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Vokale Schwerelosigkeit

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Wien / Wiener Staatsoper (Mai 2021)
Juan Diego Flórez brilliert in Gounods „Faust“

Spätestens bei der Kavatine des Faust „Salut! demeure chaste et pure“ wird klar, dass man Zeuge eines großen Belcanto-Opernabends ist – trotz fehlenden Publikums, andauernder Corona-Pandemie und einer teilweise provokanten Inszenierung durch Frank Castorf. Der neue Direktor Bogdan Roščić punktet schon allein durch seine exzellenten Besetzungen. Diesmal ist es der peruanische Tenor Juan Diego Flórez, der seinen ersten Bühnen-Faust gestaltet. In der Gounod-Oper (Uraufführung 1859) kann er beweisen, dass sein Singen an Dramatik zugenommen hat, er aber auch weiterhin über jene vokale Schwerelosigkeit verfügt, die seinen Faust an Nicolai Gedda oder Giuseppe di Stefano erinnern lässt. Die große Liebes-Szene ist ebenso wie das Final-Terzett von höchster Qualität – fabelhaft! Ein Glücksfall ist aber auch die Marguerite der australischen Sopranistin Nicole Car. Sie gehört seit ihrem Herbst-Einspringen als Tatjana in „Eugen Onegin“ zu den neuen Publikumslieblingen Wiens. Sie verfügt über eine dunkle Mittellage, hat keine Schwierigkeiten mit den Koloraturen der Juwelen-Arie und wird im Finale fast „hochdramatisch“. Dazu kommt ein Hochtalent aus Polen: Adam Palka, ein junger Méphistopélès mit rollenden Augen, einer „öligen“ Bass-Stimme und ausgeprägtem Spieltrieb. Exzellent auch der höhensichere Valentin des Franzosen Étienne Dupuis – und ebenfalls auf der Haben-Seite der Siébel von Kate Lindsey, die Marthe von Monika Bohinic und der Wagner von Martin Häßler. Am Pult steht der Wahl-Österreicher (RSO-Ära) Bertrand de Billy. Das Orchester der Wiener Staatsoper wie auch der Chor (Leitung Thomas Lang) wollen offenbar beweisen, dass man sich nicht durch den Lockdown in die Knie zwingen lässt.

Bleibt noch die Regie von „Altmeister“ Frank Castorf (Bühnenbild Aleksandar Denić). An ihr werden sich wohl wieder die Geister scheiden. Sie bietet zu viel gleichzeitig – Drehbühne, Live-TV-Elemente, Videozuspielungen (aktuelle Straßenszenen aus der U-Bahn) – und setzt eine mehrstündige Beschäftigung voraus. Wie soll man die vielen afrikanischen Kostüme (Adriana Braga Peretzki) einordnen, wenn man nicht aus dem Munde von Castorf hört, dass für ihn das Entstehungs-Jahr 1859 ein Synonym für den beginnenden Mega-Kolonialismus der Franzosen in Afrika ist? Den Rezensenten hat die Inszenierung dennoch voll überzeugt, nicht zuletzt, weil die musikalischen „Ohrwürmer“ zu dem Übermaß an Aktivismus positiv ausgeklammert bleiben. Und das musikalische Niveau ist tatsächlich außerordentlich. Opernfreunde werden sich daran gewöhnen müssen, zu überprüfen, ob es eine Erweiterung des Repertoires am Haus gibt. Elīna Garanča als neue Kundry und Juan Diego Flórez als idealer Faust innerhalb von 14 Tagen: Es kann so bleiben!

Peter Dusek

„Faust“ (1859) // Oper von Charles Gounod

Mediales Allerlei um Nichts

München / Bayerische Staatsoper (April 2021)
Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna“ kehrt an seinen Uraufführungsort zurück

München / Bayerische Staatsoper (April 2021)
Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna“ kehrt an seinen Uraufführungsort zurück

Zehn Jahre nach der Uraufführung am 4. Dezember 1909 im damaligen Noch-Hof-, dem heutigen Nationaltheater war es letztlich inhaltlich, weil gesellschaftlich vorbei: Der neue Frauen-Typ des „Flappers“ durchtanzte die „Roaring Twenties“ – und rauchte natürlich, privat wie öffentlich. Dennoch war das fast in eine Ehekatastrophe mündende „Geheimnis“, das heimliche Rauchen Susannas, erfolgreiche Opernnostalgie noch bis in die siebziger Jahre.

Grundsätzlich ist es erfreulich, wenn die Bayerische Staatsoper ihre Geschichte reflektiert. Denn über die Uraufführung hinaus pflegte Ermanno Wolf-Ferrari enge Beziehungen zu München und Bayern – und außerdem passt der 45-minütige Einakter für zwei Sänger und einen stummen Diener perfekt in den Pandemie-Spielplan der „Montagsstücke“ als Lebenszeichen: Wir produzieren und spielen dennoch für unser Publikum!

Ebenso „dennoch“ wird Regisseur Axel Ranisch klar gewesen sein, dass das Werk inhaltlich „total out“ ist. Also hat er es multimedial aufgeblasen. Der Diener Sante führt die Zuschauerkamera zum offenen Spielpodest mit etlichen Möbeln auf der großen Bühne des Nationaltheaters (Ausstattung: Katarina Ravlic und Christian Blank). Dort ist auch das relativ große Bayerische Staatsorchester postiert: mit dem Rücken zum schwach erleuchteten leeren Zuschauerraum. Sante beginnt das nur noch albern wirkende Spiel zu inszenieren: Misstrauen von Graf Gil; Gräfin Susannas Verschleierung ihrer Tabak-Einkaufsgänge; Nebenbuhler-Eifersucht und Rauch-Schnuppern des neurotischen Hausherrn; Rauchen Susannas mit Sante; Ertapptwerden; Versöhnung und Bekehrung des Grafen zum Rauchen; das alles in heutigen Kostümen … Da hilft nur „Aufwand“: Regisseur Ranisch „doubelt“ die Handlung durch visuelle Film-Verlegung in eine Edelvilla in München-Nymphenburg, wo die Sänger stumm agieren mussten, während Gesang und Orchester von der Live-Aufführung im Theater kommen. Szenenwechsel hin und her und dann auch noch Überblendungen. Doch für überzeugendes Stumm-Film-Agieren in Nahaufnahme hätte Ranisch über ein paar Probenwochen und die Sensibilität eines Christof Loy für Personenregie verfügen müssen. Das war beides nicht gegeben, also: Aufwand und Aktionismus.

Dem Nachlesen nach hat 1958 Peter Ebert in Glyndebourne die stumme Dienerrolle zu einem umjubelten Kabinettstück geformt. Ranisch macht aus dem beleibten Heiko Pinkowski nicht nur einen wenig überzeugenden Regisseur, sondern auch noch den wenig „gustiösen“ Lover von Graf wie Gräfin mit einem Ende als „Ménage à trois“ – ach, wie zeitgemäß chic! Oder: ein nettes Nichts verschlimmbessert!

Ein wenig Trost aus der Musik: Dirigent Yoel Gamzou macht etliches der kleinen Preziosen und Raffinessen von Wolff-Ferraris Partitur hörbar, anderes geht in der Bilderflut einfach als Soundtrack unter. Selene Zanetti und Michael Nagy singen sehr gut, trotz Produktion dauernder E-Zigaretten-Rauchwolken. Insgesamt passt Shakespeares „Much Ado … um Nichts“.

Wolf-Dieter Peter

„Il segreto di Susanna“ („Susannens Geheimnis“) (1909) // Intermezzo von Ermanno Wolf-Ferrari

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 28. April 2021, 19 Uhr für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 9,90 Euro.

Raffiniert gemixt

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (April 2021)
Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ mit Loriot-Texten

Das Stream-Bild zeigt den sich schließenden Eingang zum Bockenheimer Depot, diesem unbedingt erhaltenswerten „anderen Spielort“. Dann schweift der Blick durch die komplexe Dachkonstruktion, die altes Holzgebälk und modernen Stahl für die Theatertechnik vereint. Das Licht wirkt magisch bis exotisch – und da mischen sich auch Publikumsgeräusche und allerlei Tierlaute. Die Kamera führt in eine im dunklen Raum schwebende, opulente Loge à la Grand opéra: vergoldete Ornamente, roter Samt, Portalstützen aus antiken Nymphen. Da sitzt ein Herr im Frack und erzählt, dass niemand gekommen wäre, wenn es sich nicht „um ein kulturelles Ereignis von erregender Einmaligkeit“ handeln würde, den „Karneval der Tiere“. Er schaut durch sein goldenes Lorgnon – und wir mit ihm in zwei kreisrunde Blickausschnitte: auf eine wilde, bunte, aber „edel“ gekleidete Tiergesellschaft unten in der Sitztribüne. Da wird zu Tierkopf, -pfote, -pranke und -haut allerlei Talmi-Schmuck, Abendrobe, Pelz und sogar Kopfschmuck getragen – man ist ja schließlich wer! Eine gelungene Videomontage, mit der Ausstatter und Filmbildner Christoph Fischer und Regisseurin Katharina Kastening alle derzeitigen Besuchsverbote in einer Vorwegaufnahme gekonnt überbrücken. Da gibt es in regelmäßigen „Einblicken“ zwischen den Musiknummern was zu gucken und zu staunen, denn der Theater- und vor allem der Kostümfundus haben einfach „alles“ ausgegraben. So kunterbunt entlarvend, dass kurz philosophiert werden muss, ob nicht diese tierischen Exoten eher wir Menschen in allerlei Kostümen sind …

Nur kurz, denn dann setzt die Musik ein. Eine Krankamera hoch über dem Podium blickt senkrecht nach unten, auf die in Pandemie-Abständen sitzenden zwanzig Instrumentalisten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters sowie zwei offene Konzertflügel; an denen sitzen In Sun Suh und Lukas Rommelspacher, der spielt und dirigiert. In guter Klangtechnik wirkt der Marsch der Löwen wirklich „maestoso“, beschwören die Klavierläufe den Einzug der Hühner-Pyramide, führt der Kontrabass „pompös“ die Elefanten ein und beschwören Xylophon, Streicher-Sirren sowie Klavier-Perlen das „Aquarium“. Dazwischen wechselt das Bild immer wieder hinauf in die Loge, wo Schauspieler Christoph Pütthoff als „Kenner“ von Musik und Menschen die Zwischentexte von Loriot spricht. Der gab 1975 noch nicht wie in seinen späteren Klassikauftritten eminent wortwitzige, Opern-karikierende und herrlich entlarvende, sondern fein ironische Kommentare zum exquisiten Esprit der Musik. Pütthoff verstärkt dies mit kleinen mimischen Kommentaren, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Das Schmunzeln gipfelt in der quälend wiederholten Frage der jungen Katzen „Kommt jetzt der Schwan?“ als „Running Gag“ Loriots – und stellvertretend für das Musizieren aller sei das dann „grazioso“ erklingende Schwan-Cello-Solo von Sabine Krams genannt. Der musikalische „Zirkus“ klingt schließlich Cancan-nahe und fetzig aus. Nicht zu vergessen der Schluss-Coup der Inszenierung: Der Logenbesucher geht durch die leeren Reihen davon – da sitzt doch tatsächlich ein edel-weiß-gefiedertes, echtes Huhn gackernd auf einem Stuhl! Ist ihm das Taxi davongefahren? Gelungene musiktheatralische Unterhaltung.

Wolf-Dieter Peter

„Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) (1886) // Große zoologische Fantasie für Kammerorchester von Camille Saint-Saëns in der Textfassung von Loriot (1975)

Die Inszenierung ist als Stream bis 30. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

In Schönheit sterben

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Linz / Landestheater Linz (April 2021)
Ein starkes Ensemble verleiht Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ Flügel

Es dauert nicht lange und Wehmut schleicht sich ein, während man im heimischen Wohnzimmer den Stream von Vincenzo Bellinis „I Capuleti e i Montecchi“ verfolgt und sich doch eigentlich ins Linzer Musiktheater sehnt. Aber in Zeiten wie diesen muss man genießen, was möglich ist – und Genuss gibt es an diesem Abend reichlich. Die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia ist sattsam bekannt. Ihr Unglück ist die Folge eines erbitterten Streits zweier Familien in Verona, die neben persönlichen Befindlichkeiten auch noch unterschiedlichen politischen Lagern angehören, den Ghibellinen und Guelfen. Kriegerisch gebärden sich Cappelio, Clanchef der Capuleti, und seine Getreuen – insbesondere Tebaldo, der ein Auge auf die Tochter des Bosses geworfen hat. Dass Julia (bei Bellini Giulietta) ganz andere Pläne hat, weiß er noch nicht.

Regisseur Gregor Horres siedelt die auf Krawall gebürstete Familie vor einem anthrazitfarbenen, sich drehenden Betonquader an, der als Projektionsfläche für ein Video, eine Cocktailbar, ein Schlafzimmer und schließlich eine Grabkammer dient. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross unterstreicht die erstarrten Ansichten dieser Männergesellschaft, die, wenn gar nichts geht, nach Rache und Krieg schreit. Rache, weil Romeo, Sohn der feindlichen Montecchi, den männlichen Nachkommen der Capuleti in einer Schlacht erschlug. Tebaldo kämpft an vorderster Reihe als Rächer – vor allem, weil er als Preis seines Erfolgs die Heirat mit Giulietta erwarten darf. Tenor Joshua Whitener gibt den aalglatten Karrieremann, schafft es aber mit seiner Stimme, seiner Liebe zu Giulietta große Glaubhaftigkeit zu verleihen.

So startet die Oper ziemlich fulminant mit einem hochmotivierten Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Enrico Calesso. Richtig Fahrt nimmt der Abend mit dem Auftritt des Liebespaares auf. Bellinis Romeo ist eine Partie für einen Mezzosopran. Dadurch gestalten sich die gesanglichen Begegnungen der verzweifelt Liebenden nicht nur als eine Kette von Koloraturen, sondern auch als ein feinmelodisches Gewebe an Akzenten und Färbungen zwischen Sopran und Alt. Bellini hat sich mit seiner Komposition bereits vom reinen Schöngesang des Barocks entfernt, die traurigsten Botschaften kommen auf romantischen Wellen von lebhaften Dur-Tonarten daher und nehmen den Zuhörer völlig gefangen. Für dieses wohlige Gefühl sind in erster Linie die beiden Sängerinnen von Romeo und Giulietta verantwortlich. Anna Alàs i Jové gibt einen hingebungsvollen Liebhaber und lässt ihre weiche Stimme leuchten. Ilona Revolskaya füllt ihre Rolle nicht nur mit schwebenden, scheinbar leicht hingeworfenen Tönen aus, sondern zeigt auch glaubhaft, dass sie mehr von der Liebe begreift als ihr jugendlich stürmischer Angebeteter. Das unerfreuliche Ende der Oper ist nicht aufzuhalten, es wirken sowohl der von Lorenzo (Michael Wagner) vorbereitete Trank für den Scheintod als auch das Gift. Der finale Selbstmord erfolgt modern mit einer Pistole. Alle unglücklichen Protagonisten müssen ihr Leben lassen, nur der verbitterte Vater (Dominik Nekel) bleibt gebrochen zurück. Ein gelungener Abend, der in guter Erinnerung bleibt.

