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Streamingkritik

Gegen den Strom schwimmen

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Mit seiner Musical-Sparte hat das Landestheater Linz keineswegs nur seine hauseigene Cashcow, die massentaugliche Unterhaltung produziert. Der künstlerische Leiter Matthias Davids hat das Repertoire von Anfang an immer wieder auch mit interessanten Ur- und Erstaufführungen aufgewertet, um so die komplette Bandbreite des Genres abzubilden. Jüngster Streich ist die Weltpremiere von „The Wave“ aus der Feder von Or Matias, der sich dafür von Morton Rhues gleichnamigem Roman inspirieren ließ – einem Klassiker der Schullektüre, der seit seiner Veröffentlichung 1981 leider wenig an Aktualität eingebüßt hat.

Im Zentrum: das Sozialexperiment eines amerikanischen Geschichtslehrers, der seine Schulklasse am eigenen Leib spüren lässt, dass eine scheinbar positive Gruppendynamik schnell ins Negative kippen kann. Und wie leicht faschistische Tendenzen auf fruchtbaren Boden fallen. All die missverstandenen und ausgegrenzten Teens in seiner Klasse finden in der von ihm gegründeten Bewegung „Die Welle“ zunächst ein neues Gemeinschaftsgefühl. „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ Es dauert jedoch nicht lange, bis die Gleichschaltung zur Ausgrenzung und letzten Endes zur offenen Gewalt führt. Eine Erkenntnis, die sich für den Lehrer Ron Jones mindestens so erschütternd offenbart wie für seine Klasse.

Passend zur Geschichte setzt die von jazzigen Anklängen durchzogene Partitur weniger auf den großen Effekt und mehr auf die ruhigen Töne, mit denen Matias in die Seelen seiner Figuren blicken lässt. Wenn auch nicht immer ganz frei von Klischees, die von Übersetzerin Jana Mischke ebenso kräftig bedient werden. Denn natürlich gibt es auch hier die üblichen Verdächtigen wie die Streberin, den Sportler oder den gedichteschreibenden Außenseiter. Anders als bei manchem 08/15-Teenie-Film sind diese Stereotypen jedoch keine Steilvorlage für flache Gags. Vielmehr zeigen sie, dass keiner von uns immun ist.

Das musikalische Spektrum ist ähnlich divers aufgestellt, vom eingängigen a-cappella-Auftakt über sanfte Balladen bis hin zu Ensembles im prägnanten Marschrhythmus. Richtige Ohrwürmer gibt es zwar nur wenige, doch stehen die Nummern stets im Dienst der Geschichte, die Christoph Drewitz im nüchternen, laborhaften Bühnenraum von Veronika Tupy sehr auf die Figuren fokussiert erzählt. Christian Fröhlich gibt den hemdsärmeligen Pädagogen mit der nötigen stimmlichen Autorität und schickt einem bei seiner Wandlung vom Kumpeltypen zum harten Anführer tatsächlich auch kleine Schauer über den Rücken. Aus der Schulklasse, die mit Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien aufgestockt wurde, sticht vor allem Hanna Kastner als Ella heraus, die als einzige den Aufstand wagt und dafür bitter bezahlt. Die anschließende Szene mit Ron und dem vom Mobbingopfer zum Fanatiker mutierten Robert (Lukas Sandmann) zählt wahrscheinlich zu den beklemmendsten Momenten dieser Show, der man nach Pandemie-Ende ein langes Bühnenleben wünscht.

Tobias Hell

„The Wave“ („Die Welle“) (Uraufführung aufgezeichnet am 5. November 2020 / Stream-Premiere am 20. März 2021) // Musical von Or Matias

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. April 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).

Glamouröses It-Girl twittert sich durchs Leben

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wien / Wiener Staatsoper (März 2021)
„La traviata“ stirbt in geschmacklosem Umfeld

Wenn jeder erkrankte Tenor an der Wiener Staatsoper mit großartigen Sängerdarstellern wie Piotr Beczała (zuletzt bei „Carmen“) oder nun mit Juan Diego Flórez als Einspringer besetzt wird, darf man sich glücklich schätzen. Der Peruaner lässt seine Spitzentöne wunderschön erstrahlen – vor allem im piano – und besticht mit gefühlvollem Spiel. Für einen perfekten Alfredo fehlt allerdings mehr Durchschlagskraft. Im Belcanto-Fach wahrscheinlich unübertroffen, muss seine Tenorstimme für Verdi noch etwas dramatischer werden. Auch Pretty Yende ist eine außergewöhnliche Darstellerin und berührt nuancenreich bis zum tödlichen Ende. Die südafrikanische Sopranistin beweist ausdrucksstarke Phrasierungskunst und klare Höhe, auch wenn man bei der Mittellage manchmal noch Kraft und Volumen vermisst. Sie ist aber trotzdem eine sehr gute Violetta mit herzzerreißendem „Addio del passato“. Ensemblemitglied Igor Golovatenko bestätigt nach seinem Posa im vergangenen Herbst erneut, dass er über einen wohltönenden, noblen Verdi-Bariton verfügt. Das Dirigat von Hausdebütant Giacome Sagripanti wurde oft langweilig und uneinheitlich geführt.

