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Buchbesprechung

„Im Anfang war der Klang“

Leopoldo Siano: „Musica Cosmogonica. Von der Barockzeit bis heute“

Leopoldo Siano: „Musica Cosmogonica. Von der Barockzeit bis heute“

Ausgehend vom tönenden Schweigen, der Antwort auf die müßige Frage nach dem Anfang der Welt in Charles Ives’ visionärem Stück „The Unanswered Question“ und vom Schweigen des Buddha, wagt der italienische Musikphilo­soph Leopoldo Siano (*1982), der seit 2012 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln lehrt, die These „Im Anfang war der Klang“.

Der Klang spielt in zahlreichen Schöpfungsmythen unterschiedlicher Kulturen eine entscheidende Rolle. Dem Johannesevangelium zum Trotz, in dem es heißt „Im Anfang war das Wort“, haben sich seit jeher Dichter, Philo­sophen, Theologen, Wissenschaftler, Künstler aller Art, nicht zuletzt Musiker mit der Frage der Weltentstehung auseinandergesetzt, der „philosophischen Frage schlechthin“, wie der Autor zurecht schreibt: „Was ist die Welt? Und wie entstand sie? Und warum?“ Da der Verstand der Menschen da nicht weiter­hilft, haben philosophische und religiöse kosmogonische Mythen wie auch musikalische Schöpfungsmythen seit jeher Hochkonjunktur. Der Klang als „die erste wahrnehm­bare Manifestation des Unsichtbaren“ ist in vielen Kulturen Grundüberzeugung. Man mag das kosmischen Urklang nennen. Und denkt an Richard Wagners Es-Dur-Dreiklang im „Rheingold“, dem Vorabend seines „Rings des Nibelungen“, auch eine jener „Welterschaffungsmythen“, die Gegen­stand der Betrachtung sind. Jedenfalls sei die „Quelle, aus der die Welt ent­springt, … eine akustische“, so Leopoldo Siano nach Meinung vieler Autoren und Kulturen. „Das Wort als klingendes Ereignis wird als Ursprung aller Erscheinungen betrachtet.“ Der Klang sei „die erste Bewegung des Unbewegten, und das sei der Beginn der Schöpfung“. Die wichtigsten Philosophen werden als Kronzeugen bemüht.

Auf respekteinflößender philosophischer, literarischer, historischer und musi­kali­scher Grundlage widmet sich der Autor aus der Perspektive der Kom­ponisten der Frage: Wie klingt der Anfang der Welt? In zehn Kapiteln unter­nimmt das Buch eine „nicht-chronologische Reise durch die jüngere Musik­geschichte des Abendlandes“. Es ist eine Geschichte musikalischer Utopien als „Annäherung an das Unmögliche“, die Siano geschrieben hat.

Anhand von Werken, die zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert entstanden sind, wird gezeigt, mit welchen musikalischen Mitteln die verschiedensten Komponisten (von Jean-Féry Rebel bis zu Joseph Haydn, von Gustav Mahler zu Charles Ives, von Richard Wagner zu Karlheinz Stockhausen und John Cage) es unternommen haben, die Weltschöpfung zu evozieren und auf welche Klangarchetypen sie zurückgriffen, um den Anfang aller Dinge akustisch darzustellen. Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ mit seiner „kosmogonischen Geste“ am Beginn des Werks steht gewissermaßen Pate, ist wohl bekanntestes Paradebeispiel. Es wird – wie bei allen ausgewählten Musiken – mit profunder musikwissenschaftlicher Werkkenntnis und Präzision der Analyse genau beschrieben: „Eine allmähliche und majestätische Exposition von zehn Tönen der D-Dur-Tonleiter, die verschiedenartig harmonisiert werden, … die sich in Terzen auflösen, mit jedem neuen Ton an Dichte und Lautstärke anwachsen“, markieren den Aufstieg der Sonne aus dem Chaos, sie münde schließlich „in eine strahlende D-Dur-Kadenz“. So ist es.

Mit der gleichen Akribie widmet sich der Autor den Urgewässern, musikali­schen Visionen der Weltentstehung aus dem Geist des alten Indien, aber auch den Komponisten als Schöpfern des Kosmos in der Sinfonie (Gustav Mahler steht am Anfang der nicht mehr an ein strenges Formschema gebundenen modernen Sinfonie, die „alles Mögliche“ sein will, nämlich „die ganze Welt“). Es geht aber auch um den Mythos des Urknalls, um Naturer­wachen (mit Klang und Opfer) – bestes Beispiel Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ – bis hin zu Kosmogonien aus Afrika und Amerika. Die „Ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Friedrich Nietzsche) inspirierte den Autor zum vorletzten Kapitel „Weder Anfang noch Ende“. Das letzte „Im Anfang ist die Stille“ schlägt den Bogen zurück zum Anfang des Buches, der Kreis schließt sich. Präzise Werkanalysen, gewissenhafte Anmerkungen, viele Grafiken und Notenbeispiele sowie ein Literaturverzeichnis bereichern das interessante Buch, das an seine Leser zwar einige Bildungsansprüche stellt, dessen Lektüre sich aber lohnt. Es ist ein faszinierendes Panorama musikalischer Welterschaffungsmythen mit philosophischem Tiefgang.

Dieter David Scholz

INFOS ZUM BUCH

Leopoldo Siano: „Musica Cosmogonica. Von der Barockzeit bis heute“
430 Seiten, Königshausen & Neumann



Kompendium der neu(er)en Musik

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“

Der Österreicher Oswald Panagl, Jahrgang 1939, großer Opernfreund mit abgeschlossener Gesangsausbildung und Linguist, ist seit Jahrzehnten eine sichere Adresse für ultimative Kenntnis und profunde Einsichten zum Thema Musiktheater. Als emeritierter Professor für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg ist er auch Essayist und Präsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft. Er blickt auf einen umfangreichen Schatz von Monografien und Essays zurück.

Diejenigen, die sich mit der jüngeren Geschichte des Musiktheaters befassen, hat er zu einem hochinteressanten Kompendium zusammengestellt und in ebenso relevante wie aufhellende musikgeschichtliche Zusammenhänge gebracht. Er wollte sich mit einer „Epoche der neu(er)en Musik mit ihren Strömungen, nationalen Varietäten und wichtigen Repräsentanten der einzelnen Sektoren und Stilrichtungen“ befassen und geht dabei von einer „langen“ ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, die von einem großzügig definierten Fin de Siècle bis zur Avantgarde der frühen 1950er Jahre reicht.

Zunächst geht Panagl auf die Definitionsproblematik dessen ein, was man unter „Moderne“ verstehen kann. Von einfachen Termini und Begriffen mit neuer Referenz und „moderner“ Konnotation stößt er schließlich auf die Erkenntnis, dass letzte Klarheit unmöglich ist. So möge man sich mit einem bekannten Spruch von Jürgen Habermas begnügen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt.“

Zum Thema „Traum in der Oper“ stellt er mit Werken von Debussy, Korngold und Martinů ein kunstkritisches Szenario der Jahrhundertwende vor, das sich den Themen Symbolismus, Dekadenz, Nervenkunst, Traum und Wirklichkeit widmet – eine für jene Zeit bedeutsame Tendenz im „modernen“ Musiktheater. Auf der Suche nach einer griffigen Formel für diese disparaten Momente kommt er auf einen Dramentitel aus dem 19. Jahrhundert: „Der Traum ein Leben“. Genau mit diesem Titel hat Walter Braunfels 1937 eine Oper komponiert.

Vor dem zentralen Block mit Werken deutsch(sprachig)er Tondichter beginnt Panagl mit Giacomo Puccini wegen des innovativen Moments seiner Opern. „La bohème“ ist mittlerweile vom „Leitfossil des Nachmittagsabonnements“ zu einer Herausforderung für Regisseure geworden. „Tosca“ liegt im Spannungsfeld musikdramatischer Gattungen, und in „Turandot“ sieht er ein neues Verhältnis der zwei Säulen der „conditio humana“: Der emotionale Weg von erlittenem Tod führt zu neu erwachter Liebe! Für den ohnehin von Natur aus Getriebenen und Avantgardisten Ferruccio Busoni war das realistische Theater ein ästhetisches Ärgernis. Er gab in seinem „Doktor Faust“ entsprechende Antworten.

Natürlich ist bei Oswald Panagl der Richard-Strauss-Teil der größte. Das Geheimnis der Liebe und des Todes in „Salome“ ist ein weiteres Beispiel der „Décadence“ um die Jahrhundertwende. Die „Modernität“ der Musiksprache der „Elektra“ zeichnet sich durch „psychische Polyphonie“ aus. In „Ariadne auf Naxos“ erscheinen die so gegensätzlichen Ariadne und Zerbinetta als in Wahrheit unterschiedliche Facetten des weiblichen Wesens („Zerbiadne“ bzw. „Arietta“), damit in eine neue Wahrnehmungsrichtung weisend. Diese ungewöhnliche Oper ergibt auch quasi ein neues Genre! Bei der „Ägyptischen Helena“ fragt er, ob es sich um ein unterschätztes Meisterwerk oder ein missratenes Sorgenkind handelt. Im „Rosenkavalier“ stehen Beziehungsmuster und Sprachspiele im Gesamtkunstwerk im Vordergrund. Zu „Intermezzo“, bei dem die Liebe zur Autobiographie überwiegt, stellt Panagl die Frage, ob das Werk ein Nachfahre bürgerlicher Musikkultur oder Vorhut der Avantgarde sei. Bei „Arabella“ steht im Raum, ob es ein „Sklerosenkavalier“ oder szenische Realutopie ist …

In Hans Pfitzner sieht der Autor einen spätromantischen Grübler, einen Unzeitgemäßen an der Epochenschwelle, was auch in der Rolle des Palestrina zum Ausdruck kommt. Auch bei Pfitzner ist der Traum ein zentrales Element seines Œuvres. In einem großen „erratischen Block“ aus Mähren zu Leoš Janáček sieht der Autor besonders auf „Menschliches, Allzumenschliches“ und die großen Frauenrollen, die das Schaffen dieses Komponisten kennzeichnen, sowie auf den für ihn so typischen Sprachmelos.

Es folgt Interessantes zum modernen Musiktheater aus „Ost-Europa“ und zum literarischen Symbolismus sowie der impressionistischen Tonsprache von Claude Debussy. Kurt Weill und Benjamin Britten folgen mit einer Analyse zum „Lied der Straße und den Farben des Meeres“ als imaginäre Orte und zeitkritische Chiffre.

Das Buch ist ein kaum enden wollender Fundus an oft unbekannten und interessanten Fakten und Einsichten. Gleichzeitig ist es ein umfassendes Nachschlagewerk zu einer bis in die Praxis des heutigen Musiktheaters wirkenden Epoche.

Klaus Billand

INFOS ZUM BUCH

Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne. Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“
422 Seiten, Hollitzer