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Uraufführung

Lob der Arbeit!

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Oktober 2021)
Wichtige musiktheatrale Gesellschaftskritik „Stadt der Arbeit“

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Oktober 2021)
Wichtige musiktheatrale Gesellschaftskritik „Stadt der Arbeit“

Arbeit als Lebensmittelpunkt, als das eine sinnstiftende Moment, als die einzige Sache, die einen Menschen wertvoll für die Gesellschaft macht. Wie viel Zeit bleibt, das Arbeiten zu reflektieren, wenn man sich 40 bis 80 Stunden in ebendiesem versenkt? Regisseur Volker Lösch und Autor Ulf Schmidt nutzen ihre Zeit und Arbeit, um gerade das für das Opernpublikum zu tun, indem sie die Lohnarbeit, deren Sinn und Strukturen hinterfragen. Dafür gittern sie 15 Bürgerinnen und Bürger – Laien aus Gelsenkirchen, die aber so gar nicht mehr wie Laien spielen und singen – in einzelne Zellenwürfel eines Arbeitshauses, in dem sie das ordentliche Arbeiten erlernen sollen. Angeblich passen sie nicht in das Systembild, das sich beispielsweise aus einer 40-Stunden-Woche und einer stringenten Karriere erbauen soll. Es gilt: „Seid produktiv und preist die Arbeit.“ So prügelt es das personifizierte Arbeitsamt aus Aufseherin (Gloria Iberl-Thieme) und Aufseher (Glenn Goltz) in die Körper der Arbeitslosen. Dabei wird eine Kreuzung aus perfektem Mann des Goldenen Schnittes und boshaft-draculahaftem Monster (Sebastian Schiller) mit Deutschland-Stola von der Bühnendecke gelassen, welches die Deutschlandhymne mit arbeitsverherrlichendem Text singt. In giftgrünem Licht antwortet der Chor der Arbeitslosen mit gelogener Liebe zur Lohnarbeit.

In brutaler Ehrlichkeit und Echtheit liegt die berührende Qualität dieses Abends, denn Autor Ulf Schmidt hat das Libretto aus den persönlichen Arbeits- und Arbeitslosigkeitsgeschichten der Teilnehmenden generiert. Da ist zum Beispiel Vera, die mitten im Jurastudium zur alleinerziehenden Mutter wird und ohne Abschluss in ehrenamtlichen, sozialen, aber geldlosen Tätigkeiten hängen bleibt. Oder Klaus, der auf seine Ausbildung als Versicherungskaufmann verzichten muss, weil keines der Versicherungsgebäude im Umkreis einen barrierefreien Zugang für seinen Rollstuhl ermöglichen kann. Es sind Arbeitsplatzknappheit, Bürokratiewahnsinn, psychische Krankheiten oder das Individuum übersehende Arbeitsamt-Strukturen, welche die Teilnehmenden auf die Gelsenkirchener Bühne bringen, um die Stereotype ihrer Arbeitslosigkeit zu entkräften.

Über zwei Akte mit eindringlichem Forderungen-Epilog sind Musiken und Lieder gestreut, die mal Hanns Eisler oder Heino, aber auch Haydn oder Mozart zitieren. Die bläserstarke, poppige Band auf der Bühne, geleitet von Michael Wilhelmi, trifft Stimmung und Töne – die singende Fraktion nicht durchgehend. Während Sopranistin Eleonore Marguerre das umgetextete „Casta Diva“ mit metallischem Vibrato wärmt, fällt es ihr schwer, ihre Stimme in die poppigen Passagen zu zwängen. Bei Schauspielerin Gloria Iberl-Thieme und Schauspieler Glenn Goltz sieht man das nicht so eng, weil sie den ganzen Abend springen, tanzen oder später auf Segways über die Zielscheiben-Bühne von Carola Reuther rollen. Multitalent Sebastian Schiller, der mit musicaldurchtränkter Stimme seinen verschiedensten Rollen gerecht wird, könnte der Star des Abends sein, wenn die Musik eine tragendere Rolle spielen würde. Es sind aber die Geschichten der Bürgerinnen und Bürger und damit das Schauspiel, das hier im Fokus steht und über den Abend hinaus dringt, bis man wieder am gewohnten Arbeitsplatz sitzt und angeregt das eigene Arbeiten infrage stellt.

Maike Graf

„Stadt der Arbeit“ (2021) // Ein musiktheatrales Projekt mit Gelsenkirchener Bürger*innen von Volker Lösch und Ulf Schmidt

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Wahlkampf in Neukölln

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Es ist Wahljahr. In der Provinzstadt Hohenpfaffenberg-Siegertsbrunn kämpfen die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die Rechte Alina Deutschmann um das Bürgermeisterinnen-Amt. Zimperlich geht es da nicht zu, auch für kriminelle Aktionen sind sich die beiden nicht zu schade. Und die halbwüchsigen Töchter samt Anhang müssen mitmachen. Am Ende gewinnt eine Dritte, die strategisch gewiefte Wahlmanagerin von Alina. So in etwa könnte es sich demnächst in der Realität abspielen, wohl aber nicht ganz so überspitzt wie in Peter Lunds neuestem Musical „Eine Stimme für Deutschland“. Denn da entpuppt sich Alina als Exmann von Regula, dessen Neigung zum Tragen von Frauenkleidern ein Trennungsgrund war. Und das Happy End? Neues Familienglück zu viert statt Partei-Karriere.

Die jüngste Koproduktion zwischen dem Studiengang Musical/Show der UdK und der Neuköllner Oper Berlin, wo die überspitzte Farce Premiere feierte, strotzt vor politischer und gesellschaftlicher Aktualität, angereichert mit Diversität jeglicher Art, Identitätsfindung, sexueller Orientierung, Gendern und allem, was momentan so modisch ist. Mit leichter Hand, Biss und viel Witz fügt Lund alle Stränge zusammen und schafft zudem Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Jede und jeder kriegt ihr Fett weg, es gibt weder nur gute noch rein böse Charaktere.

In der schnell wandelbaren Kulisse von Ulrike Reinhard, die auch die Kostüme entworfen hat, setzt Lund als eigener Regisseur auf Tempo und genaues Timing. Joel Zupan präsentiert Alina als imposante deutsche Diva mit blondem Haarkranz. Hochgewachsen, kerzengerade beherrscht er die Bühne, ob in glamouröser Goldrobe oder im schicken Schwarzen. Als Gegenpol zu diesem Überweib zeigt Veronika de Vries als Regula die Seiten einer überforderten und gleichzeitig verbissenen Konkurrentin. Ihre Töchter, verkörpert von Mascha Volmershausen und Maria Joachimstaller, sind Energiebündel, die die männlichen Teenager mit ihrer geballten Mädchenpower in Schach halten. Soufjan Ibrahim als Gutmensch Albert und Fabian Sedlmeir als Adolf erspielen sich mit ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit viele Sympathien. Clarissa Gundlach als taffe Wahlmanagerin und Gwen Johansson als verletzliche lesbische Freundin Anuk komplettieren das Ensemble, das toll spielt, singt und auch in den von Cristina Perera choreografierten Tanzeinlagen überzeugt.

Große Themen brauchen große Musik. Die hat Thomas Zaufke komponiert: Seine melodisch eingängigen, effektvollen Songs, teils mit Bezug auf Klassiker von Bach bis Beethoven und bekannte Musicalvorgänger, sind eingebettet in einen Sound, der durch Synthesizer-Verstärkung Orchesterfülle imaginiert. Die kleine Band, von Hans-Peter Kirchberg souverän geleitet, hat hörbar ihr Vergnügen daran. „Entschuldige“ heißt ein Song, der das Wort als inflationäre Floskel entlarvt. Doch für das Musical braucht sich das Team nicht zu entschuldigen. Es ist beste Unterhaltung am Puls der Zeit.

Karin Coper

„Eine Stimme für Deutschland. Die musikalische Quittung“ (2021) // Musical von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text)

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Gegen den Strom schwimmen

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Linz / Landestheater Linz (März 2021)
Online-Uraufführung von Or Matias’ Musical „The Wave“

Mit seiner Musical-Sparte hat das Landestheater Linz keineswegs nur seine hauseigene Cashcow, die massentaugliche Unterhaltung produziert. Der künstlerische Leiter Matthias Davids hat das Repertoire von Anfang an immer wieder auch mit interessanten Ur- und Erstaufführungen aufgewertet, um so die komplette Bandbreite des Genres abzubilden. Jüngster Streich ist die Weltpremiere von „The Wave“ aus der Feder von Or Matias, der sich dafür von Morton Rhues gleichnamigem Roman inspirieren ließ – einem Klassiker der Schullektüre, der seit seiner Veröffentlichung 1981 leider wenig an Aktualität eingebüßt hat.

Im Zentrum: das Sozialexperiment eines amerikanischen Geschichtslehrers, der seine Schulklasse am eigenen Leib spüren lässt, dass eine scheinbar positive Gruppendynamik schnell ins Negative kippen kann. Und wie leicht faschistische Tendenzen auf fruchtbaren Boden fallen. All die missverstandenen und ausgegrenzten Teens in seiner Klasse finden in der von ihm gegründeten Bewegung „Die Welle“ zunächst ein neues Gemeinschaftsgefühl. „Kraft durch Disziplin! Kraft durch Zusammenhalt! Kraft durch Taten! Kraft durch Stolz!“ Es dauert jedoch nicht lange, bis die Gleichschaltung zur Ausgrenzung und letzten Endes zur offenen Gewalt führt. Eine Erkenntnis, die sich für den Lehrer Ron Jones mindestens so erschütternd offenbart wie für seine Klasse.

Passend zur Geschichte setzt die von jazzigen Anklängen durchzogene Partitur weniger auf den großen Effekt und mehr auf die ruhigen Töne, mit denen Matias in die Seelen seiner Figuren blicken lässt. Wenn auch nicht immer ganz frei von Klischees, die von Übersetzerin Jana Mischke ebenso kräftig bedient werden. Denn natürlich gibt es auch hier die üblichen Verdächtigen wie die Streberin, den Sportler oder den gedichteschreibenden Außenseiter. Anders als bei manchem 08/15-Teenie-Film sind diese Stereotypen jedoch keine Steilvorlage für flache Gags. Vielmehr zeigen sie, dass keiner von uns immun ist.

Das musikalische Spektrum ist ähnlich divers aufgestellt, vom eingängigen a-cappella-Auftakt über sanfte Balladen bis hin zu Ensembles im prägnanten Marschrhythmus. Richtige Ohrwürmer gibt es zwar nur wenige, doch stehen die Nummern stets im Dienst der Geschichte, die Christoph Drewitz im nüchternen, laborhaften Bühnenraum von Veronika Tupy sehr auf die Figuren fokussiert erzählt. Christian Fröhlich gibt den hemdsärmeligen Pädagogen mit der nötigen stimmlichen Autorität und schickt einem bei seiner Wandlung vom Kumpeltypen zum harten Anführer tatsächlich auch kleine Schauer über den Rücken. Aus der Schulklasse, die mit Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien aufgestockt wurde, sticht vor allem Hanna Kastner als Ella heraus, die als einzige den Aufstand wagt und dafür bitter bezahlt. Die anschließende Szene mit Ron und dem vom Mobbingopfer zum Fanatiker mutierten Robert (Lukas Sandmann) zählt wahrscheinlich zu den beklemmendsten Momenten dieser Show, der man nach Pandemie-Ende ein langes Bühnenleben wünscht.

Tobias Hell

„The Wave“ („Die Welle“) (Uraufführung aufgezeichnet am 5. November 2020 / Stream-Premiere am 20. März 2021) // Musical von Or Matias

Die Inszenierung ist als Stream bis 17. April 2021 auf der Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).