Die Koproduktion mit der Opéra national de Paris (Premiere 2019) führt uns unter Regisseur Simon Stone in die heutig-schnelllebige Zeit. Chatverläufe und gepostete Selfies flimmern rasant auf übergroßen Video-Leinwänden im Hintergrund. Dies überfordert die Konzentration und führt schnell zu „digitaler Schwindsucht“. Violetta ist keine Edelkurtisane, sondern gelangt als Influencerin mit eigener Parfümlinie zu Ruhm und Reichtum. Umso weniger ist schlüssig, warum Germont sie als eine „vom Weg Abgekommene“ sieht und es stattdessen bevorzugt, seine Tochter an einen saudischen Prinzen zu verheiraten – angesichts der Frauenrechte in diesem Land eher unglaubwürdig. Alfredos Liebesgeständnis wird zwischen Mistkübeln vorgetragen, was ihn scheinbar so verwirrt, dass er in Flaschenkisten stürzt. Um idyllisches Landleben darzustellen, muss Violetta in Gummistiefeln einen Traktor reparieren (worauf Germont von „tanto lusso“ singt?). Die lebende Kuh von der Pariser Produktion hat hierzulande nicht den Tierschutzgesetzen entsprochen und wurde scheinbar auf die Almwiesen zurückgeschickt. Alfredo – im karierten Holzfällerhemd – sitzt bei einem Schubkarren, als ihn sein Vater mit „Di provenza il mar“ zurückgewinnen will. Fällt dem Regieteam zum Thema „Land“ wirklich nichts Besseres ein? Danach muss der Chor vor flimmernden Graffiti-Wänden beinahe unbeweglich in skurrilen Kostümen – Doktor Grenvil mit Dildo als unbegreiflichem „Kopfschmuck“– ein mehr als geschmacksloses Fest bei Flora feiern. Mit gut gezeichneter, dramatischer Wirkung überzeugt lediglich der Beginn des finalen Aktes, als die Todgeweihte ihre Chemotherapie erhält. Im Unterschied zu den anderen Patienten im Hintergrund ist die an Krebs Erkrankte (auch ohne Follower) vollkommen verlassen. Nicht einmal die – in Corona-Zeiten unerlässliche – Jogginghose stört (obwohl sie zusammen mit dem bauchfreien Top sehr unvorteilhaft wirkt). Für die Autorin konnte der Regisseur das Werk Verdis nicht glaubwürdig ins Heute übertragen – besonders beschäftigt die Frage nach Violettas Stigma, die zum Verzicht ihrer großen Liebe führt.

Susanne Lukas

„La traviata“ (1853) // Oper von Giuseppe Verdi

Grausam-poetisches Märchen

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (März 2021)
Dvořáks „Rusalka“ als Außenseiterin zweier Welten

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (März 2021)
Dvořáks „Rusalka“ als Außenseiterin zweier Welten

Keine Frage, Dvořáks vorletzte Oper eignet sich schon der tief existentiellen Einsamkeit der Titelfigur halber für die Produktion unter Covid-19-Bedingungen. Wie Regisseur Dirk Schmeding am Staatstheater Braunschweig mit der Sehnsucht der Nixe nach menschlicher Empfindung und Liebe umgeht, das beglaubigt gerade unter Einhaltung der Distanz das Unerfüllte und für das Wasserwesen auch Unerfüllbare solchen Wünschens. Schmeding bietet besonders für Rusalka selbst berückende Intensität auf. Etwa, wenn Ježibaba ihr den Fischschwanz chirurgisch auftrennt und wie eine Haut abzieht, gleichsam des Wasserwesens Beine befreit, dieses aber erst lernen muss, mit ihnen – ganz wörtlich verstanden – umzugehen. Der Prinz begegnet der Nixe, als sie ihm unter die Räder seines Autos gerät. Bevor er sich ihr zuwendet, prüft er im Seitenspiegel, ob seine Frisur sitzt. Die fremde Fürstin tritt aus einem wie an einem amerikanischen Highway aufgestellten Filmplakat mit ihrem Konterfei, die ganze Erscheinung eine Projektion des Prinzen und wohl auch Rusalkas. Alles dies überzeugt, weil Schmeding das Märchenhafte des Sujets nicht antastet. Er darf sich daher getrost dessen Entromantisierung leisten. Kaum, dass sie den Prinzen final geküsst hat, erstickt die ins Reich der Untoten exilierte Wasserfrau ihn unter einer Plastikfolie. Märchen sind halt oft weniger romantisch als grausam. Ralf Käselau baut dafür eine Bühne am Rande der menschlichen Zivilisation. Melancholie beherrscht die Szene. Der Nixenteich droht auszutrocknen, während Ježibaba munter die keineswegs wassersparende Waschmaschine bedient. Der hilflos um den Zusammenhalt seiner Welt besorgte Wassermann haust im Abflussrohr. Poetisch geheimnisvoll liegt die Uferlandschaft und schimmert die Wasseroberfläche in nächtlichem Schein, wenn die Titelfigur als Irrlicht umherschweift und den Prinzen zu Tode küsst. Julia Rösler streicht die Figuren kostümlich prägnant heraus. Rusalka in farblosem Weiß, ein Wesen, dem immer etwas fehlt, ob nun die menschliche Seele oder die Fähigkeit zu sprechen. Die fremde Fürstin als Hollywood-Diva im fünfziger Jahre Badedress. Den Prinzen als Edelhippie. Den Wassermann im zerschlissenen Honoratiorenfrack, der nicht einmal mehr für die Altkleidersammlung taugt.

Ebenso gewinnend wie die szenische ist die musikalische Seite dieser Produktion. Georg Menskes lässt den aus dem Off eingespielten Chor des Staatstheaters das Bühnengeschehen effektsicher untermalen. Srba Dinić bedient sich mit dem Braunschweiger Staatsorchester Marián Lejavas Fassung für einen reduzierten Klangkörper. Anfänglich wagnert es nach Kräften, bald aber erlangt Dvořáks slawisches Musikidiom die Oberhand. Trefflich wissen Dinić und sein Orchester die Substanz und Fülle der Partitur trotz Covid-bedingter Einschränkungen zu wahren. Julie Adams geht die Titelpartie eher jugendlich-dramatisch als lyrisch an, entfaltet dabei aber außerordentliche Leucht- und Strahlkraft. Den Prinzen lässt Kwonsoo Jeon machtvoll und in seinen besten Augenblicken auch voller Schmelz auftrumpfen. Es ist ihm ein wenig mehr sängerische Ökonomie zu wünschen. Edna Prochnik verleiht Ježibaba vokale Durchtriebenheit. Die Fremde Fürstin stattet Ekaterina Kudryavtseva mit sinnlichem Flair aus. Beherzt stellt sich Jisang Ryu den stimmlichen Anforderungen des Wassermanns. 

Michael Kaminski

„Rusalka“ (1901) // Lyrisches Märchen von Antonín Dvořák

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 4. April 2021 über die Website des Theaters verfügbar.

Glänzender Hörgenuss im optischen Fluss?

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Opernpremieren per Stream sind verdienstvolle und ermutigende Vorhaben sowohl für das Ensemble als auch für das Publikum – so auch die „Zauberflöten“-Premiere des Salzburger Landestheaters. In der Regie von Christiane Lutz und unter der musikalischen Leitung von Leslie Suganandarajah agiert ein Ensemble, das sich vor allem hören lassen kann. Allen voran Alina Wunderlin, die mit wunderbarer Stimme und virtuosen Koloraturen die Königin der Nacht zwischen verzweifelter Mutterangst und vom Zorn übermannter Rachegöttin gestaltet. Laura Incko als Pamina und David Fischer als Tamino bringen als edles Liebespaar eine gute Mischung aus belcantischem Schmelz und schlanker Stimmführung mit. Laura Barthel mimt und singt mit koboldhaftem Charme die Papagena und George Humphreys kostet das komödiantische Potential der Papageno-Rolle stimmlich und darstellerisch mit Vergnügen aus. Die drei stimmschön singenden Damen Julia Moorman, Olivia Cosio und Verena Gunz fügen sich zu fein abgestimmtem Triogesang zusammen. Kammersänger Franz Supper verleiht dem Monostatos gefährliche, aber auch mitleidsvolle Töne. Sein Dienstherr Sarastro bekommt durch Andreas Hörl sonor klingende priesterliche Weihe. Und die Rollen der drei Knaben übernehmen tonsicher Mitglieder des Salzburger Festspiele und Theater Kinderchors.

Die Regie vermittelt den interessanten Eindruck, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen der Königin der Nacht und Sarastro um einen höfischen Machtkampf im Palast oder Tempel der Sarastro-Fraktion handelt. Es gibt zwar in dem sparsamen, gleichwohl variablen Bühnenbild von Christian Andrè Tabakoff Ausweitungen der Raumgestaltung. Aber letztlich konzentriert sich das Spiel um eine Art Planetenglobus, zentral im Tempelraum auf einer Stele stehend. Um diese Mitte herum entwickelt Christiane Lutz mit einer Menge kreativer Ideen ihre Vorstellungen des Werkes. Aber letztlich will sich das Ganze in der filmischen Umsetzung noch nicht zu einer Einheit fügen. Einerseits setzen die unterschiedlichen schauspielerischen Möglichkeiten des Ensembles der Umsetzung des Regiekonzepts Grenzen. Und die vielen Halbtotalen und Großaufnahmen der Kameras behindern den optischen Fluss des Gesamtgeschehens. Außerdem erfordern Großaufnahmen ein anderes Agieren der Darstellenden als Aufnahmen aus der Distanz. Nicht jeder, der auf der Bühne live überzeugend agiert, ist für das Spielen direkt vor der Kamera ausgebildet. Und die Großaufnahme legt das unerbittlich offen. So lange es Streams gibt, sollte sich die Videoregie darauf einstellen und mehr Distanz wahren. Oder aber camera-acting gehört zukünftig zur Opernausbildung.

Einige Koordinationsprobleme zwischen Orchester und Bühne mögen der Premieren-Anspannung geschuldet sein. Ansonsten spielte das Mozarteumorchester Salzburg gewohnt kenntnisreich mit einem Anflug von historisch orientierter Spielpraxis.

Insgesamt Respekt vor dieser Inszenierung, die im Vorfeld und bei der Durchführung sicher viele Pandemie-Probleme bewältigen musste.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zauberflöte“ (1791) // Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

Oper reloaded

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Während die Theaterwelt mit dem Lockdown kämpft, schwimmen einige junge Künstler gegen den Strom, gründen die Kammeroper Salzburg und bringen blitzschnell eine „Digital Opera“ mit tagesaktuellem Bezug zur Uraufführung. Hält das Format, was es verspricht?

von Florian Maier

Freitag, 1. Mai 2020. Oder auch: Tag 47 der sozialen Isolation in Österreich. Das Erstlingswerk „Tag 47“ der erst wenige Tage zuvor ins Leben gerufenen Kammeroper Salzburg feiert via YouTube Premiere. Die knapp 20-minütige Komposition entsteht in einer Zeit des gesellschaftlichen wie künstlerischen Stillstands – und nutzt gerade diese Situation als kreativen Anker. Im Fokus stehen Menschen unserer Zeit, die durch Corona auf sich selbst zurückgeworfen werden, die in ihren Wohnungen Gefangene ganz persönlicher Krisen sind. Häusliche Gewalt, Entfremdung in einer Liebesbeziehung auf räumlicher Distanz, in der Einsamkeit sich zuspitzende Psychosen: „Tag 47“ legt den Finger in die Wunde von Problemen, die unter „normalen Umständen“ wahrscheinlich unentdeckt unter der Oberfläche weitergebrodelt hätten.

Die jungen kreativen Köpfe hinter dem Werk – Komponist Gordon Safari (38), Regisseur Konstantin Paul (22) und Ausstatter Michael Hofer-Lenz (24) – bezeichnen ihre Uraufführung als „Digital Opera“. Und verstehen darunter eine Komposition, die nur digital gespielt werden kann und soll. Angesichts unzähliger Streaming-Angebote aus der Konserve gelingt ihnen damit ein durchaus erfrischendes Signal: Corona bedeutet nicht nur Stillstand, auch Neues kann aus der Krise erwachsen. Die Idee dazu kam Safari in einer schlaflosen Nacht Mitte April. Als Dirigent, Organist und Gründer des Ensembles BachWerkVokal hatte er bis dato eher mit dem klassischen Künstlerproblem „Zu viele Ideen, zu wenig Zeit“ zu kämpfen. Nun also die plötzliche Unmöglichkeit, längst geplante Projekte in den vorgesehenen Bahnen zu realisieren. Und: der aufkeimende Gedanke, dieser Krise aktiv und kreativ zu begegnen und der theatralen Dimension von Corona mit einer Kurzoper nachzuspüren. Die Vision zur Kammeroper Salzburg war geboren, Paul und Hofer-Lenz sofort begeistert mit an Bord. In einem Zeitraum von nur zehn Tagen entstanden Libretto und Partitur zu „Tag 47“, wurden die Partien einstudiert, das Rohmaterial gefilmt und die einzelnen Spuren im Feinschnitt am PC übereinandergelegt. Ein Sprint mit absoluter Punktlandung: Nur 20 Minuten vor der Online-Premiere wurde das „Endprodukt“ fertig.