Susanne Dressler

„I Capuleti e i Montecchi“ (1830) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

Die Inszenierung ist als Stream bis 8. Mai 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“)

Schuld und Erkenntnis

Münster / Theater im Pumpenhaus (April 2021)
„Ødipus REC.“ im 21. Jahrhundert

Münster / Theater im Pumpenhaus (April 2021)
„Ødipus REC.“ im 21. Jahrhundert

Ist das ein Hörspiel, ein Schauspiel, eine Oper, eine Performance oder eine musikalische Rauminstallation? Diese Frage wirft der Livestream von „Ødipus REC.“ aus dem Pumpenhaus Münster auf. Am Schluss wird klar: Es ist alles zusammen. Das innovative Ensemble „The Navidsons“ setzt mit dieser Produktion seine Suche nach einer neuen Form des Musiktheaters fort. Diesmal hat das Ensemble eine Auseinandersetzung mit dem berühmten Ödipus-Stoff entwickelt, die tief beeindruckt. Besonders bemerkenswert: Man sieht nicht eine lediglich abgefilmte Bühneninszenierung, sondern eine fernsehgerecht aufbereitete Produktion.

Grundlage hierzu ist die Textcollage von Lisa Danulat. Die preisgekrönte Autorin konzentriert sich auf die dramatische Begegnung des unwissenden Königs Ödipus mit dem wissenden Seher Theresias. Für ihn nutzt sie unveränderte Ausschnitte der Hölderlin-Übersetzung des antiken Sophokles-Dramas. Diese setzt sie in Dialog zu ihrem eigenen Ödipus-Text. Dabei transferiert sie die im antiken Drama ausweglose Schuld-Verstrickung des Menschen durch Götterwillen in die medial-digitale Umzingelung des modernen Menschen, aus der er nicht entrinnen kann. Auch Querverweise auf den ABBA-Song „Waterloo“ und Michael Jacksons „Heal the World“ bezieht sie mit ein. Und die Mordtat des Ödipus verbindet sie mit einer surreal getexteten Unfallszene zwischen einem Hirsch und einem Auto. Das sind nur wenige Eindrücke der vielen assoziativen Bilder der Autorin. Beide Textteile sind wortgewaltig, bildstark und bedeutungsschwer.

Eine Herausforderung an die szenische Umsetzung. Die besteht das Ensemble in der klugen Regie von Till Wyler von Ballmoos ausgezeichnet. Vor allen fasziniert die Bühnenkunst der beiden herausragenden Hauptdarsteller, des Schauspielers Thomas Douglas (König Ödipus) und des Countertenors Michael Taylor (Seher Theresias). Douglas treibt mit nicht nachlassender Intensität in Sprache und Spiel seinen Ödipus mit teilweise explosiver Dramatik auf den Zusammenbruch angesichts der niederschmetternden Wahrheit hin. Und der wunderbar singende Countertenor erfüllt die melismatisch auskomponierten Hölderlin-Verse mit verzweifeltem und tragischem Ton, der unter die Haut geht. Leider auf Kosten der Verständlichkeit seiner Sprache. So bleibt die inhaltliche Bedeutung des Gesangs über weite Strecken unklar. Hier wäre eine Untertitelung dringend anzuraten.

Mit der Installation runder Spiegel bietet Ausstatter Tassilo Tesche ein einfaches, aber wirkungsvolles Gegenüber für die langen Selbstreflexionen, mit denen sich Ödipus zu Beginn in einem atemberaubend spannungsreichen Monolog auf der Suche nach seinem Ich herumquält. Danach bestimmt ein riesiges, frei schwebendes Skelett-Teil, an Gebärmutter und lange Beinknochen erinnernd, die Bühne. Es wird immer wieder von beiden Darstellern angespielt und einbezogen, wie auch das Instrumental-Quartett. Ole Hübner schrieb farbig instrumentierte Klänge, die das Geschehen mit expressiven Klängen begleiten. Die Musik bleibt zwar im Hintergrund, vertieft aber wesentlich die emotionalen Ebenen des psychodramatischen Geschehens.

Claus-Ulrich Heinke

„Ødipus REC.“ (2020) // Musiktheater von „The Navidsons“ (Komposition: Ole Hübner, Texte: Lisa Danulat)

Die Inszenierung ist als Stream via YouTube abrufbar.

