Krefeld / Theater Krefeld und Mönchengladbach (April 2021) Krisenflucht vor der Folie des barock-virtuellen Opernpasticcios „The Plague“
Der Mensch denkt, der Mensch lenkt: Gerne suhlen wir uns in diesem Ideal, betrachten uns als „Krone der Schöpfung“. Bis wieder einmal ein Zahnriemen im Getriebe der menschlichen Evolution verkeilt und unser Weltbild ins Wanken bringt. Unzweifelhaftes Paradebeispiel unserer Zeit: Corona. Was macht das mit uns, wenn eine Pandemie unsere Zukunftspläne unter krachendem Getöse einstürzen lässt, wo finden wir Antworten? Nicht zufällig hat die Seuchenliteratur gerade Hochkonjunktur: Albert Camus’ „Die Pest“, diverse Chronologien der Spanischen Grippe – oder auch Daniel Defoes fiktiver Dokumentarbericht „A Journal of the Plague Year“ von 1722. Letzteren hat Kobie van Rensburg jetzt am Theater Krefeld und Mönchengladbach zu einem „Opernpasticcio in virtueller Realität“ verarbeitet, gepaart mit Musik von Henry Purcell (und zwei weiterer englischer Barockkomponisten). Das Ergebnis ist ein überaus erfrischender Impuls abseits schließbedingter Verlegenheitslösungen.
„The Plague“ nimmt uns mit in ein Phantasie-England anno 1665/66. Damals forderte die „Große Pest von London“ geschätzte 100.000 Todesopfer, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Diese katastrophale Epidemie transferiert van Rensburg Corona-bedingt in den digitalen Raum. Sämtliche Aufnahmen seines Opernfilms wurden im Blue-Screen-Verfahren gedreht und mittels VR-Animation in minutiöser Kleinarbeit montiert. Konzeption, Ausstattung, Gesamtregie, Kamera, Schnitt, Postproduktion – Arbeitsschritte, die allesamt vom Südafrikaner verantwortet wurden. Das Ergebnis: eine artifizielle und bis zu einem gewissen Grad doch auch realistische Ästhetik am Reibungspunkt von Statik und Dynamik, gehalten in postmoderner Schwarz-Weiß-Optik. Vor folienartigen Kulissen nimmt ein neunköpfiges Ensemble in historischen Spätrenaissance-Kostümen wechselnde Rollen im „Spiel des Lebens“ ein. Im Verlauf der knapp siebzigminütigen Produktion breites sich ein sattes Panorama existenzieller Reaktionen auf eine verheerende Seuche aus: Wir begegnen sterbenden, trauernden, fliehenden und leugnenden Menschen. Wir werden Zeuge von Panik und Feierwut, Gottesfurcht und Scharlatanerie, Mitgefühl und Egoismus, erwachender Liebe und Abschied auf ewig. Dass im (auch filmischen) Spiel mit den Perspektiven immer wieder assoziative Brücken zur Gegenwart aufscheinen, van Rensburg aber nicht der Versuchung erliegt, diese in platten Bildern zu servieren, ist ein großer Verdienst der Produktion. Coronale Bezüge sind so überlegt und zurückhaltend platziert, dass sie nicht belehrend aufstoßen (darunter eine charmante kleine Klopapier-Choreo).
So reizvoll die Bespielung barocker Musik mit Bildern aus dem virtuellen Baukasten auch ist: Ohne ein tragfähiges Ensemble bliebe nicht viel mehr als eine schöne Idee auf dem Papier. Doch auch hier agiert das Haus auf hohem Niveau. Die Meisterschaft der barocken Emotionsskala gebührt dabei klar den Damen: Wie Maya Blausteins Selbstgeißelung zu einem nuancierten Affekt des Wahnsinns gerät, wie Susanne Seefing feine Zynik aufblitzen lässt und Chelsea Kolic ein herzzerreißendes Lamento anstimmt, ist große Opernkunst für den kleinen Bildschirm. Alte Musik in emotionaler Reinkultur, die von einem Instrumentalensemble unter Yorgos Ziavras zwischen pastoraler Idylle, koketter Hybris und trostloser Wehklage rhythmisch pointiert illustriert wird.
Florian Maier
„The Plague“ („Die Seuche“) // Opernpasticcio in virtueller Realität von Kobie van Rensburg, nach Motiven von Daniel Defoes „A Journal of the Plague Year“ („Die Pest zu London“) (1722) und mit Musik von Henry Purcell, Pelham Humfrey und Thomas Ravenscroft