Gordon Safari, Initiator und Komponist von „Tag 47“ (Foto Michael Brauer)

„Wie soll die alte Nähe wieder entstehen?“

Die elektronische Anmutung der Komposition wird dabei vom Isolationsgebot bestimmt. Safari entschied sich für die Arbeit mit elektronischen MIDI-Klängen (angereichert durch wenige ausgewählte konventionelle Instrumente), die inhaltlich plausibel mit der ästhetischen Ausgangslage von „Tag 47“ harmonieren: Die Webcams der Protagonisten erlauben uns einen Blick in ihre Privatsphäre – die Guckkästen einer imaginären vierten Wand. Was sich dahinter abspielt, sind atmosphärisch aufflackernde Szenen des Jahres 2020. Vincent und Gregor sehen sich seit Wochen nur noch im Videochat, hadern mit ihrer abstumpfenden Liebe, ringen um Worte und gegenseitige Aufmerksamkeit. Sarah wird hinter verschlossenen Türen von ihrem Ehemann geschlagen und versucht, ihr Leid zum Beweis auf Video festzuhalten. Laura kämpft mit ihren Psychosen, verliert sich in schizophrenen Phasen – am Ende erhängt sie sich.

In einer Abfolge kurzer, sich teils überlappender Momentaufnahmen nehmen wir am Leben dieser Menschen teil, ohne sie wirklich kennenzulernen. Wer sind sie? Wie wurden sie zu dem, was sie jetzt sind? Das Format der Kurzoper kann diese Fragen naturgemäß nur sehr eingeschränkt beantworten. Dem Team der Kammeroper Salzburg gelingt es dennoch, die Gemütszustände einer neuen Realität in soghaften Klangkulissen zu transportieren. „Lass es endlich morgen sein …“, vernimmt man Laura inmitten ihres finalen psychischen Zusammenbruchs. Und da dieses „Morgen“ noch in weiter Ferne liegt, verlieren sich die Figuren in Lethargie und Hysterie, Schicksalsergebenheit und Hoffnungsschimmern. Trompete, Cello und Orgelcluster bereichern die elektronische Komponente von Safaris Werk um akzentuiert gesetzte Kontraste – digitale Klänge gehen mit sakralen Anleihen Hand in Hand. Ein junges, motiviertes Solistenensemble dringt tief in die Emotionen der Charaktere vor, verleiht ihnen Stimme. Und nicht zuletzt ermöglichen filmische Montagetechniken ästhetische Spielereien, die dem Format gut zu Gesicht stehen.

Ehrgeizige Pläne

Ein durchaus gelungenes Experiment also, auf das sich Safari, Paul und Hofer-Lenz da eingelassen haben. Und dennoch entsteht ein schaler Beigeschmack, wenn man sich mit der Öffentlichkeitsarbeit der Kammeroper Salzburg befasst. Von der Kreation eines „neuen Genres von Musiktheater“ ist dort zu lesen, sogar von der Eröffnung eines „neuen Kapitels der Operngeschichte“ die Rede. Überaus große Worte, die die Uraufführung ihrer „Digital Opera“ flankieren – zumal das zeitgenössische Musiktheater seit Jahrzehnten mit ebenso ambitionierten Projekten aufzuwarten weiß und im Dschungel des World Wide Web nicht gänzlich zuverlässig prüfbar ist, welche digitalen Opernangebote nicht vielleicht schon in der Vergangenheit verwirklicht wurden.

Nichtsdestotrotz darf man auf die weitere Entwicklung der Kammeroper Salzburg gespannt sein. Die Vorbereitungen zum Spielplan 2020/21 sind bereits in vollem Gange, der Sprung in klassische Theaterräume ebenso wie progressive Konzepte der Verschmelzung mit Technik, Medien und Digitalität geplant. Der programmatische Fokus soll auf selten gespielten Werken des 20. und 21. Jahrhunderts wie auch Uraufführungen liegen. „Wir wollen alle Fässer wieder aufmachen, alle Fragen nochmals stellen. Was macht Musiktheater für die Menschen interessant, die der Opernbetrieb der letzten Jahrzehnte vergessen hat?“, äußert sich der künstlerische Leiter Konstantin Paul zu den ehrgeizigen Plänen. Eine leichte Aufgabe haben sich er und seine Kollegen nicht gestellt. Zum Mut eines Neuanfangs mitten in der Krise kann man dem Team der Kammeroper Salzburg aber nur gratulieren. Die Zeit wird zeigen, ob „Tag 47“ als zeitgeistiges Symptom einzustufen sein wird – oder der „Digital Opera“ eine nachhaltige Zukunft beschieden ist.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 04/2020 und erweckte auch das Interesse unseres crossmedialen Kooperationspartners RTS Salzburg. Diesbezüglich ein „Heimspiel“ für die Kammeroper Salzburg: Florian Maier beschäftigte sich im Mai 2020 mit dem digitalen Erstling „Tag 47“, Christoph Lindenbauer sah sich nun die aktuelle Uraufführung „Im Westen nichts Neues. Im Süden aber auch nicht.“ (Februar 2021) genauer an.