Freiübung

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (April 2021)
„Le nozze di Figaro“ leitet einen neuen Mozart-Da Ponte-Zyklus ein

Offensichtlich gehört Mozart zu Daniel Barenboims Favoriten. Während der Jahrzehnte, in denen er an der Staatsoper in Berlin faktisch das Sagen hat, startet jetzt mit „Le nozze di Figaro“ zum dritten Mal ein neuer Da Ponte-Zyklus. Diesmal mit Vincent Huguet als Regisseur. Musikalisch kann man gegen diese ohne Saalpublikum gestreamte Produktion kaum etwas einwenden. Barenboim und die Musiker der Staatskapelle Berlin beherrschen ihren Mozart wahrscheinlich im Schlaf, schmecken freilich oft eher der puren Schönheit der Musik nach, als auf Verve zu setzen. Aber das Protagonisten-Ensemble, das umständehalber auf den verdienten Beifall verzichten musste, macht seine Sache hervorragend. Riccardo Fassi darf als Figaro nicht nur stimmliche Beredsamkeit, sondern auch Muskeln vorführen. Die jugendlich frische Susanna (Nadine Sierra) ist sich der Wirkung bewusst, die ihre Unschuldsmine auch auf den ebenfalls noch jugendlich wirkenden Grafen (Gyula Orendt) und Cherubino (Emily D’Angelo) hat. Besonderen Eindruck hinterlässt Elsa Dreisig, die der Gräfin höchst überzeugend die vokale Melancholie eines Stars verpasst, dessen Ruhm verblasst und deren Ehe (mit ihrem Produzenten und Manager) in der Krise ist. Erstklassig die selbstbewusste Marcellina von Katharina Kammerloher und alle anderen.

Bei der Inszenierung sind nicht die zupackenden Handgreiflichkeiten das Problem, wenn sie denn im Dienste der flotten Intrigen-Komödie stehen würden. Aber gerade die zündet in dem Achtziger-Jahre-Ambiente nicht wirklich. Vor wuchtigen Wänden haben Aurélie Maestre (Bühne) und Clémence Pernoud (Kostüme) modische Versatzstücke von der Designerküche, Andy-Warhol-Porträts der Hausherrin und einem ausgestopften Leoparden über die Discokugel fürs Partyvolk bis hin zu Aerobic-Klamotten für die Lockerungsübungen am Anfang und Cowboystiefel für den Hobbykoch Figaro versammelt. Wenn der sich gekonnt über Tomaten hermacht und eigentlich den Grafen meint, Marcellina vergisst, die Lockenwickler aus den Haaren zu nehmen oder Cherubino mit Abendkleid und Absatzschuhen verkleidet wird, ist das nur kleines komödiantisches Wechselgeld, das den subversiv menschelnden Hintersinn der Komödie verfehlt. Den gesellschaftlichen sowieso. Dass die Gräfin dann am Ende mit Teenager Cherubino durchbrennt, ist zwar selbst hier nicht unbedingt zwingend, aber auch schon egal. Die Fortsetzung folgt in der nächsten Spielzeit und Mozarts Musik ist dafür immerhin eine sichere Bank.

Roberto Becker

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Die Inszenierung ist als Stream auf Mezzo TV und medici.tv weiterhin für Subscriber verfügbar.

Memento mori

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021)
Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“

Der Mensch denkt, der Mensch lenkt: Gerne suhlen wir uns in diesem Ideal, betrachten uns als „Krone der Schöpfung“. Bis wieder einmal ein Zahnriemen im Getriebe der menschlichen Evolution verkeilt und unser Weltbild ins Wanken bringt. Unzweifelhaftes Paradebeispiel unserer Zeit: Corona. Was macht das mit uns, wenn eine Pandemie unsere Zukunftspläne unter krachendem Getöse einstürzen lässt, wo finden wir Antworten? Nicht zufällig hat die Seuchenliteratur gerade Hochkonjunktur: Albert Camus’ „Die Pest“, diverse Chronologien der Spanischen Grippe – oder auch Daniel Defoes fiktiver Dokumentarbericht „A Journal of the Plague Year“ von 1722. Letzteren hat Kobie van Rensburg jetzt am Theater Krefeld und Mönchengladbach zu einem „Opernpasticcio in virtueller Realität“ verarbeitet, gepaart mit Musik von Henry Purcell (und zwei weiterer englischer Barockkomponisten). Das Ergebnis ist ein überaus erfrischender Impuls abseits schließbedingter Verlegenheitslösungen.

„The Plague“ nimmt uns mit in ein Phantasie-England anno 1665/66. Damals forderte die „Große Pest von London“ geschätzte 100.000 Todesopfer, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Diese katastrophale Epidemie transferiert van Rensburg Corona-bedingt in den digitalen Raum. Sämtliche Aufnahmen seines Opernfilms wurden im Blue-Screen-Verfahren gedreht und mittels VR-Animation in minutiöser Kleinarbeit montiert. Konzeption, Ausstattung, Gesamtregie, Kamera, Schnitt, Postproduktion – Arbeitsschritte, die allesamt vom Südafrikaner verantwortet wurden. Das Ergebnis: eine artifizielle und bis zu einem gewissen Grad doch auch realistische Ästhetik am Reibungspunkt von Statik und Dynamik, gehalten in postmoderner Schwarz-Weiß-Optik. Vor folienartigen Kulissen nimmt ein neunköpfiges Ensemble in historischen Spätrenaissance-Kostümen wechselnde Rollen im „Spiel des Lebens“ ein. Im Verlauf der knapp siebzigminütigen Produktion breites sich ein sattes Panorama existenzieller Reaktionen auf eine verheerende Seuche aus: Wir begegnen sterbenden, trauernden, fliehenden und leugnenden Menschen. Wir werden Zeuge von Panik und Feierwut, Gottesfurcht und Scharlatanerie, Mitgefühl und Egoismus, erwachender Liebe und Abschied auf ewig. Dass im (auch filmischen) Spiel mit den Perspektiven immer wieder assoziative Brücken zur Gegenwart aufscheinen, van Rensburg aber nicht der Versuchung erliegt, diese in platten Bildern zu servieren, ist ein großer Verdienst der Produktion. Coronale Bezüge sind so überlegt und zurückhaltend platziert, dass sie nicht belehrend aufstoßen (darunter eine charmante kleine Klopapier-Choreo).

So reizvoll die Bespielung barocker Musik mit Bildern aus dem virtuellen Baukasten auch ist: Ohne ein tragfähiges Ensemble bliebe nicht viel mehr als eine schöne Idee auf dem Papier. Doch auch hier agiert das Haus auf hohem Niveau. Die Meisterschaft der barocken Emotionsskala gebührt dabei klar den Damen: Wie Maya Blausteins Selbstgeißelung zu einem nuancierten Affekt des Wahnsinns gerät, wie Susanne Seefing feine Zynik aufblitzen lässt und Chelsea Kolic ein herzzerreißendes Lamento anstimmt, ist große Opernkunst für den kleinen Bildschirm. Alte Musik in emotionaler Reinkultur, die von einem Instrumentalensemble unter Yorgos Ziavras zwischen pastoraler Idylle, koketter Hybris und trostloser Wehklage rhythmisch pointiert illustriert wird.

Florian Maier

„The Plague“ („Die Seuche“) // Opernpasticcio in virtueller Realität von Kobie van Rensburg, nach Motiven von Daniel Defoes „A Journal of the Plague Year“ („Die Pest zu London“) (1722) und mit Musik von Henry Purcell, Pelham Humfrey und Thomas Ravenscroft

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand zum Preis von 10 Euro bis zum 4. Juli 2021 über die Website des Theaters verfügbar. Alternativ wird auch eine DVD zum selben Preis angeboten.

Arthouse-Dragqueen

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Philadelphia / Opera Philadelphia (März 2021)
Sasha Velour im sensiblen Opernfilm „The Island We Made“

Wie oft wird über die Probleme von Opernstreams gesprochen: Dass sie mittlerweile unerträglich seien und wie schwer es falle, ihnen mit Opernbesuchs-Manier gegenüberzusitzen, sie mit hoher Konzentration aufzusaugen oder überhaupt ohne repetitive Pausenknopf-Intermezzi bis zum Ende durchzuhalten. Gleichermaßen laut sind die Rufe nach neuen Formaten, die mehr wollen als die analoge Bühne zu imitieren, deren ästhetische Erfahrung sowieso nicht gespiegelt werden könne.

Aus diesem Covid-Riss durch die ziemlich versteinerten Bühnenstrukturen der Oper erwuchs der Arthouse-Opernfilm „The Island We Made“ an der Opera Philadelphia. Allein im Grundkonzept ist er genau das, wonach wir gerufen haben: ein kurzer ästhetischer Opernfilm mit einer emotional und inhaltlich verständlichen Handlung, gebettet in elektronische, aber sehr bekömmliche und nahegehende Musik. Und dazu noch der Funken „Wow!“, den es zum Bildschirmsog braucht: Die Hauptrolle spielt Dragqueen-Superstar Sasha Velour. Bei ihr sollte man nicht an große Perücken à la Olivia Jones denken, vielmehr an Pollock oder Dalí in Kleidung und Make-up. In der Oper erscheint Sasha Velour in minimalistischer und doch extravaganter Drag, gehüllt in ein gelbes Gewand und mit sanft glitzernden spitzen Schmucksteinen am Kopf, an den Händen und Schuhen. Schon extrovertiert, aber nicht aufdringlich. Ruhig und echt. Tief durchdringend in Velours Blick.

In „The Island We Made“ schmiegt sie die Performancekunst des Drags – das sogenannte Lip-Syncing (eine Art Playback-Performance) – an die Kunstform der Oper. Was sonst bei Dragshows bunt, spektakulär und popkulturell geprägt ist, sind jetzt die Harfenarpeggien von Bridget Kibbey und der ruhig erzählerische Gesang von Eliza Bagg. Sasha Velour lip-synced im „Duett“ mit einer weiteren Rolle und zwar der Mutter, die während der elf Minuten eine Tonfigur formt. Hier liegt der Handlungskern des Opernfilms. Er ist eine Ode an die Mütter, die uns schufen und uns durch all die Dinge formen, die sie selbst einst geprägt haben: „My ears, my lungs … you made me.“

Nun zum Visuellen. Während Regisseur und Produzent Matthew Placek durch eine Wohnung in der Blue hour filmt, die mit ihren Pastelltönen wie eine verblasste Erinnerung wirkt, könnte jedes Bild, dass er in abgehakten Jump Cuts auf die Bühne holt, ein eigenes Kunstwerk sein. Das hyper-symmetrische Schlafzimmer, das Licht in den Millimeter genau angeordneten Lamellen, das Regal mit der vergoldeten Teekanne – kein einziges Staubkorn, kein Gegenstand an falscher Stelle. Wir sind hier in einer liebevollen Erinnerung, die sich auf Sasha Velours Lippen zu einem Lächeln kräuselt.

