Das Budapester „Haydneum“ bringt neuerdings Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit zum Klingen
von Tobias Hell
Die historisch informierte Aufführungspraxis gehört für die Meisterwerke des Barock heute ebenso zum guten Ton wie bei Komponisten vom Rang eines Mozart oder Beethoven. Waren es in den 1970er Jahren einzelne Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt, die wichtige Aufbauarbeit leisteten, haben sich inzwischen zahlreiche Originalklang-Ensembles und Festivals etabliert, die längst nicht mehr nur ein Spezialisten-Publikum anlocken. Ein neuer Anziehungspunkt ist das 2021 ins Leben gerufene „Haydneum“ in Budapest. Wobei der Namensgeber mit seinen Kompositionen zwar den Dreh- und Angelpunkt im Programm bildet, dieses jedoch keineswegs dominiert und es so, selbst für Kenner, immer wieder die eine oder andere Rarität zu entdecken gibt. Ein ambitioniertes Projekt, das sich nicht nur im jährlichen Herbstfestival, einem Festival für geistliche Musik sowie Kammermusik-Konzerten auf Schloss Esterházy in Fertőd manifestiert.
Dem künstlerischen Leiter Benoît Dratwicki und seinem Team geht es nicht einfach nur darum, internationale Künstlerinnen und Künstler für hochkarätige Konzerte nach Budapest zu holen. Sie wollen auch tief in die Musikgeschichte der Donau-Metropole eintauchen und gleichzeitig eine neue Generation dafür begeistern, sich mit alten Instrumenten und Spieltechniken auseinanderzusetzen. „Ungarn verfügte im 17. und 18. Jahrhundert über ein viel reicheres musikalisches Repertoire, als wir ursprünglich annahmen. Es gibt zahlreiche, nach wie vor wenig bekannte, ungarisch gebürtige oder ausländische Komponisten zu entdecken, die zwischen 1630 und 1830 hier wirkten. Diese Musik wieder zugänglich zu machen, ist der zweite Aufgabenbereich des Haydneums.“ Umso wichtiger ist daher die enge Kooperation mit der Nationalbibliothek, in deren Archiven zahlreiche Schätze liegen. Und es schwebt tatsächlich eine gewisse Ehrfurcht im Raum, wenn Dratwickis Kollegin Katalin Kim der zum Pressetermin geladenen Runde in andächtiger Stille Bücher mit historischen Bühnenbild-Entwürfen zeigt, Opern-Partituren mit persönlichen Korrektur-Einträgen von „Giuseppe Haydn“ oder handschriftliche Skizzen zu seinen für Esterházy geschaffenen Sinfonien und Oratorien.
Neben quellenkritischen Neuausgaben der Werke des Namenspatrons harren hier auch unzählige Kompositionen von Zeitgenossen wie Gregor Joseph Werner, Benedek Istvánffy oder Anton Zimmermann darauf, akribisch katalogisiert und anschließend ihrem Dornröschenschlaf entrissen zu werden. Ganz ähnlich der Arbeit, die der Palazzetto Bru Zane seit geraumer Zeit für die französische Oper der Romantik leistet. Nicht zufällig zählt der promovierte Musikwissenschaftler und zusätzlich an Cello und Fagott ausgebildete Benoît Dratwicki auch dort, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Alexandre, zu den kreativen Köpfen hinter den Kulissen. Und wie bei den in Venedig ansässigen Kollegen ist man auch beim Haydneum mit begleitenden CD-Produktionen um künstlerische Nachhaltigkeit bemüht.
Gestern und heute
Alt und Neu liegen in Budapest oft nah beieinander. Und so lockt das Festival zwar mit authentischer Interpretation an historischen Orten, präsentiert sich anlässlich des Eröffnungskonzerts, das vom Ensemble Le Concert de la Loge aus Paris bestritten wird, aber genauso gerne im hochmodern ausgestatteten Művészetek Palotája, dem Palast der Künste, den die Ungarn selbst gerne der Einfachheit halber nur kurz „MüPa“ nennen und der Opernreisenden vor allem durch die jährlich stattfindenden Wagner-Aufführungen von Ádám Fischer ein Begriff sein dürfte. Und ein bisschen Opernmusik findet sich dann natürlich ebenfalls im Programm des aktuellen Herbstfestivals – gleich am ersten Abend mit den Ouvertüren zu Salieris „Les Horaces“ oder Cherubinis „Démophon“. Während das jedoch nicht mehr als kleine Appetithappen sind, lässt sich zum Festival-Finale im prunkvollen großen Saal der Liszt-Akademie Haydns selten gespielte Oper „L’isola disabitata“ – leider nur in konzertanter Form – kennenlernen. „Das ist immer auch eine finanzielle Frage. Eine szenische Produktion braucht längere Vorbereitung und kostet auch mehr Geld“, erzählt Dirigent György Vashegyi zwischen den Proben. „Aber natürlich wäre es schön, auch einmal eine szenische Oper zu zeigen. Wenn sich zum Beispiel die Staatsoper für eine Kooperation begeistern lassen könnte, wären wir die letzten, die Nein sagen würden.“
Das Interesse am historisch informierten Klang wurde bei Vashegyi einst vor allem durch Helmuth Rilling geweckt, den er als 16-Jähriger erstmals bei einem Konzert in Budapest live erlebte und später im Rahmen mehrerer Meisterkurse auch als Pädagogen kennenlernen durfte. Ähnlich prägend die Begegnung mit John Eliot Gardiner. Dessen Bach-Interpretationen hinterließen tiefen Eindruck beim jungen Studenten und führten schließlich dazu, dass Vashegyi 1990 seinen Purcell Kórus (Purcell Chor) gründete und ein Jahr später mit dem Orfeo Zenekar (Orfeo Orchester) einen zweiten Klangkörper ins Leben rief, mit dem er sich auf die Musik des Barock und der Wiener Klassik spezialisierte – seit 1994 komplett auf historischem Instrumentarium. Dass man die ersten Jahre ohne externe Finanzierung oder staatliche Förderung überlebte, mutet rückblickend fast schon wie ein kleines Wunder an, bestärkt den Dirigenten aber in seinem Glauben an die Bedeutung des Projekts Haydneum.
Auch Vashegyi hat mit seinen Ensembles bereits in der Vergangenheit immer wieder Raritäten zutage gefördert und auf Tonträger dokumentiert. So etwa Gregor Joseph Werners Oratorium „Der gute Hirt“ oder „Des Kaiser Constantin I. Feldzug und Sieg“ aus der Feder von Josephs jüngerem Bruder Michael Haydn. Und so versteht es sich beinahe von selbst, dass er und seine Klangkörper auch im Konzertprogramm des Herbstfestivals prominent vertreten sind.
Geschichtsträchtige Spielorte
Spannende Vergleiche erlaubt da beispielsweise ein Konzert mit dem Purcell Kórus in der zwischen 1725 und 1742 erbauten Universitätskirche: Gleich drei kurze Messen für die Fastenzeit von Michael Haydn stehen auf dem Plan, die sowohl an Komplexität als auch in Intensität der Interpretation stetig zunehmen und das prunkvolle barocke Ambiente durch ihre anrührende Schlichtheit kontrastieren.
Ähnlich geschichtsträchtig der Konzert-Ort des folgenden Abends, der Beethoven-Saal des ehemaligen Karmeliterklosters. Thronend auf dem Burgberg am rechten Ufer der Donau – und mit einem traumhaften Blick auf die Stadt – bewohnte hier unter anderem bereits im 13. Jahrhundert König Béla IV. seine Residenz in strategisch günstiger Lage, ehe 2017 der amtierende Ministerpräsident seinen neuen Amtssitz bezog. Aus rein musikhistorischer Sicht reizt aber wohl eher das ebenfalls hier beheimatete ehemalige Burgtheater, in dem schon Beethoven konzertierte und das in seiner nüchtern renovierten Form den Schauplatz für das Gastspiel der Musica Aeterna aus Bratislava bildet. Das Ensemble von Konzertmeister Peter Zajíček widmet sich dabei neben einem kleinen Abstecher zu Haydn vor allem der Musik seines Zeitgenossen Anton Zimmermann, hat aber im ersten Teil des Abends mit leichten Intonationstrübungen zu kämpfen und kann erst auf der Zielgeraden mit der Cassatio in G-Dur wieder Boden gutmachen.
Altbekanntes in neuem historisch informiertem Gewand wartet wiederum im nach Georg Solti benannten Kammermusiksaal der Liszt-Akademie, wo Pianistin Petra Somlai Beethoven am Hammerflügel interpretiert, was sowohl der „Mondscheinsonate“ als auch der „Pathétique“ eine andere Aura verleiht – sofern man bereit ist, sich bei diesen Dauerbrennern des Klavierrepertoires von modernen Hörgewohnheiten freizumachen. Leichter ist der Zugang da schon bei der Haydn Sonate in D-Dur Hob XVI:42 oder Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, bei dem sich offenbar auch Tenor Zoltán Megyesi immer mehr von den Qualitäten des weicheren Originalinstruments überzeugen lässt und im Zuge dessen auch seinen dramatisch gestählten Stimmbändern lyrischere Nuancen abtrotzt.
Mit seiner reichen Theaterszene, architektonischen Sehenswürdigkeiten und der gehaltvollen Küche ist Budapest das ganze Jahr über eine Reise wert. Doch für entdeckungsfreudige Klassikfans empfiehlt es sich angesichts solch ambitionierter musikalischer Entdeckungstouren durchaus, den nächsten Besuch vielleicht einmal mit dem Spielplan dieses kleinen, aber feinen Festivals zu synchronisieren.
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023