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Aufruf zum Diskurs

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Wir müssen reden. Darüber, wie man heute Opern umsetzt, deren Geschichten eine nicht-westliche Welt „verlangen“, deren Hauptcharaktere Menschen marginalisierter Gruppen „sein sollen“ und bei denen die hiesige Opernwelt versucht ist, in exotische Klischees zu stürzen. Wir müssen reden über „Carmen“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Otello“ und „Aida“, denn sie alle haben gemein, dass wir besonders als weiße Personen nicht mehr unkommentiert über ihre Problemzonen hinwegsehen dürfen. Darüber, dass die Kunstform der Oper einst ein starkes Mittel war, „das Andere“ und „das Exotische“ zu entwerfen, um den Kolonialismus zu legitimieren. Wir müssen darüber reden, wie Blackfacing an mancher Stelle als Werktreue und nicht als rassistische Geste gelesen wird. Die „Aida“-Inszenierung von Regisseurin Lotte de Beer an der Opéra national de Paris trägt den Aufruf zum Diskurs über genau diese Themen in jeder Szene mit sich.

De Beers Prämisse, Aida nicht von einer weißen Sängerin spielen zu lassen, sondern sie mit einer Puppe zu doubeln, ist ein genialer Spiegel für die Problematiken von Verdis Oper. Dieses Vorgehen übersieht nicht, dass die Rolle eine Äthiopierin „sein soll“, vermeidet aber, eine weiße Sängerin wortwörtlich in „Aidas Haut“ zu stecken, die sie allerdings jederzeit wieder ablegen könnte (eines der großen Probleme des Blackfacings). Damit die Gestalt der Puppe nicht exotischen Stereotypen zum Opfer fällt, wurde die simbabwische Künstlerin Virginia Chihota, wohnhaft in Äthiopien, beauftragt, die Vorlage zu der Puppe von Aida zu gestalten. Zusätzlich erscheint ihre düsterbunte Kunst, die sich mit dem marginalisierten schwarzen weiblichen Körper beschäftigt, immer wieder prominent auf der Bühne von Christof Hetzer.

Konzeptuell ist die Pariser „Aida“ eine werkkritische und damit sehr starke Inszenierung; leider ist ihre Umsetzung nicht lupenrein. Das Puppenspiel macht Probleme, denn immer wieder rutscht der Fokus von der Aida-Puppe zurück auf ihre Sängerin. Das Spiel von Sondra Radvanovsky, die immer wieder mit der Puppe interagiert, anstatt sich in den Hintergrund einzublenden, ist nicht sehr dienlich dafür, de Beers Prämisse zu schärfen. Dagegen steht allerdings der starke Mittelteil der Inszenierung mit dem gesanglichen Höhepunkt im Duett von Aida und ihrem Vater (Ludovic Tézier) und dem Triumphmarsch, bei dem die Statisterie berühmte Gemälde imperialer Macht nachstellt, was interessante und kritische Gedanken zum Spannungsfeld von Kunst und Imperialismus birgt.

Während in dem Bühnenmuseum mit düstergrünen Räumen die Kunst des Kolonialismus und die des Nationalstolzes aufeinanderprallen und das steinige Material der Puppen (Mervyn Millar) mit den strengen Uniformen der Ägypter schmackhaft konterkarieren (Kostüme: Jorine van Beek), ist der Abend auch musikalisch ziemlich voluminös. Jonas Kaufmann feuert seinen Radamès mit altvertrauter Kehligkeit in dramatische Höhen, Sondra Radvanovsky interpretiert die extremen Spitzen der Aida mit dünner Kopfstimme (was theatralisch, aber wirklich gut wirkt) und Ksenia Dudnikovas Amneris strahlt golden. Im leeren Theater beklatscht das Orchester sich selbst und ihren Dirigenten Michele Mariotti – nicht einmal geraten ihm der Graben und die Bühne musikalisch auseinander. Gemeinsam polieren sie den Abend auf den klassischen „Aida“-Hochglanz.

Maike Graf

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Die Inszenierung ist als Stream bis 20. August 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

Next Level Regietheater

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Luigi Rossi wiederzuentdecken, ist ja gerade der Trendsport in der Klassikszene. Erst kürzlich hat Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und in ziemlich prominenter Besetzung zahlreiche Rossi-Arien und -Duette ersteingespielt. Während sie sich noch penibel in historischer Aufführungspraxis versenkte, setzt die Opéra de Dijon lieber auf absolute Modernisierung. Die Oper „Il palazzo incantato“, 1642 im Barberini-Auftrag und in außergewöhnlich großer Besetzung komponiert, erhält nun die wohl größte Bühne derzeit: Die Plattform OperaVision streamt die publikumslose Aufführung für zwei Monate. Die Partitur soll dafür radikal reduziert worden sein (Leonardo García Alarcón), die Szene wiederum maximal erweitert (Fabrice Murgia), sei es durch moderne Charaktere, Kostüme, die aus den Läden von heute geklaubt sein könnten (Clara Peluffo Valentini), und natürlich: viel Hightech-Videoprojektion.

Das Schloss des Magiers Atlante hat die Kraft, allen seinen Besuchern den Kopf zu verdrehen, und er nutzt das, um diese Menschen seiner Macht zu unterwerfen. So simpel, so gut. Aber die Handlung mit ihren 33 Charakteren, die wiederum Kostüme wechseln, dann aber doch zeitweise von den gleichen Sängerinnen und Sängern verkörpert werden und in zahlreichen Räumen sowie Welten und szenischen Randepisoden auftreten, ist derartig schwer zu verstehen, dass die Rezensentin schlussendlich resümiert: Es geht gar nicht um die Handlung. Es muss um die Emotionen gehen. Und die transportiert diese Inszenierung wiederum absolut nachvollziehbar. Unbändige Liebe, absoluter Wahnsinn, tiefste Verzweiflung und düstere Depression werden von Videokameras eingefangen, die auf der unteren Bühnenhälfte herumgetragen werden und Close-ups auf die Leinwand darüber übertragen (was ziemlich genauso aussieht wie bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth). Das passiert hier mit derart kinematographischem und bildästhetischem Bewusstsein, dass man zeitweise vergisst, eine Oper und nicht eine Serie zu streamen. So zumindest im ersten Akt. Später gibt es noch dunkelstes, Verlies-artiges und grellstes himmlisch-magisches Bühnenbild (Vincent Lemaire). Dieses außergewöhnlich intensive Regietheater ist schon sehr beeindruckend.

