Wie oft wird über die Probleme von Opernstreams gesprochen: Dass sie mittlerweile unerträglich seien und wie schwer es falle, ihnen mit Opernbesuchs-Manier gegenüberzusitzen, sie mit hoher Konzentration aufzusaugen oder überhaupt ohne repetitive Pausenknopf-Intermezzi bis zum Ende durchzuhalten. Gleichermaßen laut sind die Rufe nach neuen Formaten, die mehr wollen als die analoge Bühne zu imitieren, deren ästhetische Erfahrung sowieso nicht gespiegelt werden könne.

Aus diesem Covid-Riss durch die ziemlich versteinerten Bühnenstrukturen der Oper erwuchs der Arthouse-Opernfilm „The Island We Made“ an der Opera Philadelphia. Allein im Grundkonzept ist er genau das, wonach wir gerufen haben: ein kurzer ästhetischer Opernfilm mit einer emotional und inhaltlich verständlichen Handlung, gebettet in elektronische, aber sehr bekömmliche und nahegehende Musik. Und dazu noch der Funken „Wow!“, den es zum Bildschirmsog braucht: Die Hauptrolle spielt Dragqueen-Superstar Sasha Velour. Bei ihr sollte man nicht an große Perücken à la Olivia Jones denken, vielmehr an Pollock oder Dalí in Kleidung und Make-up. In der Oper erscheint Sasha Velour in minimalistischer und doch extravaganter Drag, gehüllt in ein gelbes Gewand und mit sanft glitzernden spitzen Schmucksteinen am Kopf, an den Händen und Schuhen. Schon extrovertiert, aber nicht aufdringlich. Ruhig und echt. Tief durchdringend in Velours Blick.

In „The Island We Made“ schmiegt sie die Performancekunst des Drags – das sogenannte Lip-Syncing (eine Art Playback-Performance) – an die Kunstform der Oper. Was sonst bei Dragshows bunt, spektakulär und popkulturell geprägt ist, sind jetzt die Harfenarpeggien von Bridget Kibbey und der ruhig erzählerische Gesang von Eliza Bagg. Sasha Velour lip-synced im „Duett“ mit einer weiteren Rolle und zwar der Mutter, die während der elf Minuten eine Tonfigur formt. Hier liegt der Handlungskern des Opernfilms. Er ist eine Ode an die Mütter, die uns schufen und uns durch all die Dinge formen, die sie selbst einst geprägt haben: „My ears, my lungs … you made me.“

Nun zum Visuellen. Während Regisseur und Produzent Matthew Placek durch eine Wohnung in der Blue hour filmt, die mit ihren Pastelltönen wie eine verblasste Erinnerung wirkt, könnte jedes Bild, dass er in abgehakten Jump Cuts auf die Bühne holt, ein eigenes Kunstwerk sein. Das hyper-symmetrische Schlafzimmer, das Licht in den Millimeter genau angeordneten Lamellen, das Regal mit der vergoldeten Teekanne – kein einziges Staubkorn, kein Gegenstand an falscher Stelle. Wir sind hier in einer liebevollen Erinnerung, die sich auf Sasha Velours Lippen zu einem Lächeln kräuselt.

Dazu erklingt Angélica Negróns Musik mit starker Harfenfärbung und elektronischen Verzerrungen in ähnlichem Pastell-Flair, wie die Einrichtung der Wohnung. Immer wieder leuchten elektronische oder gesangliche Spitzen in der sonst sphärischen Musik, wie die Kristalle an Sasha Velour. Sowohl das Visuelle als auch die Musik sorgen für sehr einheitlichen, unaufgeregten Genuss mit einer Prise an herausstechendem Sogpunkt, wie das leuchtende Gelb von Sasha Velours Kleid oder der musikalische Höhepunkt bei Minute 9, der sich in Harfentürmen und Stimmverwaberung ergibt.

Natürlich ist der Arthouse-Opernfilm mit seinen 10 Dollar für elf Minuten eine Investition. Aber er regt zum Nachdenken an, wie die Oper und die Kunst des Drags voneinander profitieren können – und lohnt sich.

Maike Graf

„The Island We Made“ (2021) // Angélica Negrón

Der Opernfilm kann über die Website des Theaters abgerufen werden.