Wenn die Staatskapelle im November traditionell auf Reisen geht, wird die Berliner Staatsoper zum Treffpunkt von Größen aus der Alte-Musik-Szene. Denn dann richtet sie die Barocktage aus, die 2021 im Zeichen Frankreichs stehen. Zur Eröffnungspremiere ist das Ensemble Le Concert d’Astrée aus Lille mit seiner Leiterin Emmanuelle Haïm angereist. Im Gepäck hat es die Oper „Idoménée“ von André Campra, einem hierzulande wenig Bekanntem. Doch im Paris des frühen 18. Jahrhunderts gehörte der 1660 in der Provence geborene Komponist zu den bedeutendsten Vertretern des Opéra-ballets und seine komödiantischen „Les fêtes vénitiennes“ waren 1710 der saisonale Publikumsrenner. Der kurz danach entstandene „Idoménée“ gehört zur Gattung der Tragédie en musique. Die Handlung kreist um den Kreterkönig Idoménée, der bei der Rückkehr aus dem Krieg Schiffsbruch erleidet, vom Meeresgott Neptun gerettet wird und ihm dafür den ersten Menschen, den er an Land trifft, opfern muss. Als dies sein Sohn Idamante ist, bittet er vergebens um Mitleid. Wahnsinnig geworden, tötet er den jungen Mann. Zurück bleiben zwei seelisch verletzte Frauen: die gefangene Trojanerin Ilione und ihre Rivalin Électre, beide in Idamante verliebt.

Ihre Traumata, emotionalen Verstörungen und Beziehungskonflikte will Àlex Ollé von der Truppe La Fura dels Baus in seiner zeitlosen Inszenierung sichtbar zu machen. Die beweglichen Plexiglaswände, mit denen Alfons Flores die Bühne ausgestattet hat, werden zu einem Spiegelbild der Gefühle. Videos, die Seestürme mit Ertrinkenden, düstere Schlossräume oder Feuersbrünste zeigen, visualisieren Träume und Erinnerungen der Figuren. Die Götter sind ihre Projektionen und deshalb identisch gekleidet. Idoménée findet seinen Gegenpart in Neptun, Électre in Venus und der personifizierten Eifersucht und an Ilione zerren Doppelgängerinnen mit Stricken als Symbol für ihre Zerrissenheit. Denn auch die Aktionen der energetischen Tanz-Compagnie Dantaz und des Chores sind Ausdruck vom Innenleben der Figuren.

Es sind teils starke Bilder, doch die wirkliche Kraft geht von der Musik aus. Affekte stimmlich ausloten, das kann die wunderbare Solistenschar: der noble Idoménée von Tassis Christoyannis, der feinstimmige Samuel Boden als Idamante und im Wechsel von Expressivität und Wohlklang Chiara Skerath als Ilione und Hélène Carpentier als Électre. Emmanuelle Haïm kennt das Stück genau und weiß Campras Stilmix aus französischen und italienischen Elementen zu verlebendigen. Mit ihren Händen modelliert sie ein Maximum an klanglichen Details und Farben, gibt dem Ensemble Impulse und atmet mit ihm.

Das musikalische Glück setzt sich drei Tage später beim Galakonzert zum 20-jährigen Bestehen von Le Concert d’Astrée fort. Auch Simon Rattle gibt sich die Ehre, doch es ist der Abend der Gründerin Emmanuelle Haïm, deren Vitalität auf ihre famosen Instrumentalisten und das erstrangige Gesangsdefilee überspringt. Umwerfend, in welche Basstiefen Andrea Mastroni dringt, mit welchem Furor Lea Desandre und Carlo Vistoli Koloraturen-Feuerwerke abbrennen oder Michael Spyres den stimmlichen Umfang seines Baritenors ausstellt. Natalie Dessay feiert ein exquisites Comeback und Sandrine Piau läutet das Finale mit einer berückend zelebrierten Händel-Arie ein. Die Zugabe: „Hallelujah“ – und danach frenetischer Beifall.

Karin Coper

„Idoménée“ (1712/1731) // Tragédie en musique von André Campra

Infos und Termine auf der Website des Theaters