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Georg Friedrich Händel

Überwältigender Theaterzauber

Meiningen / Staatstheater Meiningen (September 2021)
Händels „Amadigi di Gaula“ spielt gekonnt auf der barocken Emotionsskala

Meiningen / Staatstheater Meiningen (September 2021)
Händels „Amadigi di Gaula“ spielt gekonnt auf der barocken Emotionsskala

Eine Zauberoper eröffnet die Intendanz Jens Neundorff von Enzberg am Staatstheater Meiningen: Händels „Amadigi di Gaula“ von 1715. Im Mittelpunkt steht die – erfolglos – mit allen dämonischen Mitteln um die Liebe des Ritters Amadigi kämpfende Zauber-Hexe Melissa. Dabei bleiben letztlich sie und der Rivale des Amadigi, Dardano, auf der Strecke; der darf nach seinem Tod wenigstens aus der Hölle noch die Götter um Mitleid für die beiden Liebenden Oriana und Amadigi anflehen. Doch das erwartete glückliche Ende des Paares wird von Regisseur und Ausstatter Hinrich Horstkotte ironisch in Frage gestellt. Denn bei der Hochzeit verbirgt die Braut schon den Dolch hinter ihrem Gewand. Die äußere Handlung aber ist nur ein Vorwand, die widerstreitenden Gefühle zu zeigen als quasi überbordende Theater-Effekte ganz im Sinne der Barockzeit. Zu hören sind die menschlichen Gefühle bis in die sensibelsten Regungen in Händels Musik, konzentriert und prägnant betont durch Attilio Cremonesi am Cembalo und Pult der Meininger Hofkapelle. Das heutige Publikum kann das an der abwechslungsreichen Personenregie miterleben. Dass die äußere Handlung Illusion, Spiel ist, wird schon zur Ouvertüre deutlich: Die beiden „Helden“ sitzen hinter der eigentlichen Bühne in einem Zuschauerraum, Kulissen sind von hinten zu sehen. Danach beginnt die Aktion für das Publikum im Opernhaus: In immer neuen Verkleidungen, mal in barocker Prunkrobe, mal teuflisch schwarz, mal geheimnisvoll dunkelrot glitzernd, mal mit riesiger Rock-Schleppe über dem roten Kleid erscheint Melissa, mal assistiert von weißen Gespenster-Frauen, mal mit schwarzen Punk-Furien, und auch die Auftritts-Orte wechseln oft. Da gibt es Naturbilder für die Nacht, Wolkenkulissen für den Tag, Wellen oder Flammen künstlich in Bewegung, ein Feuertor, durch das Amadigi als wahrer Liebender schreiten kann, unechte Säulen, immer höhere Stufen, irritierende Spiegelwände, Raumfluchten, eine Drachenhöhle und zum Schluss ein Meer mit einem Papp-Schifflein obenauf, das das Paar in eine glückliche Zukunft führen soll – oder nicht?

Händels Musik, mit allen Facetten von Trauer, Dramatik, Empfindsamkeit, Freude, Jubel lässt dies offen in einem lieto fine in g-Moll. Ins Reich der Toten eingegangen sind durch Selbstmord die Zauberin Melissa, von Monika Reinhard äußerst agil verkörpert und mit viel innerer Wut, Leidenschaft, ergreifender Klage und furiosen Ausbrüchen gesungen, und im Zweikampf der kriegerische Prinz Dardano, Almerija Delic, beeindruckend durch die kraftvolle, von Elan getragene Stimme, die auch die heikelsten Koloraturen meistert. Den Titelhelden Amadigi stellt Rafal Tomkiewicz mit fundiertem Countertenor und wehendem Blondhaar auf die Bühne, und so kriegt er „seine“ Oriana, eine weithin passive mädchenhafte Schönheit, Sara-Maria Saalmann, die eine einsame, hartnäckig Liebende mit fein nuanciertem, hellem Sopran zeichnet.

Renate Freyeisen

„Amadigi di Gaula“ (1715) // Opera seria von Georg Friedrich Händel

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Lass doch die Dornen …

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Mai 2021)
„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ – und des Musiktheaters!

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Mai 2021)
„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ – und des Musiktheaters!

