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Benjamin Britten

Zersplittert

Hannover / Staatsoper Hannover (April 2021)
Brittens „The Turn of the Screw“ in dichter Filmkunst

Hannover / Staatsoper Hannover (April 2021)
Brittens „The Turn of the Screw“ in dichter Filmkunst

Kann man die Spaltung einer Persönlichkeit, also eine schizophrene Symptomatik zum Thema eines Bühnenstückes machen? Benjamin Britten ist das mit seiner faszinierenden Oper „The Turn of the Screw“ gelungen. Seit der Uraufführung 1954 in Venedig fordert dieses finstere Psychodrama die Opernhäuser der Welt heraus. Jetzt hat sich die Staatsoper Hannover dieser Aufgabe gestellt. Und auf breiter Front gewonnen. Die aktuellen Corona-Bedingungen forderten eine Streaming-Version. Klug die Entscheidung, mit den erfahrenen Video-Machern der Firmen BFMI und OTB zusammen zu arbeiten. Das garantiert eine überzeugende, fernsehgerechte Umsetzung der Opernproduktion. Und die geht unter die Haut.

Dafür sind zuerst die gesanglichen und darstellerischen Meisterleistungen des Gesangsensembles verantwortlich. Allen voran Sarah Brady in der Hauptrolle der immer mehr von psychotischen Obsessionen befallenen Gouvernante. Stimme und Schauspiel lässt sie von wunderbar durchsichtigem Piano bis hin zur großen dramatischen Geste zur Einheit verschmelzen. Erschreckend glaubwürdig gestaltet sie die Entwicklung der anfänglich zugewandt agierenden Erzieherin zur immer mehr vom Wahnsinn heimgesuchten Psychopatin, inklusive sexueller Obsession. Diese Gouvernante möchte man am Ende direkt bei der psychiatrischen Notaufnahme abliefern. Monika Walerowicz als Hausdame und Barno Ismatullaeva als herumgeisternde Miss Jessel sind ebenfalls herrlich singende Darstellerinnen auf Augenhöhe. Weronika Rabek wirkt in der Rolle des Mädchens Flora zwar zu erwachsen. Gleichwohl ist es für die junge Sängerin eine gut absolvierte Bewährungsprobe. Zu den stimmlichen Highlights werden die geisterhaften Erscheinungen des ehemaligen Hausdieners Quint, meistens aus dem Off gesungen. Dafür engagierte Hannover den hinreißend singenden südafrikanischen Tenor Sunnyboy Dladla. Schwingen in seiner Darstellung nicht Erinnerungen an Brittens Lebensgefährten Peter Pears mit, für dessen einzigartige Stimme Britten die Rolle des Mr. Quint einst entworfen hatte? Beklemmend überzeugend auch, wie Jakob Geppert den von der Gouvernante immer mehr in die Enge getriebenen Knaben Miles gestaltet.

Die ganze Inszenierung spiegelt wider, dass Britten seine 16 Szenenfolgen ursprünglich für eine filmische Umsetzung gedacht hatte. Das passt natürlich bestens zu den Anforderungen einer Streaming-Produktion. Das Kreativteam mit Immo Karaman (Regie), Thilo Ullrich (Bühne), Fabian Posca (Kostüme und Bewegungscoaching), Susanne Reinhardt (Licht) und Philipp Contag-Lada (Video) stellt das Geschehen in ein komplett schwarz-weiß gehaltenes Ambiente. Das minimalistisch gehaltene Bühnenbild verändert sich ständig szenengerecht per Videoprojektionen. Die so entstehenden, an Bauhaus-Ästhetik erinnernden Formen geben Rahmen und Hintergrund für die dicht konzentrierte Personenführung.

Die kleine Besetzung des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover schafft unter der sensibel mit der Bühne kommunizierenden Leitung seines Chefs Stephan Zilias mit durchsichtigem Klang kammermusikalische Höhepunkte, kann dabei aber auch zu rauschend-leidenschaftlichem Großklang hochfahren. Am Schluss anhaltenden Beifall und viele Vorhänge. Studiofake oder doch etwas Publikum im Saal? Egal. Verdient war das auf jeden Fall.

Claus-Ulrich Heinke

„The Turn of the Screw“ (1954) // Oper von Benjamin Britten

Die Inszenierung ist als Stream wieder am 15. Mai 2021 um 19.30 Uhr über die Website des Theaters verfügbar.

Kompendium der neu(er)en Musik

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“

Der Österreicher Oswald Panagl, Jahrgang 1939, großer Opernfreund mit abgeschlossener Gesangsausbildung und Linguist, ist seit Jahrzehnten eine sichere Adresse für ultimative Kenntnis und profunde Einsichten zum Thema Musiktheater. Als emeritierter Professor für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg ist er auch Essayist und Präsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft. Er blickt auf einen umfangreichen Schatz von Monografien und Essays zurück.

Diejenigen, die sich mit der jüngeren Geschichte des Musiktheaters befassen, hat er zu einem hochinteressanten Kompendium zusammengestellt und in ebenso relevante wie aufhellende musikgeschichtliche Zusammenhänge gebracht. Er wollte sich mit einer „Epoche der neu(er)en Musik mit ihren Strömungen, nationalen Varietäten und wichtigen Repräsentanten der einzelnen Sektoren und Stilrichtungen“ befassen und geht dabei von einer „langen“ ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, die von einem großzügig definierten Fin de Siècle bis zur Avantgarde der frühen 1950er Jahre reicht.

Zunächst geht Panagl auf die Definitionsproblematik dessen ein, was man unter „Moderne“ verstehen kann. Von einfachen Termini und Begriffen mit neuer Referenz und „moderner“ Konnotation stößt er schließlich auf die Erkenntnis, dass letzte Klarheit unmöglich ist. So möge man sich mit einem bekannten Spruch von Jürgen Habermas begnügen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt.“

Zum Thema „Traum in der Oper“ stellt er mit Werken von Debussy, Korngold und Martinů ein kunstkritisches Szenario der Jahrhundertwende vor, das sich den Themen Symbolismus, Dekadenz, Nervenkunst, Traum und Wirklichkeit widmet – eine für jene Zeit bedeutsame Tendenz im „modernen“ Musiktheater. Auf der Suche nach einer griffigen Formel für diese disparaten Momente kommt er auf einen Dramentitel aus dem 19. Jahrhundert: „Der Traum ein Leben“. Genau mit diesem Titel hat Walter Braunfels 1937 eine Oper komponiert.

Vor dem zentralen Block mit Werken deutsch(sprachig)er Tondichter beginnt Panagl mit Giacomo Puccini wegen des innovativen Moments seiner Opern. „La bohème“ ist mittlerweile vom „Leitfossil des Nachmittagsabonnements“ zu einer Herausforderung für Regisseure geworden. „Tosca“ liegt im Spannungsfeld musikdramatischer Gattungen, und in „Turandot“ sieht er ein neues Verhältnis der zwei Säulen der „conditio humana“: Der emotionale Weg von erlittenem Tod führt zu neu erwachter Liebe! Für den ohnehin von Natur aus Getriebenen und Avantgardisten Ferruccio Busoni war das realistische Theater ein ästhetisches Ärgernis. Er gab in seinem „Doktor Faust“ entsprechende Antworten.

Natürlich ist bei Oswald Panagl der Richard-Strauss-Teil der größte. Das Geheimnis der Liebe und des Todes in „Salome“ ist ein weiteres Beispiel der „Décadence“ um die Jahrhundertwende. Die „Modernität“ der Musiksprache der „Elektra“ zeichnet sich durch „psychische Polyphonie“ aus. In „Ariadne auf Naxos“ erscheinen die so gegensätzlichen Ariadne und Zerbinetta als in Wahrheit unterschiedliche Facetten des weiblichen Wesens („Zerbiadne“ bzw. „Arietta“), damit in eine neue Wahrnehmungsrichtung weisend. Diese ungewöhnliche Oper ergibt auch quasi ein neues Genre! Bei der „Ägyptischen Helena“ fragt er, ob es sich um ein unterschätztes Meisterwerk oder ein missratenes Sorgenkind handelt. Im „Rosenkavalier“ stehen Beziehungsmuster und Sprachspiele im Gesamtkunstwerk im Vordergrund. Zu „Intermezzo“, bei dem die Liebe zur Autobiographie überwiegt, stellt Panagl die Frage, ob das Werk ein Nachfahre bürgerlicher Musikkultur oder Vorhut der Avantgarde sei. Bei „Arabella“ steht im Raum, ob es ein „Sklerosenkavalier“ oder szenische Realutopie ist …

In Hans Pfitzner sieht der Autor einen spätromantischen Grübler, einen Unzeitgemäßen an der Epochenschwelle, was auch in der Rolle des Palestrina zum Ausdruck kommt. Auch bei Pfitzner ist der Traum ein zentrales Element seines Œuvres. In einem großen „erratischen Block“ aus Mähren zu Leoš Janáček sieht der Autor besonders auf „Menschliches, Allzumenschliches“ und die großen Frauenrollen, die das Schaffen dieses Komponisten kennzeichnen, sowie auf den für ihn so typischen Sprachmelos.

Es folgt Interessantes zum modernen Musiktheater aus „Ost-Europa“ und zum literarischen Symbolismus sowie der impressionistischen Tonsprache von Claude Debussy. Kurt Weill und Benjamin Britten folgen mit einer Analyse zum „Lied der Straße und den Farben des Meeres“ als imaginäre Orte und zeitkritische Chiffre.

Das Buch ist ein kaum enden wollender Fundus an oft unbekannten und interessanten Fakten und Einsichten. Gleichzeitig ist es ein umfassendes Nachschlagewerk zu einer bis in die Praxis des heutigen Musiktheaters wirkenden Epoche.

Klaus Billand

INFOS ZUM BUCH

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“
422 Seiten, Hollitzer