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Eine feste Größe

von Florian Maier

Orpheus – eine Lichtgestalt der griechischen Antike, die wie kaum eine andere für die Kraft der Musik und die emotionale Tiefe der menschlichen Seele zugleich steht. Nicht umsonst beschäftigten sich Künstler über die Jahrhunderte stets aufs Neue mit dem griechischen Heros (und tun es nach wie vor), natürlich auch in der schöpferischen Kreativität der Musik, in der jener antike Sänger und Dichter immer wieder rezipiert wurde. Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ gilt weithin als eine der Geburtsstunden der Oper, in deren Historie sich im Laufe der Jahrhunderte auch Vertonungen desselben Stoffes von Christoph Willibald Gluck, Joseph Haydn, Jacques Offenbach, Ernst Krenek und Hans Werner Henze einreihten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ein großer Name also, den Clauspeter Koscielny und Klaus Laskowski vor 50 Jahren zur Betitelung ihres neuen „Informationsmagazins für Oper, Konzert, Bühne und Schallplatte“ wählten. Im Januar 1973 erschien die erste Ausgabe der Fachzeitschrift „orpheus“, die von da an monatlich über aktuelle Operninszenierungen, Konzerte und bald auch Ballettaufführungen informierte (mit einem jährlichen Sommer-Doppelheft Juli/August). In einer Zeit, in der das Internet und damit auch der ständige Abruf neuer Inhalte inkl. mehrmaliger „Updates“ noch Zukunftsmusik war, ermöglichten die Magazingründer ihrer Leserschaft einen regelmäßigen umfassenden Rundblick über aktuelle Ereignisse und Entwicklungen im Bereich Musiktheater.

Passioniert, charmant, zuweilen auch skurril – die „Gründerjahre“

Von Beginn an wurden dabei eigene Akzente und Schwerpunkte gesetzt – etwa mit der Rubrik „Opernhäuser der Welt“. In Form von Fortsetzungsberichten wurde über längere Zeit Ausgabe für Ausgabe die Vergangenheit großer Häuser reflektiert – der Komischen Oper Berlin, des Deutschen Opernhauses Berlin in den Jahren 1934 bis 1943 oder der Wiener Staatsoper nach 1945. Eine ebenso ausführliche wie leserbindende Plattform, die wohl auch die Neugier auf die nächste Ausgabe steigern sollte und schnell zu einem treuen Abonnentenstamm führte. Bis heute konzentriert sich die Berichterstattung vor allem auf die dichte und reiche Theaterlandschaft des deutschsprachigen Raums. Doch bereits in den Anfangsjahren wagte man auch mehr als nur einen kurzen Blick in die internationale Opernwelt. Neben Spielplandaten aus Ländern wie Spanien, Großbritannien, Frankreich und den USA wurde beispielsweise immer wieder über die Opernpläne in der DDR und der ČSSR berichtet. Mit Erika Davidson gab es bereits im ersten Jahr eine New Yorker Korrespondentin, die Neuigkeiten von der Metropolitan Opera verbreitete.

Der „orpheus“ war von Beginn an ein in viele Ecken des musikalischen Kosmos blickendes Fachmagazin und zugleich ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Als Clauspeter Koscielny sich zur Gründung der Zeitschrift entschloss, war er 26 Jahre alt und hatte keinerlei Ahnung vom Verlagsgeschäft, wie er selbst stets sagte. Ihn und seine Mitstreiter einte die menschliche Stimme als das „wunderbarste Instrument der Welt“. Und so eta­blierte sich schnell eine redaktionelle Struktur vieler passionierter Opernfans, durch die der „orpheus“ in seinen ersten Jahrgängen einen ganz eigenen, unmittelbaren und charmanten Zugang erhielt. Opernfreunde schrieben für Opernfreunde und berichteten dabei in sehr ehrlichen und starken Worten von ihren Eindrücken beim Besuch einer Inszenierung oder dem Hören einer neuen Einspielung. Damit einhergehend kam es – so verrät der Blick ins Archiv – von Zeit zu Zeit auch zu einem sehr persönlichen und emotionsgeladenen Stil, den man aus heutiger Distanz durchaus als verletzend und unprofessionell einstufen würde („dümmliche Handlung“; „Das Ganze war so peinlich, daß man es schnell vom Spielplan nehmen sollte, damit nicht noch weiteres Unheil auf dem so geschändeten Sektor Musical angerichtet wird“ etc.).

Orpheus Cover
Erstausgabe Januar 1973
Das erste Editorial

Von vornherein ein Herzstück des redaktionellen Konzepts: die persönliche Bindung zum Leser. Bereits 1974 kam es zur ersten Wahl des beliebtesten Opernstars, die Leonie Rysanek und Plácido Domingo für sich entscheiden konnten. Daneben bot man schon frühzeitig Sammelschuber mit übersichtlichem Index an – eine durchaus begrüßenswerte Entscheidung angesichts der aus heutiger Sicht etwas skurril anmutenden Praxis, sämtliche Seiten eines Jahrgangs über die einzelnen Monate hinweg fortlaufend zu nummerieren, wodurch man in einer Dezember-Ausgabe regelmäßig mit Seite 738 und Co. konfrontiert wurde. Die Erscheinungsform des Magazins blieb zunächst über Jahre hinweg das DIN A5-Format, erst 1990 wurde es im Zuge einer grafischen Umgestaltung und inhaltlichen Erweiterung auf die bis heute bestehende, etwa doppelte Größe angepasst.

Ende des Jahres 1977 schied Klaus Laskowski wegen seiner Regietätigkeit als Chefredakteur aus, ohne dem Magazin in den Folgejahren als Journalist ganz verloren zu gehen. Clauspeter Koscielny blieb weiterhin Herausgeber sowie organisatorischer Leiter und wurde bald darauf auch alleinverantwortlicher Chefredakteur. Unter seiner Leitung etablierte sich der „orpheus“ über vier Jahrzehnte zu einem Fachmagazin, das nicht mehr aus der Branche wegzudenken war. Neben Rezensionen und Interviews mit Sängern, Dirigenten und Intendanten konnte sich die Zeitschrift auch mit eigenwilligen Schwerpunkten und Themenstellungen ein unverwechselbares Profil erarbeiten.

Von Mammutprojekten und dem Mut zur eigenen Stimme

Eines der beliebtesten Formate in der Leserschaft stellte dabei eine Serie dar, die im Dezember 1981 mit Giacomo Meyerbeers „L’étoile du nord“ startete: „Die vergessene Oper – Ein Führer für Fans“. „Daß dem wissensdurstigen Opernfreund bei der Lektüre auch des ausführlichsten Opernführers keinesfalls alle Fragen beantwortet werden, ist eine Erfahrung, die sicherlich jeder schon einmal machen mußte. Um diesen Mangel ein wenig auszugleichen, beginnen wir heute eine Folge von Betrachtungen ehemals erfolgreicher und heute vergessener Opernwerke, die es wert sind, von neuem beleuchtet zu werden“, erläuterte die Redaktion um Koscielny ihr Vorhaben und traf damit den Nerv der Zeit: Sage und schreibe 238 (!) Werke wurden zwischen 1981 und 2017 vorgestellt. Darunter finden sich selten gespielte Opern beliebter Komponisten wie „Die Feen“ von Richard Wagner, Kurt Weills „Der Silbersee – Ein Wintermärchen“ oder auch die einzige vollendete Oper von Franz Liszt, „Don Sanche ou le château d’amour“. Demgegenüber wurden aber auch zahlreiche Werke besprochen, deren Komponisten zu Lebzeiten durchaus zu Ruhm gelangten, heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten sind, darunter Heinrich Dorn („Die Nibelungen“), Pierantonio Tasca („A Santa Lucia“) und Albert Dietrich („Robin Hood“).

