Als Opernstadt hat bislang noch Zürich die Nase vorn. Doch unter Intendant Aviel Cahn positioniert sich auch Genf neben einer Fülle von Weltorganisationen zunehmend als Schweizer Haus von internationalem Rang. Dass einerseits 1920 hier der Völkerbund begann, andererseits heute das hinterfragenswerte internationale Bankengeschäft mit einem dubiosen „Freeport“ agiert, mag bei Cahns Engagement von Milo Rau an die Oper hereingespielt haben.

„Wenn für die Herrschaft … ein strenges Herz vonnöten ist, nehmt mir entweder die Herrschaft ab oder gebt mir ein anderes Herz. Wenn ich die Treue meiner Reiche nicht durch Liebe gewinnen kann, liegt mir nichts an der Treue, die eine Frucht der Angst ist.“ Das singt 1791 ein absolut Mächtiger, der in der Liebe Unglück hat, den der engste Freund verrät, der dessen tödlichem Anschlag und einem Putsch in der Hauptstadt gerade noch lebendig entkommt. Einer, der dennoch keine Todesurteile fällt, vielmehr allen verzeiht, weil er weiß, dass eben nur „geliebte“ Herrschaft künftig ergeben angenommen wird. Gegen alle Staatsräson siegen Lebensweisheit und Humanität. Diese Arie im Schlussteil von Mozarts „La clemenza di Tito“ entwirft eine faszinierende Utopie. Eine Herausforderung bis heute, weswegen schon im Brüssel Gerard Mortiers der Tito-Sänger gleichsam aus dem Bühnenbild heraustrat, vor dem sich schließenden Vorhang an einem Rednerpult stand – und eine „Grundsatzrede“ an uns Demokraten hielt.

Mozarts „Tito“ ist ein Werk mit hochpolitisch strahlendem Kern. Das mag für einen politisch ebenfalls hoch engagierten Regisseur wie Milo Rau die Brücke gewesen sein, über die er sich zu seiner ersten Opernregie locken ließ. Mit vielen bisherigen „freien“ und seit 2018 am belgischen Theater NTGent realisierten Werken greift Rau gezielt, herausfordernd bis provokativ ins reale Leben: von der Ceausescu-Hinrichtung über die Dutroux-Entsetzlichkeiten zum Ruanda-Völkermord, einem Kongo-Tribunal bis hin zum Film „Das neue Evangelium“, in dem ein farbiger Jesus für die Armen, Entrechteten und „Illegalen“ auf süditalienischen Gemüsefeldern eintritt. Zunehmend arbeitet Rau dabei mit Betroffenen, Zeitzeugen und gezielt auch Flüchtlingen zusammen.

Genau das ist auch Grundkonzept seiner „Tito“-Inszenierung. Von Bühnenbildner Anton Lukas hat er hinter einem vorderen Spielstreifen in der Bühnenmitte eine kleine Drehbühne bauen lassen. Sie zeigt aus Raus Sicht die zwei Seiten unserer Welt: einen edlen, hellen Raum, der sich am Ende als Saal einer Vernissage mit gutbetuchten Kunstfreunden entpuppt. Auf der Kehrseite die düstere Realität eines „unserer“ Flüchtlingslager – Notbehausungen aus Sperrgut, umherliegender Müll, eine brennende Öltonne, Schilder mit Protestparolen, ein Junge im Rollstuhl, fast durchweg Farbige – über allem ein (zu kleiner) Videoschirm. Und hier beginnt das Kernproblem der Aufführung. Mit Zustimmung des jungen Dirigenten Maxim Emelyanychev hat Rau Mozarts Werk drastisch zusammengestrichen: Eigentlich wären da die gegen die siegreiche „Weisheit“ und „Milde“ wie ein Feuersturm wütenden erotisch-eifersüchtig-rachelüsternen Verwicklungen um Freund Sesto, die ambitioniert verführerische, emotional furiose Vitellia, das junge Liebespaar Annio-Servilia und den gesetzesfixierten Staatsrat Publio. Allerdings: Ein Gutteil der Arien und ein Großteil der Rezitative wurden ersetzt durch gesprochene oder auf dem Bildschirm eingeblendete biographische Erzählungen dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Bedrohten, Gejagten und Gewaltopfer. Gleich am Anfang wird einem Theaterhandwerker das Herz herausgeschnitten und durch die zweieinhalbstündige Aufführung weitergereicht, bis es Tito zu seiner Arie in Händen hält. Davor war er – durch das Attentat tödlich verletzt – zu zwei Schamaninnen in ein notdürftiges Zelt gebracht und gerettet worden. Zwar zeigt uns ein Video-Einspieler seine Waschversuche, aber er bleibt ein Rotlehm-verkrustetes Gesicht. Im Verlauf wird auch die Erhängung zweier Dissidenten relativ bildgetreu vorgeführt, ohne dass die Parteiungen wirklich klar werden. Durchweg laufen Video-Kameraleute zur Live-Projektion durch die Szene und ihre eigenen Bilder. Dann lässt Rau seine 18 neuen Mitspieler auch einmal Géricaults „Floß der Verdammten“ nachstellen, den halbtoten Tito arrangiert er als Davids „Tod des Marat“. Genau das stellt sich auch als Haupteindruck ein: Die Spieler sind „arrangiert“ – in einem neuen Anklagestück angesichts unserer Welt – wie es der Science-Fiction-Film „Elysium“ eindringlich vorstellt. Raus Botschaft gipfelt im Vernissage-Ende mit dem Tod aller singenden Solisten vor einem Podest. Sie dürfen noch das Schlusssextett singen, aber davor wird auf dem Bildschirm eine kleine Geschichtsstunde von der Französischen Revolution bis zu Restauration projiziert. Zu den dystopischen Schlussbemerkungen und Fragen Milo Raus – etwa: wer wohl unsere fatale Geschichte erzählen wird – arrangieren sich die Unterdrückten dieser Erde um einen halbnackten Anführer zu Delacroixs „Die Freiheit führt das Volk“ – und einzig Vogelgezwitscher klingt durch das finale Dunkel.

Ach ja, musiziert und gesungen wird auch. Dirigent Emelyanychev führt das Orchestre de la Suisse Romande zu straffem, klar konturiertem Klang, doch nichtsdestotrotz wirkt Mozart alles in allem degradiert zur guten Begleitmusik der szenischen Fülle. Die Solisten um den Tito-Tenor Bernard Richter klangen alle sehr gut. Doch ihre von Mozart singulär gestaltete „Tour de Force“ durch wirklich alle Gefühlslagen ist in diesem Opus reduziert auf kleine vokale Statusmeldungen.

Wenn man – wie der Rezensent – nahezu alle Aspekte seiner dystopischen Weltsicht teilt, bleibt die Fundamentalkritik: Das ist nicht Thema in Mozarts „Clemenza di Tito“. Da ließen sich mehrfach weit besser kritische Protestsongs einspielen und eben ein neues Stück kreieren. Und Rau sollte selbstkritisch sehen, dass Personenregie einen unverzichtbaren Wert in der Neuinterpretation von Klassikern bildet – ein Anspruch, dem er nicht gerecht geworden ist. So bleibt eine Vermutung: Intendant Cahn und Regisseur Rau wollen mit einem Klassiker locken – um dann dem Publikum der reichen Finanzmetropole eine Art Moralpredigt zu servieren. Intention ehrenwert – aber Mozart missbraucht.

Wolf-Dieter Peter

„La clemenza di Tito“ (1791) // Opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart