marfa 2020_06 // VOICE OVER
Es ist mit ihr fast ebenso hochkomplex wie mit der Frage nach dem Huhn und dem Ei – die menschliche Stimme stellt uns nicht nur vor philosophische Fragen: Was prägt wen mehr – die Stimme die Persönlichkeit oder die Persönlichkeit die Stimme?
Mitunter ist sie auch rein mechanisch ein Problem und lässt uns gänzlich im Stich. Man verstummt …
Voiceover … voice over! Nichts geht mehr? Heiserkeit? Stimmversagen?
Foto: Rocky Sun; licensed under a Creative Commons license
Ein Horrorszenarium nicht nur für Sängerinnen und Sänger. Die Stimme als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit – mal aus dem Off als textliche Erklärung bewegter Bilder, dem sogenannten Voiceover, mal als stimmliche Störung aufgrund von Stimmbanderkrankungen oder Atmungsbeschwerden. Dann heißt es tatsächlich: Voice over! Nichts geht mehr. Damit das nicht zu oft vorkommt, gibt es einen eigenen Forschungs- und Behandlungsbereich an ausgewählten Kliniken in Deutschland, die sich mit dem Phänomen der menschlichen Stimme und dem damit in direktem Zusammenhang stehenden menschlichen Gehör intensiv auseinandersetzen.
Es steht außer Frage: Wir leben in einer Zeit der massiven Einschränkungen bei höchst geringem Maß an Einsicht. Regelungen, Verbote, Reisewarnungen, Maskenpflicht … vieles nehmen wir einfach hin, einiges wird beispielsweise durch die Reduzierung des Mund-Nasen-Schutzes auf den Bereich des Kinns geflissentlich und wissentlich umgangen, anderes ist aufgrund überfüllter Züge, Strände und Restaurants gar nicht umsetzbar. Während für viele der Eindruck entsteht, die eigene Meinung würde unterdrückt, die eigene Stimme im Keim erstickt, stellt sich für andere die Frage, was mache ich mit meiner Stimme in eben dieser Zwangspause? Einige singen einfach weiter – daheim, vor der Webcam, für ein nicht existentes Publikum oder ein eher marginales. Andere jammern lauthals und unentwegt in jeder sich auch nur in Ansätzen bietenden Situation. Sie küren sich auf diese Weise selbst zur Stimme der eigenen Zunft und damit zu stimmgewaltigen Meinungsvertretern dazu nie befragter Kolleginnen und Kollegen. Nur wenige setzen sich im wahrsten Sinne des Wortes für eine gesunde Stimme ein und nutzen die vorherrschenden Bedingungen höchst sinnvoll für sich und andere. Einer von ihnen ist Philipp Mathmann – Arzt und Countertenor im Sopranfach.
Philipp Mathmann ist studierter und praktizierender Arzt. Mit der Musik aufgewachsen – er begann das Klavierspiel bereits mit zwei Jahren – entdeckte er neben der Liebe zur Medizin auch die Besonderheit seiner eigenen Stimme. Er ist nicht nur Countertenor, sondern auch noch ein sehr hoher Sopran, den man unter anderem auf seinem gerade erst im Oktober erschienen Album „Tormenti d’amore“ (querstand) eindringlich bewundern kann. Fast schon passend zu seinem außergewöhnlichen Stimmfach ist Mathmann auch kein einfacher Allgemeinarzt, sondern Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie.
Phoniatrie ist die ärztliche Stimmheilkunde, die Pädaudiologie ist die Lehre um die kindlichen Hörstörungen. Dabei geht es dann durchaus nicht nur darum, besser oder schlechter hören zu können, erläutert Mathmann: „Eine Hörstörung hat Einfluss auf viele Bereiche wie Sprachstörungen, allgemeine kognitive Entwicklungen etc. Da muss man dann unterscheiden, ob ein Kind nur schlecht hören kann oder ob eine geistige Behinderung vorliegt. Wir haben eigene Psychologen im Team, Logopäden, Heilpädagogen, Audiometristen und sogar Physiker, wenn es beispielsweise um die Rekonstruktion und Wiederherstellung eines Innenohrs durch Implantate und die anschließende Hörrehabilitation geht.“
In der Phoniatrie – da ist man als Sänger dann noch näher dran – geht es sowohl um die Stimme als auch um die Atmung und das Schlucken, also um alles, wofür der Kehlkopf zuständig ist: „Wir haben Schlaganfall-Patienten mit Schluckstörungen, wir haben alles Mögliche an Stimmstörungen – und da vor allem im professionellen Stimmberufler-Bereich.“ Und das sind bei weitem nicht nur Sänger*innen, sondern auch Lehrer, Schauspieler, Journalisten, Priester, eben alle, die beruflich auf ihre Stimme angewiesen sind.
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Während an vielen Kliniken dieser Bereich eingespart wurde und in das Fachgebiet der HNO integriert wurde, gibt es in Ulm, Düsseldorf, Berlin und Münster letzte freistehende Kliniken für Phoniatrie und Pädaudiologie in Deutschland. Nach Münster, wo Mathmann auch studiert hat, ist er nun ans Klinikum zurückgekehrt, um anderen unter anderem bei Stimmproblemen zu helfen. Und das trotz einer überaus erfolgreichen Gesangskarriere zuletzt. Aber die Covid-19 Pandemie macht es möglich.
Nach dem Studium verschlug es ihn dann zunächst nach Köln an die Uniklinik, zwei Jahre später an die Berliner Charité. „Durch meine immer stärker ausgeprägtere Konzerttätigkeit wurde die Wiener Agentur Parnassus auf mich aufmerksam, die mich dann auch aufnahm und entsprechend breiter aufstellte im internationalen Konzertbetrieb. Vor zwei Jahren habe ich dann aufgehört als Arzt zu arbeiten, weil ich so viele Engagements hatte, dass das Singen zum Hauptberuf wurde.“ Dann kam die Corona-Welle – und der Kalender war schlagartig leer. „Es gab noch ein Paar Kleinigkeiten, aber die großen Produktionen am Aalto Theater Essen oder an der Semperoper Dresden wurden natürlich gestrichen.“
Voice Mechanics ist eine Reihe von kinetischen Skulpturen, die Stimme machen, mit mechanischen Strukturen, nicht mit Elektronik …
Für Mathmann war dann klar, dass man die vermeintlich verlorene Zeit mit dem sinnvoll füllen sollte, was man ohnehin vorher schon gemacht hat, zumal Ärzte in der Corona-Zeit gesucht wurden: „Da habe ich dann erst an der Charité angefragt, wo so spontan natürlich keine Stelle frei war. Aber in Münster hörte man, dass ich verfügbar wäre – und so hatte ich innerhalb von zehn Tagen wieder eine feste Stelle, weil es bei denen eine Lücke gab, die es zu füllen galt.“ Der Beratungsbedarf dürfte gerade im Bereich der Stimmpflege in Zeiten von Corona insofern besonders hoch sein, dass vielen eine Zwangspause auferlegt wurde, aus der man nun erst einmal wieder herauskommen muss. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ich daheim in den eigenen vier Wänden singe oder eben ein Haus wie die Semperoper mit meiner Stimme füllen muss. „Wir haben einige Sänger, die jetzt zu uns kommen, um sich Rat zu holen, weil sie jetzt nach der längeren Pause doch etwas unsicher sind angesichts der Tatsache, dass sie ihre Stimme so lange nicht öffentlich genutzt haben. Die kommen dann, um ihre Stimmbänder checken zu lassen, ob da wirklich alles in Ordnung ist und die Stimme uneingeschränkt einsatzbereit ist.“ Die Angst ist groß, die eigene Stimme durch Überanstrengung bei jetzt dann wieder benötigter voller Kraft zu beschädigen. „In Münster haben wir ohnehin eine musikermedizinische Sprechstunde, die jetzt weiter ausgebaut werden und interdisziplinär aufgestellt werden soll, um auch mit Neurologen und Psychosomatikern zum Beispiel enger zusammen zu arbeiten.“
Dieses Projekt begann ursprünglich, indem es sich auf interessante Aspekte der „Funktionalität“ und „Magie“ der „Stimme“ konzentrierte.
Mathmann selbst sieht in der Pause aber auch eine Chance für die Stimme, da die Erholung von häufig doch eher zu vielen angenommenen Engagements in den meisten Fällen eher guttut und die Regeneration fördert.
Man brauche dann nach einer längeren Pause doch etwas Anlaufzeit, um wieder reinzukommen. Und häufig habe man diese Zeit im laufenden Betrieb eben nicht. „Mir persönlich hat es auch ganz gutgetan, mal einen Monat Pause zu machen. Danach habe ich aber natürlich wieder begonnen zu üben. Und da habe ich dann gemerkt, dass die Stimme tatsächlich viel frischer und ausgeruhter war“, gesteht Mathmann.