Auch die kritische Reflexion der Gegenwart blieb nicht aus, hängen musikdramatische Projekte doch bis heute immer auch stark von kulturpolitischen Parametern ab. Und so waren kritische und durchaus streitbare Töne zum Status quo der Theaterlandschaft seit jeher Teil des Magazinprofils, etwa 1989, als der Bariton Bernd Weikl seine Ansichten zu „werkdienlicheren Berufsbedingungen für Sänger“ äußerte. Vier Jahre später folgte mit „Musikszene heute – Die ‚Macher‘“ eine neue Serie, die Einblicke in die schnelllebige Musikwelt geben sollte: „Die Schallplattenindustrie ist in der Krise, der Niedergang der Musik- und besonders der Opernszene wird allgemein beschworen, die Konditionen für Sänger, Theater und Industrie sind nicht mehr dieselben wie noch vor 10 Jahren. In den nächsten Ausgaben sollen in loser Folge die ‚Macher‘ der Musikszene, also Produzenten, Opernintendanten, Agenten und andere Organisatoren zu ihrem Metier und ihrer Verantwortung befragt werden, um dem Laien ein möglichst breites Bild der Arbeits- und Produktionsbedingungen dieser oft nur an der Oberfläche glitternden Welt zu vermitteln. Denn das Geschäft ist beinhart.“

„Ist das Theater noch zu retten?“, fragte die Dramaturgische Gesellschaft ebenfalls bereits auf ihrer Jahrestagung 1982. Dem Gedanken ambivalenter, von unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtender Kultur-Berichterstattung verpflichtet, setzten Clauspeter Koscielny und sein ab 1982 für mehr als zwei Jahrzehnte tätiger neuer Chefredakteur Geerd Heinsen über die Jahre immer wieder neue Schwerpunkte (darunter auch die Aufarbeitung des künstlerischen Erbes der DDR), fragten kritisch nach und suchten nach Impulsen für die Zukunft der immer wieder totgesagten Kunstform Oper. Einen relevanten Beitrag zur Kunst schaffen – das war nicht nur das stete Ziel Clauspeter Koscielnys, dafür wurde er 2011 auch mit dem KulturPreis Europa ausgezeichnet, der ihn für 40 Jahre Förderung junger musikalischer und journalistischer Talente würdigte.

Das Ende einer Ära?

Während sich die Oper trotz aller Unkenrufe in unterschiedlichen, auch intermedialen Erscheinungsformen neuer Beliebtheit erfreute und bis heute ihre eigene Renaissance erlebt, veränderte sich der Zeitschriftenmarkt. Damit musste auch die „orpheus“-Redaktion umgehen, die im Zuge der Refinanzierung über die Jahrzehnte wie andere Magazine auch nicht gänzlich auf Preiserhöhungen verzichten konnte. Im Januar 2003 wurde die Erscheinungsweise des Fachmagazins auf einen zweimonatigen Turnus umgestellt, während sich das Internet gemäß des „up to date“-Credos mit fortschreitender Geschwindigkeit und Informationsdichte zu einer neuen Konkurrenz für gedruckte Publikationen entwickelte. Als Ende 2012 der 40. Jahrgang des „orpheus“ vollendet war, bedeutete dies zugleich das Ende einer Ära – in einem beiliegenden Sondermagazin bedankte sich Clauspeter Koscielny für die jahrzehntelange Treue seiner Leserschaft und verkündete das Ende der Erscheinung des Magazins unter seiner Leitung. Es sollte das vorläufige Aus des „orpheus“ bedeuten. Nach vier Jahrzehnten eigenverantwortlicher Herausgeberschaft bestand durchaus der Wunsch, die Zukunft des Magazins gesichert zu wissen. Doch die Last der alleinigen Verantwortung für ein inzwischen derart gewachsenes Projekt wollte Clauspeter Koscielny im fortgeschrittenen Alter wohl nicht mehr alleine tragen.

