Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021) Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben
Luigi Rossi wiederzuentdecken, ist ja gerade der Trendsport in der Klassikszene. Erst kürzlich hat Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und in ziemlich prominenter Besetzung zahlreiche Rossi-Arien und -Duette ersteingespielt. Während sie sich noch penibel in historischer Aufführungspraxis versenkte, setzt die Opéra de Dijon lieber auf absolute Modernisierung. Die Oper „Il palazzo incantato“, 1642 im Barberini-Auftrag und in außergewöhnlich großer Besetzung komponiert, erhält nun die wohl größte Bühne derzeit: Die Plattform OperaVision streamt die publikumslose Aufführung für zwei Monate. Die Partitur soll dafür radikal reduziert worden sein (Leonardo García Alarcón), die Szene wiederum maximal erweitert (Fabrice Murgia), sei es durch moderne Charaktere, Kostüme, die aus den Läden von heute geklaubt sein könnten (Clara Peluffo Valentini), und natürlich: viel Hightech-Videoprojektion.
Das Schloss des Magiers Atlante hat die Kraft, allen seinen Besuchern den Kopf zu verdrehen, und er nutzt das, um diese Menschen seiner Macht zu unterwerfen. So simpel, so gut. Aber die Handlung mit ihren 33 Charakteren, die wiederum Kostüme wechseln, dann aber doch zeitweise von den gleichen Sängerinnen und Sängern verkörpert werden und in zahlreichen Räumen sowie Welten und szenischen Randepisoden auftreten, ist derartig schwer zu verstehen, dass die Rezensentin schlussendlich resümiert: Es geht gar nicht um die Handlung. Es muss um die Emotionen gehen. Und die transportiert diese Inszenierung wiederum absolut nachvollziehbar. Unbändige Liebe, absoluter Wahnsinn, tiefste Verzweiflung und düstere Depression werden von Videokameras eingefangen, die auf der unteren Bühnenhälfte herumgetragen werden und Close-ups auf die Leinwand darüber übertragen (was ziemlich genauso aussieht wie bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth). Das passiert hier mit derart kinematographischem und bildästhetischem Bewusstsein, dass man zeitweise vergisst, eine Oper und nicht eine Serie zu streamen. So zumindest im ersten Akt. Später gibt es noch dunkelstes, Verlies-artiges und grellstes himmlisch-magisches Bühnenbild (Vincent Lemaire). Dieses außergewöhnlich intensive Regietheater ist schon sehr beeindruckend.
Aus den Stimmen des Ensembles erleben wir, wie unterschiedlich brennende Herzen klingen können. Auch wenn wirklich der Großteil der Besetzung mit der barocken Klangsprache umgeht, als hätten sie nie etwas anderes gesungen (besonders eindrucksvoll Mariana Flores u.a. als Magique und Arianna Vendittelli, die ihre Koloraturen mal eben im Liegen meistert!), ist gerade die Addition von italienischem Pathos und moderner Exklamation bereichernd (sehr genossen bei Victor Sicard). Den ganzen Abend überstrahlt allerdings Mark Milhofer mit seiner Interpretation des Atlante. Seine Partie ist schon kompositorisch herrlich, aber er gestaltet sie auch noch mit kilometerweitem tonalen wie emotionalen Ambitus und einer Stimme, die in keiner Lage ihre Reichhaltigkeit verliert. Man kommt wohl in Dijons „Verzauberten Palast“, weil die Inszenierung einem die Abbildung des wirklich echten Lebens verspricht. Aber man bleibt für die Momente der Musik, in denen Rossis Händchen für Mehrstimmigkeit glänzt – poliert von Dirigent Alarcón, der seine Cappella Mediterranea und die Bühne absolut exakt zusammenhält.
Maike Graf
„Il palazzo incantato“ („Der verzauberte Palast“) (1642) // Azione in musica von Luigi Rossi