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Beiträge 2023/01

Ambitioniertes Kleinod

Das Budapester „Haydneum“ bringt neuerdings Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit zum Klingen

Das Budapester „Haydneum“ bringt neuerdings Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit zum Klingen

von Tobias Hell

Die historisch informierte Aufführungspraxis gehört für die Meisterwerke des Barock heute ebenso zum guten Ton wie bei Komponisten vom Rang eines Mozart oder Beethoven. Waren es in den 1970er Jahren einzelne Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt, die wichtige Aufbauarbeit leisteten, haben sich inzwischen zahlreiche Originalklang-Ensembles und Festivals etabliert, die längst nicht mehr nur ein Spezialisten-Publikum anlocken. Ein neuer Anziehungspunkt ist das 2021 ins Leben gerufene „Haydneum“ in Budapest. Wobei der Namensgeber mit seinen Kompositionen zwar den Dreh- und Angelpunkt im Programm bildet, dieses jedoch keineswegs dominiert und es so, selbst für Kenner, immer wieder die eine oder andere Rarität zu entdecken gibt. Ein ambitioniertes Projekt, das sich nicht nur im jährlichen Herbstfestival, einem Festival für geistliche Musik sowie Kammermusik-Konzerten auf Schloss Esterházy in ­Fertőd ­manifestiert.

Dem künstlerischen Leiter Benoît Dratwicki und seinem Team geht es nicht einfach nur darum, internationale Künstlerinnen und Künstler für hochkarätige Konzerte nach Budapest zu holen. Sie wollen auch tief in die Musikgeschichte der Donau-Metropole eintauchen und gleichzeitig eine neue Generation dafür begeistern, sich mit alten Instrumenten und Spieltechniken auseinanderzusetzen. „Ungarn verfügte im 17. und 18. Jahrhundert über ein viel reicheres musikalisches Repertoire, als wir ursprünglich annahmen. Es gibt zahlreiche, nach wie vor wenig bekannte, ungarisch gebürtige oder ausländische Komponisten zu entdecken, die zwischen 1630 und 1830 hier wirkten. Diese Musik wieder zugänglich zu machen, ist der zweite Aufgabenbereich des Haydneums.“ Umso wichtiger ist daher die enge Kooperation mit der Nationalbibliothek, in deren Archiven zahlreiche Schätze liegen. Und es schwebt tatsächlich eine gewisse Ehrfurcht im Raum, wenn ­Dratwickis Kollegin Katalin Kim der zum Pressetermin geladenen Runde in andächtiger Stille Bücher mit historischen Bühnenbild-Entwürfen zeigt, Opern-Partituren mit persönlichen Korrektur-Einträgen von „Giuseppe Haydn“ oder handschriftliche Skizzen zu seinen für Esterházy geschaffenen Sinfonien und Oratorien.

Neben quellenkritischen Neuausgaben der Werke des Namenspatrons harren hier auch unzählige Kompositionen von Zeitgenossen wie Gregor Joseph Werner, Benedek Istvánffy oder Anton Zimmermann darauf, akribisch katalogisiert und anschließend ihrem Dornröschenschlaf entrissen zu werden. Ganz ähnlich der Arbeit, die der Palazzetto Bru Zane seit geraumer Zeit für die französische Oper der Romantik leistet. Nicht zufällig zählt der promovierte Musikwissenschaftler und zusätzlich an Cello und Fagott ausgebildete Benoît ­Dratwicki auch dort, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Alexandre, zu den kreativen Köpfen hinter den Kulissen. Und wie bei den in Venedig ansässigen Kollegen ist man auch beim Haydneum mit begleitenden CD-Produktionen um künstlerische Nachhaltigkeit bemüht.

(Foto Haydneum/Pilvax Films)

Gestern und heute

Alt und Neu liegen in Budapest oft nah beieinander. Und so lockt das Festival zwar mit authentischer Interpretation an historischen Orten, präsentiert sich anlässlich des Eröffnungskonzerts, das vom Ensemble Le Concert de la Loge aus Paris bestritten wird, aber genauso ­gerne im hochmodern ausgestatteten Művészetek ­Palotája, dem Palast der Künste, den die Ungarn selbst gerne der Einfachheit halber nur kurz „MüPa“ nennen und der Opernreisenden vor allem durch die jährlich stattfindenden Wagner-Aufführungen von Ádám Fischer ein Begriff sein dürfte. Und ein bisschen Opernmusik findet sich dann natürlich ebenfalls im Programm des aktuellen Herbstfestivals – gleich am ersten Abend mit den Ouvertüren zu Salieris „Les Horaces“ oder Cherubinis „Démophon“. Während das jedoch nicht mehr als kleine Appetithappen sind, lässt sich zum Festival-Finale im prunkvollen großen Saal der Liszt-Akademie Haydns selten gespielte Oper „L’isola disabitata“ – leider nur in konzertanter Form – kennenlernen. „Das ist immer auch eine finanzielle Frage. Eine szenische Produktion braucht längere Vorbereitung und kostet auch mehr Geld“, erzählt Dirigent György Vashegyi zwischen den Proben. „Aber natürlich wäre es schön, auch einmal eine szenische Oper zu zeigen. Wenn sich zum Beispiel die Staatsoper für eine Kooperation begeistern lassen könnte, wären wir die letzten, die Nein sagen würden.“

Das Interesse am historisch informierten Klang wurde bei Vashegyi einst vor allem durch Helmuth Rilling geweckt, den er als 16-Jähriger erstmals bei einem Konzert in Budapest live erlebte und später im Rahmen mehrerer Meisterkurse auch als Pädagogen kennenlernen durfte. Ähnlich prägend die Begegnung mit John Eliot Gardiner. Dessen Bach-Interpretationen hinterließen tiefen Eindruck beim jungen Studenten und führten schließlich dazu, dass Vashegyi 1990 seinen Purcell ­Kórus (Purcell Chor) gründete und ein Jahr später mit dem Orfeo Zenekar (Orfeo Orchester) einen zweiten Klangkörper ins Leben rief, mit dem er sich auf die Musik des Barock und der Wiener Klassik spezialisierte – seit 1994 komplett auf historischem Instrumentarium. Dass man die ersten Jahre ohne externe Finanzierung oder staatliche Förderung überlebte, mutet rückblickend fast schon wie ein kleines Wunder an, bestärkt den Dirigenten aber in seinem Glauben an die Bedeutung des Projekts Haydneum.

Auch Vashegyi hat mit seinen Ensembles bereits in der Vergangenheit immer wieder Raritäten zutage gefördert und auf Tonträger dokumentiert. So etwa Gregor Joseph Werners Oratorium „Der gute Hirt“ oder „Des Kaiser Constantin I. Feldzug und Sieg“ aus der Feder von Josephs jüngerem Bruder Michael Haydn. Und so versteht es sich beinahe von selbst, dass er und seine Klangkörper auch im Konzertprogramm des Herbstfestivals prominent vertreten sind.

Geschichtsträchtige Spielorte

Spannende Vergleiche erlaubt da beispielsweise ein Konzert mit dem Purcell Kórus in der zwischen 1725 und 1742 erbauten Universitätskirche: Gleich drei kurze Messen für die Fastenzeit von Michael Haydn stehen auf dem Plan, die sowohl an Komplexität als auch in Intensität der Interpretation stetig zunehmen und das prunkvolle barocke Ambiente durch ihre anrührende Schlichtheit kontrastieren.

Ähnlich geschichtsträchtig der Konzert-Ort des folgenden Abends, der Beethoven-Saal des ehemaligen Karmeliterklosters. Thronend auf dem Burgberg am rechten Ufer der Donau – und mit einem traumhaften Blick auf die Stadt – bewohnte hier unter anderem bereits im 13. Jahrhundert König Béla IV. seine Residenz in strategisch günstiger Lage, ehe 2017 der amtierende Ministerpräsident seinen neuen Amtssitz bezog. Aus rein musikhistorischer Sicht reizt aber wohl eher das ebenfalls hier beheimatete ehemalige Burgtheater, in dem schon Beethoven konzertierte und das in seiner nüchtern renovierten Form den Schauplatz für das Gastspiel der Musica Aeterna aus Bratislava bildet. Das Ensemble von Konzertmeister Peter Zajíček widmet sich dabei neben einem kleinen Abstecher zu Haydn vor allem der Musik seines Zeitgenossen Anton Zimmermann, hat aber im ersten Teil des Abends mit leichten Intonationstrübungen zu kämpfen und kann erst auf der Zielgeraden mit der Cassatio in G-Dur wieder Boden gutmachen.

Petra Somlai interpretiert bei einem charmant selbst moderierten Konzert Beethoven auf dem Hammerflügel (Foto Haydneum/Pilvax Films)

Altbekanntes in neuem historisch informiertem Gewand wartet wiederum im nach ­Georg Solti benannten Kammermusiksaal der Liszt-Akademie, wo Pianistin Petra ­Somlai ­Beethoven am Hammerflügel interpretiert, was sowohl der „Mondscheinsonate“ als auch der „Pathétique“ eine andere Aura verleiht – sofern man bereit ist, sich bei diesen Dauerbrennern des Klavierrepertoires von modernen Hörgewohnheiten freizumachen. Leichter ist der Zugang da schon bei der Haydn Sonate in D-Dur Hob XVI:42 oder ­Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, bei dem sich offenbar auch Tenor Zoltán ­Megyesi immer mehr von den Qualitäten des weicheren Originalinstruments überzeugen lässt und im Zuge dessen auch seinen dramatisch gestählten Stimmbändern lyrischere Nuancen abtrotzt.

Mit seiner reichen Theaterszene, architektonischen Sehenswürdigkeiten und der gehaltvollen Küche ist Budapest das ganze Jahr über eine Reise wert. Doch für entdeckungsfreudige Klassikfans empfiehlt es sich angesichts solch ambitionierter musikalischer Entdeckungstouren durchaus, den nächsten Besuch vielleicht einmal mit dem Spielplan dieses kleinen, aber feinen Festivals zu synchronisieren.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023

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Von künftigen Träumen

Klassik-Shootingstar Äneas Humm im Gespräch

Klassik-Shootingstar Äneas Humm im Gespräch

„Wunderkind“ und „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“: Der junge Schweizer Bariton Äneas Humm hat sich mit gerade einmal 27 Jahren auf dem hart umkämpften Sängermarkt etabliert. Ein Gespräch über Erwartungsdruck, eine Generation im Lockdown-Modus, die Liebe zum Lied und zur Heimat – und die ­Schattenseiten einer nach außen hin weltoffenen Branche

Interview Florian Maier

Mit nur 19 Jahren widmete Ihnen das Schweizer Fernsehen eine Reportage: „Ein Wunderkind wird ­erwachsen“. Ein Titel, mit dem Sie sich wohlfühlen?
Ich finde, da ist nichts Wahres dran. Wenn man „Wunderkind“ hört, dann denkt man an Mozart oder an ­Schubert – und von denen bin ich kilometerweit entfernt. (lacht) Das eigentliche Wunder war, dass ich eine so reiche Ausbildung genossen habe als Kind, angefangen bei meiner Zeit als Zürcher Sängerknabe bis hin zu Jugendmusikwettbewerben. Da steckt harte Arbeit dahinter. Und viel Glück. Deshalb finde ich es so wichtig, Kinder und Jugendliche musikalisch zu fördern, sei es im Pop oder in der Klassik. Das öffnet so viele Türen im Leben.

Und doch war da immer der Erwartungsdruck „Weltkarriere“. Wie geht man damit um?
Gar nicht – ich denke immer von Vorstellung zu Vorstellung.

Sie haben die harte Bühnenrealität in einem Alter kennengelernt, als andere noch neben der Schule ihre Freizeit genossen haben. Hieß das oft auch zurückstecken?
Als Sänger steckt man immer zurück: nicht feiern, nicht trinken, nicht zu viel Spaß haben. Aktuell habe ich fünf Vorstellungen mit drei Partien hintereinander. Das schafft man nur mit einem durchgetakteten Plan und Disziplin. Aber die Musik gibt einem so viel und das ist das Schöne.

Bleibt da noch Zeit für Hobbys?
Seit etwa einem Jahr treibe ich sehr viel Sport. Das Auspowern tut mir auch für die Bühne unglaublich gut. Und natürlich besuche ich sehr gerne meine Familie und treffe Freunde. Das ist ja das Tolle als Musiker: Egal wo man hinkommt, man kennt eigentlich immer jemanden.

Väterlicherseits bringt Ihre Familie seit Generationen Künstlerpersönlichkeiten hervor: Schriftsteller, ­Maler und Bühnenbildner, Schauspieler, Keramiker. War Ihr Weg quasi vorgezeichnet?
Geprägt hat mich das auf jeden Fall. Wobei selbst mein Großvater Ambrosius Humm, der in ganz Europa Bühnenbilder entworfen hat, nie sonderlich opernaffin war – da bin ich tatsächlich der Erste. (lacht) Aber natürlich wurde mir durch meine Familie sehr früh ganz generell der Zugang zu Theater, Kunst und Musik eröffnet.

Ein Plan B kam nie infrage?
Doch, aber der ist auch künstlerischer Natur. Ich denke jetzt noch nicht ans Aufhören, finde es aber wichtig sich zu fragen: Was würde ich machen, wenn es plötzlich nicht mehr weitergehen sollte mit dem Gesang? Dann würde ich eines Tages gern die Seiten wechseln, weil ich mich wahnsinnig für künstlerische Planung, Operndirektion und Casting interessiere.

Schätzen Sie Ihre Laufbahn in dieser Hinsicht als Vorteil ein?
Eigene Bühnenerfahrungen halte ich bei Casting-Direktoren nie für verkehrt. Jemand plant ganz anders, wenn er weiß, wie es ist, so oft aufzutreten, und welche Regenerationszeiten man beachten sollte.

Die Opernhäuser dürfen für die nächsten Jahrzehnte also schon mal ihre Kalender zücken?
Sehr gerne. (lacht)

Von künftigen Träumen zurück zum aktuellen Aufbau Ihrer Karriere: Wurde diese durch Corona ausgebremst?
Ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen das Glück, während all der Lockdowns fest engagiert gewesen zu sein. Aber der größte Rückwurf passierte tatsächlich während meiner Zeit in Weimar, als mich der damalige Operndirektor anrief: „Äneas, es tut mir leid, aber wir müssen die ‚Così‘ komplett absagen.“ Ich habe das erst nicht realisiert, dachte, es ginge um zwei oder drei Vorstellungen. Ein paar Minuten später meldete er sich direkt noch einmal: „Achja, ‚Ariadne‘ ist abgesagt, ‚West Side Story‘ auch – es ist alles abgesagt.“ Da habe ich ihn gefragt, was ich denn jetzt bitte noch machen soll. Und er meinte nur: „Ich weiß es auch nicht. Fahr nach Hause …“

Und dort?
Ich habe versucht, meine Stimme fit zu halten, viel geübt, über Zoom Unterricht bei meinem Lehrer genommen.

Und Sie sind mitten in der laufenden Spielzeit 2019/20 nach Karlsruhe gewechselt.
Genau. In Weimar wurde alles abgesagt und was in meiner zweiten Saison gekommen wäre, war überhaupt nicht klar. Ich habe also um Vertragsauflösung gebeten und konnte in Karlsruhe an einem größeren Haus den nächsten Karriereschritt mit sehr schönen Partien machen: „Die Zauberflöte“, „Don Pasquale“, „Die schweigsame Frau“, Schumanns „Faust“-Szenen. Abgesehen von „Don Pasquale“ musste zwar wieder ­alles abgesagt ­werden, aber das Einstudieren hat sich auf jeden Fall gelohnt.

In der laufenden Spielzeit ist Äneas Humm Ensemblemitglied am Theater St.Gallen und dort unter anderem als Dr. Falke im Johann-Strauss-Klassiker „Die Fledermaus“ zu erleben (Foto Ludwig Olah)

Erst Weimar, dann Karlsruhe, jetzt St. Gallen: sehr schnelle Schritte in Ihrem jungen Alter.
Ganz unabhängig von der Pandemie bin ich eigentlich immer wegen der mir angebotenen Partien gewechselt. Es gibt natürlich Stimmen, die meinten: „Das sieht nicht gut aus, dass du schon so oft das Haus gewechselt hast.“ Aber wegen Corona sind zwei Jahre verstrichen, in denen wichtige Erfahrungen ausgeblieben sind und das für eine sängerische Laufbahn nötige Rollenpaket nicht wirklich erarbeitet werden konnte. In zehn Jahren wird man das in vielen Lebensläufen merken, wenn man die nächsten Schritte nicht jetzt plant. Als dann der St. ­Galler Operndirektor Jan Henric Bogen mit dem Angebot auf mich zukam, eine Spielzeit hier Ensemblemitglied zu werden und unter anderem den Papageno und Dr. Falke zu singen, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.

Und was kommt danach?
Ab der kommenden Saison werde ich freischaffend sein. Eine Entscheidung, die ich in den letzten Wochen gefällt habe. Man hat in einem Festvertrag das Glück, „durchbezahlt“ zu werden, aber natürlich auch die Verpflichtung, immer auf Abruf zu sein. Das ist mit einer Karriere, die sicherlich zur Hälfte konzerttätig ist, sehr schwer zu vereinbaren. Im Sommer gebe ich meine Debüts beim Heidelberger Frühling und beim Lucerne Festival und kehre dann als Agrippa in John Adams’ neuester Oper „Antony and Cleopatra“ ans Gran Teatre del Liceu zurück – Adams selbst dirigiert. Daneben sind Hausdebüts an der Staatsoper Hamburg und dem MusikTheater an der Wien sowie einige schöne Liederabende und Konzerte geplant. Ich freue mich also auf diverse neue Herausforderungen.

Sie sprechen es an: Abseits der Opernhäuser trifft man Sie auch regelmäßig in den Konzertsälen an, wo Sie sich dem Lied widmen. Ihre zweite Leidenschaft?
Absolut! Wenn man so jung anfängt zu studieren wie ich, ist der ganze Körper ja noch im Wachstum. Und man selbst immer ein bisschen „in Warteschleife“, weil man nie weiß, wann sich die Stimme wirklich gesetzt hat und man endlich richtig loslegen kann. Viele Arien waren in dieser Zeit einfach noch nicht möglich, Lieder aber schon. Daraus hat sich dann eine langjährige Liebe entwickelt.

Die jetzt mit einem OPUS Klassik als „Nachwuchskünstler des Jahres“ für Ihre CD „Embrace“ – ein klug konzipiertes Programm mit Liedern von Fanny ­Hensel, Franz Liszt, Viktor Ullmann und Edvard Grieg – belohnt wurde. Waren Sie überrascht?
Mich haben zuvor ein paar befreundete Intendanten angerufen, die meinten: „Du bist in drei Kategorien nominiert, da gewinnt man immer eine.“ Ich wollte mir trotzdem nicht zu viele Hoffnungen machen. Man kennt den OPUS als die große, abendfüllende, opulente Sendung, bei der immer bekannte Gesichter ausgezeichnet werden. Als dann mein Label anrief und mir die Nachricht mitgeteilt hat, habe ich nur gefragt: „Was? Ich? Haben die meine CD auch wirklich gehört?“ (lacht)

Seine Liebe zum Liedgesang brachte Humm 2022 die Ehrung als „OPUS Klassik-Nachwuchskünstler des Jahres“ ein (Foto Markus Nass)

Gibt es gesangliche Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Eines meiner größten Vorbilder ist Renée Fleming. Sie hat eine Karriere gemacht, wie sie im Buche steht: alle Genres, immer gepflegt, immer wunderbar gesungen. Oder auch Hermann Prey. Der hatte eine ganz andere Stimme als ich und ich will ihn überhaupt nicht kopieren. Aber ich finde es wahnsinnig beeindruckend, wie eine so schwere Stimme auch so liebevoll klingen kann.

Nun treffen wir uns hier gerade in St. Gallen, Ihrer aktuellen Wirkungsstätte. Und nicht einmal 200 km weiter wird Regula Mühlemann am Theater Basel im Januar ihre erste Gilda singen. Bleiben Schweizer Klassikstars denn gern daheim?
(lacht) Ich bin jemand, der es liebt, daheim zu sein. Das ist auch etwas, was ich an diesem Leben nicht mag: das ständige Unterwegs-Sein. Regula geht es da vielleicht ähnlich. Und das Publikum freut sich, weil sie Leute sehen, die sie kennen. Was vielleicht bei all den leidigen politischen Diskussionen um Subventionskürzungen für die Kultur auch einen positiven Identifikationseffekt haben kann.

Sind denn die Folgen der Pandemie kulturpolitisch auch hier schon spürbar?
Leider ja. Gerade bei kleinen Veranstaltern, aber auch bei den großen Häusern sinken die Etats und damit auch die Gagen für die Musikerinnen und Musiker. Als Beispiel: Die St.Galler Festspiele finden künftig nur noch alle zwei Jahre im Stiftsbezirk statt, dazwischen in kleinerer Form außerhalb der Stadt – warum auch immer. Meiner Meinung nach sollten wir gerade jetzt in Kultur investieren und sie dem Publikum durch günstigere ­Tickets zugänglicher machen …

Auf Ihren Social-Media-Kanälen haben Sie kürzlich auch die Vorurteile angeprangert, Sie seien „zu schwul“ und zu „groß“ für die Oper. Diese Aussagen haben mich überrascht, weil sich doch gerade die Theaterbranche sehr weltoffen gibt und nach außen immer für Toleranz eintritt. Haben Sie da andere Erfahrungen gemacht?
Man erlebt leider sehr viel – auch Kritik, die über das Fachliche hinausgeht … Es gab immer wieder Personen in Vorsingen, die wegen meiner sexuellen Ausrichtung zu mir gesagt haben: „Sie müssen lernen, wie ein Hetero-­Mann über die Bühne zu laufen.“ Oder: „Sie sind zu groß, Sie werden nie einen Papageno singen“ – nur weil ich eine Körpergröße von 1,96 m habe. Als ich mich in unserer Inszenierung von Joseph Bolognes „L’amant anonyme“ in Frauenkleidern auf der Bühne bewegen sollte, dachte ich nur: Zum Glück habe ich nicht auf diese Leute gehört. Als junger Mensch ist solche vorurteilsbehaftete Kritik nicht leicht wegzustecken – Gott sei Dank habe ich es geschafft, zu mir selbst zu stehen!

Sind das Einzelfälle oder würden Sie die Klassikszene als verkappt diskriminierend einstufen?
Ich glaube, in jeder Branche steckt das traurige Poten­zial zu Diskriminierung. Dazu gehören die Menschen, die darin arbeiten, bis zu denjenigen, die von außen dazustoßen. Die Oper ist in meinen Augen gerade wirklich in einem Wandel, wo Diskriminierung endlich immer mehr hinter uns gelassen wird. Aber es braucht Intendantinnen und Intendanten, die vehement gegen so etwas vorgehen und ein diverses Ensemble auf die Bühne und damit auch in die Gesellschaft stellen, sodass wir uns selbst in den Opern und Theatern wiedererkennen können.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2023

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