Aus den Stimmen des Ensembles erleben wir, wie unterschiedlich brennende Herzen klingen können. Auch wenn wirklich der Großteil der Besetzung mit der barocken Klangsprache umgeht, als hätten sie nie etwas anderes gesungen (besonders eindrucksvoll Mariana Flores u.a. als Magique und Arianna Vendittelli, die ihre Koloraturen mal eben im Liegen meistert!), ist gerade die Addition von italienischem Pathos und moderner Exklamation bereichernd (sehr genossen bei Victor Sicard). Den ganzen Abend überstrahlt allerdings Mark Milhofer mit seiner Interpretation des Atlante. Seine Partie ist schon kompositorisch herrlich, aber er gestaltet sie auch noch mit kilometerweitem tonalen wie emotionalen Ambitus und einer Stimme, die in keiner Lage ihre Reichhaltigkeit verliert. Man kommt wohl in Dijons „Verzauberten Palast“, weil die Inszenierung einem die Abbildung des wirklich echten Lebens verspricht. Aber man bleibt für die Momente der Musik, in denen Rossis Händchen für Mehrstimmigkeit glänzt – poliert von Dirigent Alarcón, der seine Cappella Mediterranea und die Bühne absolut exakt zusammenhält.

Maike Graf

„Il palazzo incantato“ („Der verzauberte Palast“) (1642) // Azione in musica von Luigi Rossi

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 29. März 2021 kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Im trostlosen, brutalen Grenzgebiet

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Die fünfte Premiere der Wiener Staatsoper in dieser Saison zeigt Calixto Bieitos Inszenierung aus dem Jahr 1999, ursprünglich in San Francisco und Boston herausgebracht und nach 29 Theateraufführungen nun auch für Wien einstudiert. Der Regisseur will die menschlichen Begrenzungen in unseren Köpfen zeigen und führt uns zur spanischen Exklave Ceuta an die Grenze zwischen Marokko und der Iberischen Halbinsel mit viel aggressivem Realitätssinn und Perspektivlosigkeit. Das Bühnenbild von Alfons Flores zeichnet sich durch Leere und Düsternis aus. Im ersten Akt ist nur eine Telefonzelle zu sehen (aus der Carmen die „Habanera“ singt – mit wem sie telefoniert, bleibt ein Rätsel), ebenso eine Fahnenstange, an der eine Frau von der bestialischen Soldatenmeute malträtiert und aufgehängt wird. Danach befinden wir uns nicht in der Schenke von Lillas Pastia, sondern fünf ausrangierte Mercedes aus dritter oder vierter Hand dienen als einzige Requisiten. Auf ihnen wird ordinär und betrunken getanzt und hinter einem Auto wird erzwungener Oral-Sex dargestellt; außerdem zieren Campingsessel und ein Christbaum (?) das Bild des zweiten Aktes. Ein Mädchen (die Carmen der Zukunft oder vielleicht Mercédès’ Tochter?) spielt mit einer Barbie-Puppe am Souffleurkasten. Ein übergroßer Stier an der Rückwand thront im dritten Akt an der Rückwand und dominiert die leere Bühne. Und im Schlussakt sehen wir eine Bikini-Schönheit, die sich auf einem „Spanien-Badetuch“ eincremt – auf die Erklärung dazu wartet man noch?! Die Kostüme von Mercè Paloma wirken wie elende Hausfrauen-Kleider der siebziger Jahre und sollen wohl die Armut der Roma und Schmuggler darstellen. Praktisch alle Männer zeichnen sich durch Brutalität gegenüber den weiblichen Figuren aus – offensichtlich wollte der spanische Regisseur zeigen, welche Behandlung Frauen (als Vorbild dienten seine Großmütter) gewöhnt sind und wie ihr Leben in der Realität aussieht/aussah. Wer klassische Ästhetik und schöne, warme Farben liebt, wird der Zeffirelli-Inszenierung von 1978 nach 164 Vorstellungen nachweinen.

Als phänomenale Carmen erlebt man Anita Rachvelishvili mit großer Stimme und herrlichem Timbre – erstmals in dieser Rolle in Wien. Ihre ausdrucksstarke, intensive Darstellung einer Vollblutfrau, die ihren Körper bewusst einsetzt und die leidenschaftlich wie ein eruptierender Vulkan ist, zeichnet eine kraftvolle Studie der freiheitsliebenden Romni. Nach seinem Rollendebüt 2018 an der Wiener Staatsoper ist Piotr Beczała erst das zweite Mal in der Rolle des eifersüchtigen Brigadiers Don José zu erleben. Große Phrasierungskunst, samtiges Belcanto-Timbre und bombensichere Höhe gelingen dem Polen mühelos. Besonders das leidenschaftliche Liebesgeständnis der Blumenarie bleibt dauerhaft in Erinnerung. Als Hausdebütantin stellt sich Ensemblemitglied Vera-Lotte Boecker als Einspringerin vor. Ihre Micaëla ist kein blasses, unschuldiges Dorfmädchen, sondern eine rauchende Frau, die auch mit erotischen Attacken zu überzeugen versucht. Die Koloraturen erklingen lupenrein, nur zeitweise mischt sich unerwünschte Schärfe in die Stimme der Deutschen. Erwin Schrott präsentiert sich in Eleganz, Höhe und Tiefe gewohnt souverän und ist ein Bilderbuch-Escamillo. Auch Peter Kellner (Zuniga), Szilvia Vörös (Mercédès) und Slávka Zámečníková (Frasquita) aus dem Ensemble bieten starke Leistungen. Erstmals am Pult im Haus am Ring, darf Andrés Orozco-Estrada für Leidenschaft, Leichtigkeit und Emotionen sorgen.

Susanne Lukas

„Carmen“ (1875) // Opéra comique von Georges Bizet

Revolte der Phantasie

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Februar 2021)
Schorsch Kamerun zaubert mit zwei Stücken von Maurice Ravel – und spielt auch gleich selbst mit

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Februar 2021)
Schorsch Kamerun zaubert mit zwei Stücken von Maurice Ravel – und spielt auch gleich selbst mit

Die Staatsoper Stuttgart stellt die Verbindung zur aktuellen Zeit gleich in der Klammer nach dem Titel her und bezeichnet diese Premiere als „Preview“. Die Online-Premiere „Verzauberte Welt“ mit Werken von Maurice Ravel ist also nur ein Vorgeschmack auf die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in besseren Zeiten. Vorgesehen war die Haus-Premiere zuerst für Dezember 2020, dann für Februar dieses Jahres. Geworden ist aus beiden Terminen nichts.

In Stuttgart hat der renommierte Autor und Regisseur Schorsch Kamerun Maurice Ravels „Das Kind und die Zauberdinge“ („L’Enfant et les Sortilèges“) aus dem Jahre 1925 mit der Orchestersuite „Mutter Gans“ („Ma Mère l’Oye“) kombiniert. In die Umrahmung der Oper mit der Suite (in einer Fassung von Sebastian Schwab) hat der Regisseur eigene Songs und Texte integriert. Zusammen mit dem Opern-Hauptteil in der deutschen Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze bringt es der Abend auf kurzweilige und gut konsumierbare etwa 85 Minuten. In denen es nicht nur – wie in der Vorlage – um ein Kind mit Anpassungs- oder Vereinsamungsproblemen geht, sondern auch um den Zauber, zu dem das Theater in der Lage ist, wenn man es denn lässt. Heutzutage vom Homeschooling Betroffene werden wohl sofort einen Zugang zur kindlichen Revolte finden. Unversehens wird das Ganze zu einem Reflex der Grenzerfahrungen, die heutzutage Pandemie-bedingt gemacht werden. Neben Kamerun selbst sind 24 Stuttgarter Kinder dabei, wird die Revolte der Phantasie gegen die Zumutungen der Wirklichkeit zu einem generationsübergreifenden multiperspektivischen Kamera-Spektakel. Die Musik und die Bühne von Katja Eichbaum, die via Videos Foyer und den Bereich hinter der Bühne einbezieht, geben dabei die Atmosphäre vor.

Diana Haller fühlt sich vokal und im Habitus wunderbar präsent in das Kind hinein. Koloratursopranistin Maria Theresa Ullrich darf sich von der gestrengen Mutter über die chinesische Teetasse zur Libelle verwandeln. Hinreißend auch Charles Sy als altes Männchen, das die „Mathematik“ beschwört und sich damit nicht beliebt macht. Mit dem Kostüm, das Gloria Brillowska für Claudia Muschio kreiert hat, schießt diese als Prinzessin und Nachtigall mit ihrer lodernden Kostümpracht als Feuer den Vogel ab. Nach einem sozusagen systemsprengenden Wutausbruch rettet das Kind ein Eichhörnchen und kommt wieder zur Besinnung.

Der Spaß an der Verwandlung und die Freude am Spiel auf der Bühne und miteinander ist allen anzumerken. So wie dem ehemaligen Stuttgarter Generalmusikdirektor Dennis Russell Davies und seinen Musikern, die alle Darsteller auf Händen tragen und mit ihrem Ravel-Klang verzaubern.

Joachim Lange

„Verzauberte Welt“ // Maurice Ravels Oper „L’Enfant et les Sortilèges“ („Das Kind und die Zauberdinge“) (1925) und seine Orchestersuite „Ma Mère l’Oye“ („Mutter Gans“) (1910), ergänzt durch Songs und Texte von Schorsch Kamerun

Gesellschaftspolitische Attacke

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2021)
Milo Raus erste Opernregie: Dystopische Sicht auf Mozarts „La clemenza di Tito“

Genf / Grand Théâtre de Genève (Februar 2021)
Milo Raus erste Opernregie: Dystopische Sicht auf Mozarts „La clemenza di Tito“

Als Opernstadt hat bislang noch Zürich die Nase vorn. Doch unter Intendant Aviel Cahn positioniert sich auch Genf neben einer Fülle von Weltorganisationen zunehmend als Schweizer Haus von internationalem Rang. Dass einerseits 1920 hier der Völkerbund begann, andererseits heute das hinterfragenswerte internationale Bankengeschäft mit einem dubiosen „Freeport“ agiert, mag bei Cahns Engagement von Milo Rau an die Oper hereingespielt haben.

„Wenn für die Herrschaft … ein strenges Herz vonnöten ist, nehmt mir entweder die Herrschaft ab oder gebt mir ein anderes Herz. Wenn ich die Treue meiner Reiche nicht durch Liebe gewinnen kann, liegt mir nichts an der Treue, die eine Frucht der Angst ist.“ Das singt 1791 ein absolut Mächtiger, der in der Liebe Unglück hat, den der engste Freund verrät, der dessen tödlichem Anschlag und einem Putsch in der Hauptstadt gerade noch lebendig entkommt. Einer, der dennoch keine Todesurteile fällt, vielmehr allen verzeiht, weil er weiß, dass eben nur „geliebte“ Herrschaft künftig ergeben angenommen wird. Gegen alle Staatsräson siegen Lebensweisheit und Humanität. Diese Arie im Schlussteil von Mozarts „La clemenza di Tito“ entwirft eine faszinierende Utopie. Eine Herausforderung bis heute, weswegen schon im Brüssel Gerard Mortiers der Tito-Sänger gleichsam aus dem Bühnenbild heraustrat, vor dem sich schließenden Vorhang an einem Rednerpult stand – und eine „Grundsatzrede“ an uns Demokraten hielt.