Dessen ungeachtet singt man aber als Arzt offenbar nicht anders: „Singen ist etwas hoch Intuitives. Man muss die richtigen Voraussetzungen schaffen, und da kann es helfen, Arzt zu sein. Wenn man dann aber auf der Bühne steht, dann geht das alles so schnell und da sind die Abläufe dann so schnell, dass man rein intuitiv handelt.“ Da wisse man dann im Nachhinein, was man falsch gemacht habe, wenn man es merkt. „Aber man kann es in dem Moment eben nicht direkt verhindern.“
Auf diese Weise entwickelte Maschinen werden als Sänger auf der Bühne präsentiert,
Das Phänomen des musikalischen Arztes ist kein seltenes, wird aber nur in den wenigsten Fällen auf beiden Seiten hoch professionell bespielt wie bei Philipp Mathmann. Sir Jeffrey Tate studierte zunächst Medizin, bevor er Dirigent wurde – aus Dankbarkeit an seine Ärzte, die ihm das Leben retteten. Die Intendantin der Oper Köln, Birgit Meyer, ist ebenfalls studierte Ärztin, die zunächst am Münchner Klinikum rechts der Isar praktizierte, um dann nebenbei noch Theaterwissenschaften mit Schwerpunkt Musiktheater zu studieren. Es stellt sich die Frage, ob Ärzte die besseren Musiker sind – und somit mehr Musiker Ärzte sein sollten. „Ich weiß nicht, ob letzteres zielführend wäre, aber ich weiß, dass viele Ärzte Musiker sind. Es ist schon so, dass Ärzte einen besonders ausgeprägten Hang vor allem zur klassischen Musik haben und selbst ein Instrument spielen und sogar besonders gut beherrschen.“ Das spräche dafür, dass sich die musikalische Ausbildung und das Musizieren positiv auf die kognitive Entwicklung auswirke. „Es gibt da ja auch viele Studien dazu, dass Musik die Kognition fördert. Und daher glaube ich schon, dass die Musik und die Medizin als hoch kognitiver Beruf eine direkte Verbindung zueinander haben.“
das Know-how auch auf industrielle Massen- produkte wie das „Otamatone“ angewendet.
Bei aller Liebe zur Medizin behält also dann doch die Musik die alles beherrschende Vormachtstellung in unserem Leben. Dementsprechend liefert das 1993 gegründete japanische Künstlerkollektiv Maywa Denki die ultimative, nicht ganz ernst gemeinte Antwort auf die Diagnose „Voice over – nichts geht mehr!“ in Form einer Klangmaschine mit künstlichen Stimmbändern. Als Teil der Voice Mechanics Serie kreiert die Stimmmaschine Geräusche auf der Basis von computergesteuerten Gummistimmbändern, die immerhin Tonhöhen erzeugen, aber dann doch weit entfernt von einer artikulierten Sprache liegen. Gemeinsam mit zahlreichen weiteren Nonsense Maschinen und Instrumenten wie demjenigen, das der Paarung eines Xylophons mit einem Hubschraubers ähnelt, oder dem Gitarrenroboter, erzeugt die Künstlergruppe überraschender Weise überaus ausgefallene und mitreißende Musik, die 1997 sogar für ein Album für Sony aufgenommen wurde. Es lebe die Musik – und mit ihr die prägende Wirkung auf medizinische Professionalisierung!
Video by Tomislav Jakupec from Pixabay
Monooper
Musik I Francis Poulenc
Libretto I Jean Cocteau
Literarische Vorlage I Gleichnamiges Theaterstück von Jean Cocteau
Uraufführung || 6. Februar 1959 Opéra Comique Paris
Spieldauer || ca. 40 Minuten
Ort und Zeit || Im Hier und Jetzt
Fashion Fotos: MBFW January 2020, Irene Luft
Im Schlafzimmer. Eine Frau (Elle) liegt unbeweglich auf dem Boden. Plötzlich rührt sie sich, wechselt langsam ihre Position – bevor sie sich schließlich aufrichtet. Als sie sich dazu entschließt, den Raum zu verlassen, klingelt das Telefon. Nach zwei falschen Verbindungen ist ihr Ex-Mann am Apparat. Sie lügt ihn an und behauptet, in der Nacht zuvor mit ihrer Freundin Marthe ausgegangen zu sein. Das Paar spricht über ihre frühere Beziehung, Elle gibt sich selbst die alleinige Schuld für ihre gemeinsamen Probleme. Während des gesamten Gesprächs kommt es zu zahlreichen Verbindungsproblemen. Schließlich bricht die Verbindung ganz ab. Als Elle das Haustelefon ihres Liebhabers anruft, stellt sie fest, dass er nicht daheim ist. Sie vermutet, dass er sie von einem Restaurant anruft. Er ruft sie zurück, und Elle enthüllt, dass sie während des Gesprächs gelogen habe. Anstatt mit Marthe in der Nacht zuvor auszugehen, habe sie bei einem Selbstmordversuch zwölf Schlaftabletten genommen. Daraufhin rief Marthe sie an, die mit einem Arzt kam, um sie zu retten. Elle hört plötzlich Musik im Hintergrund und mutmaßt, dass ihr Geliebter bei seiner neuen Freundin zu Hause ist. Sie wiederholt ihren Verdacht mehrmals, er gibt aber nie seinen wahren Aufenthaltsort zu erkennen. Die Verbindung bricht erneut ab, Elle gerät in Panik. Ihr Geliebter ruft sie noch einmal zurück, und sie teilt ihm mit, dass sie das Telefonkabel jetzt um ihren Hals gewickelt habe. Sie sagt ihm immer wieder, dass sie ihn liebt, sinkt in ihr Bett und lässt den Hörer fallen, wobei sie sich möglicherweise mit der Schnur erdrosselt.
Geschenke
LAST CALL
Ein Ende ist nicht abzusehen – und trotzdem fragt man sich schon: Was bleibt? Eine Befürchtung überschattet dabei alle noch so grausamen Szenarien. Werden wir aufgrund der vorgeschriebenen Masken alle Segelohren bekommen? Führt die permanente Zugspannung auf unsere Ohrmuscheln von hinten nach vorne durch die Halterungsgummis der unterschiedlichen Mund-Nasen-Schutze zu einer dauerhaften Veränderung der eigenen Anatomie? Werden wir jetzt alle zu Dumbos? Die Natur ist da knallhart. Darwin und seine Theorie von denjenigen, die nur überleben, wenn sie sich der eigenen Umwelt und ihren Veränderungen entsprechend anpassen, sprechen da für sich. Es gibt ja auch tatsächlich Theorien, die besagen, dass der Daumen von heutigen Jugendlichen länger ist als noch vor 20 Jahren, weil das mit diesem dauerhaft zu bearbeitende Display auf unseren Smartphones und somit die Dauer der täglichen Überstreckung des Daumens immer größer wird.
Bleibt tatsächlich zu befürchten, dass durch eine wie auch immer geartete Mutation ein Mensch mit der Fähigkeit auf die Welt kommt, unter Wasser und ohne jegliche Schleimhautorgane zu atmen. Das Todesurteil für jede durch Tröpfchen-Infektion übertragene Virusinfektion und Pandemie? Wir werden sehen … Der einzige Nachteil bei dieser Anpassung ist tatsächlich, dass wir dann auch nicht mehr in den Hochgenuss klassischer Musik kommen, wie wir sie heute noch kennen. Denn deren Übertragungsgrundlage durch Schallwellen in der Luft ist im Wasser nicht mehr gegeben. Da helfen uns dann auch die zu großen Schalltrichtern mutierten Ohren nicht, mit denen wir theoretisch viel, viel besser hören könnten. Egal … Daumen hoch!
OPER‘n‘OUT_V
Alexander Busche
ist Geschäftsführer des Göttinger Symphonieorchesters und ein Mensch, der keinen Stillstand kennt – oder ihn nur ungern zulässt. So lag es auf der Hand, dass er in der Abgeschiedenheit der Tiroler Festspiele Erl als deren Theatermanager an den freien Abenden daheim die „marfa“ als eigenes Opernmagazin erfand, entwickelte und letztendlich sogar zweimal pro Jahr als unabhängige Zeitschrift in den Handel brachte. Genau so sehr, wie er Stillstand nicht mag, ist er größter Fan von sinnvollen Symbiosen und effizienten Partnerschaften. Und so ist die „marfa“ nun schon seit 2019 fester Bestandteil des „orpheus“.