz Ausreiseverbot vom Computer von Moskau aus agierte, werden jedoch hitzige Diskussionen auslösen. Der Allround-Künstler (Theater, Film, Oper) aktualisiert das „Bühnenweihfestspiel“ „auf Teufel komm raus“. Montsalvat ist ein südfranzösisches Gefängnis für „schwere Burschen“, Kundry fotografiert für ein Modemagazin (Blumen-Models), Amfortas kämpft erfolglos gegen die herrschenden Zustände. Und dann kommt es zu einem dramaturgischen Kniff, der das Pro und Contra zur Regie noch weiter anheizt: Parsifal wird doppelt dargeboten. Der Tenor (Jonas Kaufmann) wird durch sein um mindestens 20 Jahre jüngeres und stummes Double (Nikolay Sidorenko) ergänzt. Das wirkt so lange überflüssig, bis es zur Schlüsselszene – der misslungenen Verführung im zweiten Akt – kommt. Dann beginnt man das Konzept zu mögen – oder aber die Ablehnung wird noch größer! Der Rezensent gehört ersterer Gruppe an. Denn nach der vor Leidenschaft vibrierenden Kuss-Szene gibt es noch mehrere Episoden, die unter die Haut gehen: etwa die Herzeleide-Erzählung über Parsifals Mutter – da kommen auch noch die Großmütter hinzu und erinnern an die ewige Wiederkehr der Welt. Oder die Karfreitags-Szene, in der sich die Frauen der Gefangenen um Parsifal versammeln und Kerzen und Blumen bringen. Besonders eindrucksvoll: das Öffnen der Gefängnistüren und das einströmende Licht der Hoffnung. Alles in allem hätte man unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht mehr erreichen können.

Peter Dusek

„Parsifal“ (1882) // Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. Juli 2021 kostenfrei über ARTE concert verfügbar.

Manege frei!

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Heidelberg / Theater Heidelberg (April 2021)
„Lulu“ als packende Livestream-Premiere

Alban Bergs „Lulu“ umweht die besondere Aura des Unvollendeten. Nach Friedrich Cerhas Komplettierung des dritten Aktes 1979 ist die Entscheidung für die zweiaktige Fassung ein Statement. Deren Gesamtbearbeitung für Soli und Kammerorchester durch Eberhard Kloke kommt obendrein den pandemiebedingten Restriktionen entgegen. In der Regie von Axel Vornam und unter der musikalischen Leitung von Generalmusikdirektor Elias Grandy war diese Fassung jetzt als einmalige Streaming-Premiere zu erleben und wurde als digitale Preview für die noch nicht zu terminierende analoge Premiere deklariert.

Für den Bildschirm wechselt die Kameraführung in angemessener Frequenz zwischen der Totale des Einheitsbühnenbildes und den Naheinstellungen der Protagonisten. Das Manegen-artige Halbrund von Tom Muschs Bühne mit vier Drehtürelementen erweist sich als praktisch und im Handumdrehen wandelbar für alle Schauplätze, angereichert mit einem roten Riesensofa und Ausschnitten aus dem Porträt Lulus. Manchmal schaut einer der Protagonisten von oben über den Rand auf die Szene. Ganz so, als würde er in einem Terrarium Laborratten beobachten. Die fantasievoll ausschweifenden und bei passender Gelegenheit jede Menge nackte Haut zeigenden Kostüme von Cornelia Kraske verfremden Lulu und die Männer (und die Frau) um sie herum tatsächlich ein Stück in Richtung einer leichten Stilisierung.

Insgesamt erzählt Vornam die Geschichte unaufgeregt gradlinig. Das ermöglicht insbesondere der betörend lyrischen Jenifer Lary, alle Facetten einer schillernden Lulu auszuspielen. Sie ist kapriziös, offensiv verführerisch, skrupellos und dennoch einsam. Der sonore James Homann ist als Dr. Schön der sozusagen seriöse Fels in den Brandungen ihres bewegten Lebens, während Corby Welch dieser Frau als Alwa nicht mal ansatzweise etwas entgegensetzen könnte. Auf der anderen Seite nützen João Terleira als Maler und Ipča Ramanović als Tierbändiger offensiv zur Schau gestellte virile Attraktivität ebenso wenig, wie Gräfin Geschwitz die hochkonzentrierte Präsenz der Andersartigkeit, mit der Zlata Khershberg sie ausstattet. Lulu scheitert schließlich an sich selbst und an den Erwartungen, die die Männer, die die Welt beherrschen, an eigenen verkorksten Frauenbildern auf sie projizieren.

Am Ende entschwindet dieses (Alb-)Traumbild Frau fast wie unbemerkt. Und ein spannender Opernabend aus einem Guss am Bildschirm macht Lust aufs analoge Original im Theater Heidelberg. 

Roberto Becker

„Lulu“ (1937) // Opernfragment von Alban Berg; zweiaktige Fassung in einer Gesamtbearbeitung von Eberhard Kloke für Soli und Kammerorchester