Nach 40 Jahren Magazingeschichte und um die 400 Ausgaben (plus zahlreiche Sonderbeilagen mit eigenen Schwerpunkten) schien die Musikbranche nun um ein traditionsreiches Format ärmer zu sein. Doch so einfach wollte Koscielny nicht aufgeben und Mitte 2015 – nach zweieinhalb Jahren Abstinenz – gelang es ihm, zusammen mit der Augsburger Kulturmanagerin Iris Steiner seine Zeitschrift im Münchner MuP Verlag aus dem „Dornröschenschlaf“ zu erwecken. Mit optischem Relaunch, einer Erweiterung des Ressortspektrums und neuen Vertriebswegen wagte der „orpheus“ den Sprung ins fünfte Jahrzehnt. Das Konzept ging neue Wege, ohne seine Anfänge zu verleugnen: Nach wie vor sind jahrzehntelange journalistische Weggefährten mit an Bord und parallel gibt man auch „neuen Stimmen“ Raum. Plötzlich und unerwartet verstarb im April 2017 Clauspeter Koscielny, das Team sortierte sich neu und Iris Steiner übernahm nach einer kurzen Übergangszeit das Magazin in ihren eigenen Augsburger Verlag Kulturbüro. Zu Beginn des Jahres 2020 wurde die Orpheus Verlags GmbH gegründet, Iris Steiner übernahm die Geschäftsführung. „Der ‚orpheus‘ wurde und wird getragen vom Herzblut des Gründers Clauspeter Koscielny und seiner Mitstreiter. Das gilt bis heute und daran werden wir uns auch in Zukunft orientieren – bei all der nötigen Entwicklung im 21. Jahrhundert.“ Vor 50 Jahren gestartet, gilt damit bis heute, was Clauspeter Koscielny zum 30-jährigen Jubiläum 2003 in Anspielung auf den mythologischen Paten des Fachmagazins feststellte: „Anders als unser Namensgeber blicken wir nicht zurück, schon gar nicht ‚im Zorn‘, sondern stramm nach vorne.“

Clauspeter KoscielnyEpilog, „orpheus“ 11+12/2012

Clauspeter Koscielny
Clauspeter Koscielny

Mein damaliger Freund Klaus Laskowski, Journalist in der Medienbranche, war von meiner Opernmagazin-Idee absolut überzeugt und meinte, dann machen wir es eben. Also los! Von Verlagsführung nicht die geringste Ahnung, doch ausgestattet mit unbändiger Leidenschaft für die menschliche Stimme, für das Musiktheater generell und einer heute nicht mehr vorstellbaren konstruktiven Naivität, bastelten wir im wahrsten Sinne des Wortes die erste Ausgabe in meiner Küche auf einer Glasplatte als Papiermontage zusammen – allerdings ohne zu wissen oder auch nur im geringsten zu ahnen, welche Risiken und Nebenwirkungen da auf uns zukommen werden. Endlich, im Januar 1973 war der „orpheus“ geboren und wurde unter Mitwirkung der unterschiedlichsten Freundes- und Interessengruppen regelrecht großgezogen, er hatte seine Kindheit, seine Jugend, „orpheus“ hatte seine Studienjahre, zwischendurch auch seine Flegeljahre, war manchmal provokant und sogar politisch nicht unaktiv – z.B. boykottierten wir jegliche Berichterstattung über Frankreichs Opernleben in der Zeit, als die französische Regierung im Pazifik ihre Atomversuche unternahm! – die damalige Pariser Presseattachese Suzy Léfort, die absolute Königin der französischen Kultur-Presse, würdigte unsere mutige Haltung und bot uns kurz darauf in Monaco bei einem Galabanquet im Beisein von Fürst Rainier III. das Du an. Gott, waren wir stolz darauf, denn nun standen wir auf der Liste der wichtigsten Pressemitglieder ganz oben, und das war das Entrée für die bedeutenden Opernpremieren und Konzertereignisse in ganz Frankreich und Monaco.