Dazu erklingt Angélica Negróns Musik mit starker Harfenfärbung und elektronischen Verzerrungen in ähnlichem Pastell-Flair, wie die Einrichtung der Wohnung. Immer wieder leuchten elektronische oder gesangliche Spitzen in der sonst sphärischen Musik, wie die Kristalle an Sasha Velour. Sowohl das Visuelle als auch die Musik sorgen für sehr einheitlichen, unaufgeregten Genuss mit einer Prise an herausstechendem Sogpunkt, wie das leuchtende Gelb von Sasha Velours Kleid oder der musikalische Höhepunkt bei Minute 9, der sich in Harfentürmen und Stimmverwaberung ergibt.

Natürlich ist der Arthouse-Opernfilm mit seinen 10 Dollar für elf Minuten eine Investition. Aber er regt zum Nachdenken an, wie die Oper und die Kunst des Drags voneinander profitieren können – und lohnt sich.

Maike Graf

„The Island We Made“ (2021) // Angélica Negrón

Der Opernfilm kann über die Website des Theaters abgerufen werden.

Um Himmels willen

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

Nein, es müssen weder Mahalia Jackson oder Aretha Franklin aus dem Gospelhimmel herabsteigen noch Whoopi Goldberg „Sister Act“ wiederbeleben. Im Stream des Gärtnerplatztheaters erwies es sich jetzt nämlich als höchst unterhaltsam, gleichsam die Mütter dieser „sisters“ zu erleben. Dan Goggin hat viele Einzelideen und Songs 1985 zu einem Broadway-Revuetheater zusammengefügt, aus dem ein jahrelanger Dauerbrenner wurde und der dann letztlich den Filmhit anschob. „Dies Wort in Gottes Ohr: Nonnen haben auch Humor!“, lautet der Grundtenor – äääh, -sopran. Den müssen sie „herauslassen“, denn eine Schwester hat mit ihrer Bouillabaisse fast das ganze Kloster vergiftet. Es war eben nicht mehr das „jüngste“ Gericht … Vier tote Schwestern lagern nun in der Kühltruhe, weil das Geld für die Beerdigung nicht reicht – eine Benefizveranstaltung soll es richten.

Dafür haben „Vestiarischwester“ Judith Leikauf und „Klosterbaumeister“ Karl Fehringer einen hybriden Barockaltar auf die Bühne gestellt. Doch Amoretten sind schon nackte, halb mit Tüchern bedeckte Showgirls. Oben auf der Empore hat ein fünfköpfiger „Hortus musicus“ in Nonnentracht Platz genommen, angeführt von „Klosterkantor“ Andreas Partilla – und die lassen allerlei irdisch-fetzige Klangwölkchen sich auftürmen, dann auch die Sinne umsäuseln und die Füße mitwippen. Der Tabernakel ist ein von bunten Lämpchen umrahmtes Zirkus-Entrée, aus dem erstaunliche „Wunder“ auftreten, denn auch die Altarbilder links und rechts sind wundersam drehbar und wechseln von Heiligenbildchen zum muskulösen Bodybuilder Steve Reeves. Dass Farblichter-Ketten auch die Proszeniumslogen verdecken, signalisiert schon „Buntes“ …

Das folgt dann auch für zwei Stunden vom „Theatralischen Liturgen“ Josef E. Köpplinger, der die laienhafte Selbstdarstellungslust der fünf übrig gebliebenen Nonnen, ihre verborgenen Talente, aber auch Eifersüchteleien mal nuancenreich, mal deftig inszeniert. Dass die reife Oberin Regina (Dagmar Hellberg) und ihre Vize Maria Hubert (Tracey Adele Cooper) locker mithalten, wenn die jüngeren Schwestern Robert Anne, Maria Amnesia und Maria Leo eine gekonnt kleine Steppnummer hinlegen, ist dem natürlich „sittsamen“ Training von Ricarda Regina Ludigkeit zu verdanken, die auch die sonstigen Tanztalente der be-rock!-ten Schwestern amüsant entwickelt hat. Über alle mal herrlich schräg-unbedarfte, mal sehnsüchtig tiefverborgene, jetzt losbrechende „Showstar“-Anbetung hinter Klostermauern sind die komödiantischen Talente der „Schwestern“ Florine Schnitzel, Julia Sturzlbaum und Frances Lucey zu bestaunen. Ein Wirbel von „Elvis lebt“ über „Die sterbende Nonne“ zu „Wege zur unbefleckten Empfängnis“ und Zarah Leanders „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ samt Koloraturbrillanz – dafür kein „Pinguin“-Nonnenwitz, aber von „Winnetous Schwester“ über „Heidi“ zu „Sternenkrieg-Prinzessin Leia“ und „Jurassic Park“ viel Wortwitziges (Textbearbeitung ebenfalls „Liturg“ Köpplinger). Die finanzielle Rettung am Ende kommt nicht vom Filmprojekt „Nonnendämmerung“, nicht vom Schwestern-Kochbuch „BJM-Backen mit Jungfrau Maria“ samt Rezepten für „Sauce Catholique“, „Schlesisches Himmelreich“, „Rostbratwurst Hlg. Johanna“ und Nachspeise „Judasküsschen“, sondern von – nein, das sei noch nicht verraten! Diese Nonnen bieten allerlei reizend-weibliche Überraschungen, die das hoffentlich kommende „volle Haus“ toben lassen wird. Der theatralisch-heilige Geist war mit Euch!

Wolf-Dieter Peter

„Nunsense“ („Non(n)sense“) (1985) // Musical Comedy von Dan Goggin

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 3. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

Von Liebe, Leidenschaft und Verlust

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (März 2021)
Christof Loy inszeniert Tschaikowski-Lieder

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (März 2021)
Christof Loy inszeniert Tschaikowski-Lieder

Es gäbe vielerlei dramatische Aspekte: die nie frei gelebte Homosexualität Tschaikowskis; der frühe Tod der geliebten Schwester; das seltsam vielschichtige Verhältnis zum homosexuellen Bruder Modest; die befremdliche Distanzbeziehung zur Mäzenin Nadeschda von Meck; das Verhältnis zu Iosif Kotek; das obskure Todesurteil eines „Ehrengerichts“; der frühe Tod durch ein Glas Cholera-Wasser. Doch Christof Loy hat einen inneren Kern gefunden, von dem die vertonte und jetzt als Titel gewählte Goethe-Zeile „Nur wer die Sehnsucht kennt“ kündet – und den Tschaikowski selbst in einem Brief formuliert hat: „Ich kenne die Macht der Liebe schon, aber das Glück darin nicht.“ Das inspirierte Loy, 24 Lieder und drei kleine Instrumentaleinlagen zu einem intimen musikalischen Kammerdrama zusammenzubinden.

In einem edel blau tapezierten Salon sitzt Mariusz Kłubczuk am Flügel und intoniert zur Einstimmung einige Takte aus Tschaikowskis „Dumka“. An einem Tischchen sitzt versunken der männlich reife Vladislav Sulimsky, singt sich selbst mit bassbaritonaler Wucht „Schlaf ein, mein Herz … was vorbei ist, ist vorbei“ versöhnlich Ruhe zu. Der jugendlich agile Bariton Mikołaj Trąbka versinkt in seligem Überschwang und erster Pein – wozu der reife Mann wissend lächelt. Tenor Andrea Carè als „Mann im besten Alter“ besingt derweil das „schnelle Vergessen“. Wie die drei einander betrachten, sich abwenden, dann wieder zuhören: Da tut sich bereits eine Bandbreite von menschlicher Diversität und Ähnlichkeit auf, die in Bann schlägt. Das vertieft Mezzosopranistin Kelsey Lauritano im Hosenanzug, denn nicht das weibliche Element kommt hinzu, auch eine andere Art von Trauer. Zum kleinen Klaviertriller erscheint Sopranistin Olesya Golovneva im weißen Tüll-Glockenrock und singt mit ihrer dunklen Partnerin von schmerzlich erbetener Ruhe; als der junge Bariton (Mikołaj Trąbka) voller Emphase von der Nachtigall und ihrem Zauberwort „Liebe“ schwärmt, erhebt sie sich auf Spitzen und beschwört mit wenigen Tanzfiguren die träumerische Aura all jener Schwanenwesen. Es gehört zum Besonderen, dass sich zwischen allen fünf Menschen ein feingesponnenes Beziehungsgeflecht mal andeutet, mal auftut, mal zerfällt. Doch auch hochdramatische Züge fehlen in Tschaikowskis Romanzen nicht: die volltönende Erinnerung an „Trunkene Nächte“ oder auch der Kosak, der seiner Hanna eine Korallenkette aus dem Krieg bringen soll und als er endlich heimkehrt, ist sie schon verstorben …

Die knapp zwei Stunden breiten in Körperhaltungen, Blicken, im schmerzlich ringenden, aber auch dumpfen Brüten einen zunächst kostbar feinen Kosmos an Zwischenmenschlichem aus. Das wird so dicht, fesselnd und bedrängend, dass es wie eine entspannende Wohltat wirkt, als der eingerahmte Teil der Rückwand hochfährt, eine gemalte ländliche Ideallandschaft sichtbar wird, das Adagio cantabile aus „Souvenir de Florence“ von Mitgliedern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters erklingt – und wie eine Mahnung an derzeit nicht erlaubte Auftritte sechs Notenpulte und Streichinstrumente verlassen dastehen …

„Stumme Gespräche sind beredsamer als manches Wort“, singt Olesya Golovneva fast am Ende. In Herbert Murauers sonst leerem Salon, in Olaf Winters mal mildem, mal kaltem Licht war aller innenweltlicher Reichtum anwesend. Was Loy mit seinen fünf Solisten der Extraklasse entwickelt hat, ist tief berührend, erhebt sich wie ein hell blitzender Solitär über den dumpf-grellen Müll unserer Tage. Was Kunst doch kann!

Wolf-Dieter Peter

„Nur wer die Sehnsucht kennt“ // Tschaikowski-Lieder inszeniert von Christof Loy

Die Inszenierung ist als kostenfreier Stream bis 20. Juni 2021 über die Website des Theaters abrufbar.