Mozarts „Tito“ ist ein Werk mit hochpolitisch strahlendem Kern. Das mag für einen politisch ebenfalls hoch engagierten Regisseur wie Milo Rau die Brücke gewesen sein, über die er sich zu seiner ersten Opernregie locken ließ. Mit vielen bisherigen „freien“ und seit 2018 am belgischen Theater NTGent realisierten Werken greift Rau gezielt, herausfordernd bis provokativ ins reale Leben: von der Ceausescu-Hinrichtung über die Dutroux-Entsetzlichkeiten zum Ruanda-Völkermord, einem Kongo-Tribunal bis hin zum Film „Das neue Evangelium“, in dem ein farbiger Jesus für die Armen, Entrechteten und „Illegalen“ auf süditalienischen Gemüsefeldern eintritt. Zunehmend arbeitet Rau dabei mit Betroffenen, Zeitzeugen und gezielt auch Flüchtlingen zusammen.

Genau das ist auch Grundkonzept seiner „Tito“-Inszenierung. Von Bühnenbildner Anton Lukas hat er hinter einem vorderen Spielstreifen in der Bühnenmitte eine kleine Drehbühne bauen lassen. Sie zeigt aus Raus Sicht die zwei Seiten unserer Welt: einen edlen, hellen Raum, der sich am Ende als Saal einer Vernissage mit gutbetuchten Kunstfreunden entpuppt. Auf der Kehrseite die düstere Realität eines „unserer“ Flüchtlingslager – Notbehausungen aus Sperrgut, umherliegender Müll, eine brennende Öltonne, Schilder mit Protestparolen, ein Junge im Rollstuhl, fast durchweg Farbige – über allem ein (zu kleiner) Videoschirm. Und hier beginnt das Kernproblem der Aufführung. Mit Zustimmung des jungen Dirigenten Maxim Emelyanychev hat Rau Mozarts Werk drastisch zusammengestrichen: Eigentlich wären da die gegen die siegreiche „Weisheit“ und „Milde“ wie ein Feuersturm wütenden erotisch-eifersüchtig-rachelüsternen Verwicklungen um Freund Sesto, die ambitioniert verführerische, emotional furiose Vitellia, das junge Liebespaar Annio-Servilia und den gesetzesfixierten Staatsrat Publio. Allerdings: Ein Gutteil der Arien und ein Großteil der Rezitative wurden ersetzt durch gesprochene oder auf dem Bildschirm eingeblendete biographische Erzählungen dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Bedrohten, Gejagten und Gewaltopfer. Gleich am Anfang wird einem Theaterhandwerker das Herz herausgeschnitten und durch die zweieinhalbstündige Aufführung weitergereicht, bis es Tito zu seiner Arie in Händen hält. Davor war er – durch das Attentat tödlich verletzt – zu zwei Schamaninnen in ein notdürftiges Zelt gebracht und gerettet worden. Zwar zeigt uns ein Video-Einspieler seine Waschversuche, aber er bleibt ein Rotlehm-verkrustetes Gesicht. Im Verlauf wird auch die Erhängung zweier Dissidenten relativ bildgetreu vorgeführt, ohne dass die Parteiungen wirklich klar werden. Durchweg laufen Video-Kameraleute zur Live-Projektion durch die Szene und ihre eigenen Bilder. Dann lässt Rau seine 18 neuen Mitspieler auch einmal Géricaults „Floß der Verdammten“ nachstellen, den halbtoten Tito arrangiert er als Davids „Tod des Marat“. Genau das stellt sich auch als Haupteindruck ein: Die Spieler sind „arrangiert“ – in einem neuen Anklagestück angesichts unserer Welt – wie es der Science-Fiction-Film „Elysium“ eindringlich vorstellt. Raus Botschaft gipfelt im Vernissage-Ende mit dem Tod aller singenden Solisten vor einem Podest. Sie dürfen noch das Schlusssextett singen, aber davor wird auf dem Bildschirm eine kleine Geschichtsstunde von der Französischen Revolution bis zu Restauration projiziert. Zu den dystopischen Schlussbemerkungen und Fragen Milo Raus – etwa: wer wohl unsere fatale Geschichte erzählen wird – arrangieren sich die Unterdrückten dieser Erde um einen halbnackten Anführer zu Delacroixs „Die Freiheit führt das Volk“ – und einzig Vogelgezwitscher klingt durch das finale Dunkel.

Ach ja, musiziert und gesungen wird auch. Dirigent Emelyanychev führt das Orchestre de la Suisse Romande zu straffem, klar konturiertem Klang, doch nichtsdestotrotz wirkt Mozart alles in allem degradiert zur guten Begleitmusik der szenischen Fülle. Die Solisten um den Tito-Tenor Bernard Richter klangen alle sehr gut. Doch ihre von Mozart singulär gestaltete „Tour de Force“ durch wirklich alle Gefühlslagen ist in diesem Opus reduziert auf kleine vokale Statusmeldungen.

Wenn man – wie der Rezensent – nahezu alle Aspekte seiner dystopischen Weltsicht teilt, bleibt die Fundamentalkritik: Das ist nicht Thema in Mozarts „Clemenza di Tito“. Da ließen sich mehrfach weit besser kritische Protestsongs einspielen und eben ein neues Stück kreieren. Und Rau sollte selbstkritisch sehen, dass Personenregie einen unverzichtbaren Wert in der Neuinterpretation von Klassikern bildet – ein Anspruch, dem er nicht gerecht geworden ist. So bleibt eine Vermutung: Intendant Cahn und Regisseur Rau wollen mit einem Klassiker locken – um dann dem Publikum der reichen Finanzmetropole eine Art Moralpredigt zu servieren. Intention ehrenwert – aber Mozart missbraucht.

Wolf-Dieter Peter

„La clemenza di Tito“ (1791) // Opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart