Ist das ein Hörspiel, ein Schauspiel, eine Oper, eine Performance oder eine musikalische Rauminstallation? Diese Frage wirft der Livestream von „Ødipus REC.“ aus dem Pumpenhaus Münster auf. Am Schluss wird klar: Es ist alles zusammen. Das innovative Ensemble „The Navidsons“ setzt mit dieser Produktion seine Suche nach einer neuen Form des Musiktheaters fort. Diesmal hat das Ensemble eine Auseinandersetzung mit dem berühmten Ödipus-Stoff entwickelt, die tief beeindruckt. Besonders bemerkenswert: Man sieht nicht eine lediglich abgefilmte Bühneninszenierung, sondern eine fernsehgerecht aufbereitete Produktion.

Grundlage hierzu ist die Textcollage von Lisa Danulat. Die preisgekrönte Autorin konzentriert sich auf die dramatische Begegnung des unwissenden Königs Ödipus mit dem wissenden Seher Theresias. Für ihn nutzt sie unveränderte Ausschnitte der Hölderlin-Übersetzung des antiken Sophokles-Dramas. Diese setzt sie in Dialog zu ihrem eigenen Ödipus-Text. Dabei transferiert sie die im antiken Drama ausweglose Schuld-Verstrickung des Menschen durch Götterwillen in die medial-digitale Umzingelung des modernen Menschen, aus der er nicht entrinnen kann. Auch Querverweise auf den ABBA-Song „Waterloo“ und Michael Jacksons „Heal the World“ bezieht sie mit ein. Und die Mordtat des Ödipus verbindet sie mit einer surreal getexteten Unfallszene zwischen einem Hirsch und einem Auto. Das sind nur wenige Eindrücke der vielen assoziativen Bilder der Autorin. Beide Textteile sind wortgewaltig, bildstark und bedeutungsschwer.

Eine Herausforderung an die szenische Umsetzung. Die besteht das Ensemble in der klugen Regie von Till Wyler von Ballmoos ausgezeichnet. Vor allen fasziniert die Bühnenkunst der beiden herausragenden Hauptdarsteller, des Schauspielers Thomas Douglas (König Ödipus) und des Countertenors Michael Taylor (Seher Theresias). Douglas treibt mit nicht nachlassender Intensität in Sprache und Spiel seinen Ödipus mit teilweise explosiver Dramatik auf den Zusammenbruch angesichts der niederschmetternden Wahrheit hin. Und der wunderbar singende Countertenor erfüllt die melismatisch auskomponierten Hölderlin-Verse mit verzweifeltem und tragischem Ton, der unter die Haut geht. Leider auf Kosten der Verständlichkeit seiner Sprache. So bleibt die inhaltliche Bedeutung des Gesangs über weite Strecken unklar. Hier wäre eine Untertitelung dringend anzuraten.

Mit der Installation runder Spiegel bietet Ausstatter Tassilo Tesche ein einfaches, aber wirkungsvolles Gegenüber für die langen Selbstreflexionen, mit denen sich Ödipus zu Beginn in einem atemberaubend spannungsreichen Monolog auf der Suche nach seinem Ich herumquält. Danach bestimmt ein riesiges, frei schwebendes Skelett-Teil, an Gebärmutter und lange Beinknochen erinnernd, die Bühne. Es wird immer wieder von beiden Darstellern angespielt und einbezogen, wie auch das Instrumental-Quartett. Ole Hübner schrieb farbig instrumentierte Klänge, die das Geschehen mit expressiven Klängen begleiten. Die Musik bleibt zwar im Hintergrund, vertieft aber wesentlich die emotionalen Ebenen des psychodramatischen Geschehens.

Claus-Ulrich Heinke

„Ødipus REC.“ (2020) // Musiktheater von „The Navidsons“ (Komposition: Ole Hübner, Texte: Lisa Danulat)

Die Inszenierung ist als Stream via YouTube abrufbar.