Als müsste man das entwöhnte Publikum erst wieder zurückholen aus der heimischen TV-Bilderflut: Regisseur Robert Carsen versetzt das erste Oratorium des 22-jährigen Georg Friedrich Händel in die temporeiche Scheinwelt eines Topmodel-Castings. Dass die Idee wunderbar aufgeht, verblüfft nicht nur aus musikalischer Sicht. Während die Musik sogar DJ-affin zeitlos „ba-rockt“ – manchmal in halsbrecherischen Tempi der Les Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano – verblasst durch die Erkenntnis von Bellezza, der am Ende geläuterten Schönheitskönigin in Gestalt von Mélissa Petit, die bunte Glitzerwelt im Außen hin zur folgerichtig leeren Bühne. Wenn sie nach dem letzten Ton ihrer Schlussarie das Tor der Hinterbühne auf die noch hellen Salzburger Gassen hinaus verlässt – barfuß, im schlichten weißen Hemdchen – ist der „Triumph der Zeit und der Erkenntnis“ vollzogen. Ein Blick in den Spiegel der Wahrheit hat den schönen Schein vertrieben und Carsen lässt gleich das ganze Publikum durch Riesenspiegelung des Zuschauerraumes daran teilhaben. Ein Bezug auf die aktuelle Gefühlslage des Auf-sich-Selbst-zurückgeworfen-Seins? Während Bellezza im schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis den Verfall ihrer Schönheit akzeptiert und das Libretto des römischen Kardinals Benedetto Pamphilj arg moralisierend die Hinwendung zum „göttlichen Willen“ feiert, hat Carsens dankbar unprätentiöse, zeitlose Darstellung der vier allegorischen Protagonisten in diesem Lehrstück über die Vergänglichkeit erstaunlich entlarvende Züge.

Wahrscheinlich verhalf auch die pandemisch-vorteilhafte Abwesenheit von Chor und großem Ensemble diesem Werk auf die Salzburger Festspielbühne. Das spannende Solistenquartett um Cecilia Bartoli lässt voluminöse Massenszenen aber zu keiner Zeit vermissen. So singt und vor allem spielt die vielversprechende junge Sopranistin Mélissa Petit die Schönheit Bellezza als Siegerin des Topmodel-Castings auf dem Weg zur Erkenntnis mit großer Eindringlichkeit. Ab und an fehlende stimmliche Klarheit und Klang-Fokussierung sind wohl den Anstrengungen dieser Riesenpartie geschuldet, vor allem in Piano-Passagen gelingt ihr immer wieder Großartiges. Tenor Charles Workman gestaltet die „Zeit“ tongewaltig und auch körperlich auffallend präsent, sein Talar-Kostüm verstärkt die einschüchternde Wirkung. Ein geschickter Schachzug von Bühnen- und Kostümbildner Gideon Davey, dem damit ein starker Kontrast zur intellektuell-modern angelegten Figur der „Erkenntnis“ in Anzug und Designerbrille gelingt. Countertenor Lawrence Zazzo betört durchgehend mit dem warmen Klang seiner voluminösen Stimme. Dass sie es „immer noch kann“ (und wie!), beweist Cecilia Bartoli als Piacere auch im zehnten Jahre ihrer Festivalleitung. „Lascia la spina, cogli la rosa“: Dass Bellezza dieser betörenden Aufforderung widerstehen kann, ist geradezu ein Wunder. Ein Gänsehautmoment – überhaupt ist der „Triumph“ neben der Zeit und der Erkenntnis auch einer dieser Produktion!

Iris Steiner

„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ (1707) // Oratorium von Georg Friedrich Händel

Die Inszenierung wird bei den Sommerfestspielen wiederaufgenommen, Infos und Termine finden Sie hier.

Vielseitig und flexibel

75 Jahre BR-Chor

75 Jahre BR-Chor

Der BR-Chor sucht und findet zu seinem 75. Geburtstag neue Wege, um die „Macht der Musik“ auch in Pandemiezeiten zu feiern

von Tobias Hell

Die Initialzündung kam am 1. Mai 1946, Punkt 8.15 Uhr morgens, als die erste Sendung mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks ausgestrahlt wurde. Auf dem Programm „Lieder und Chöre zum Tag der Arbeit“. Und tatsächlich waren die Sängerinnen und Sänger die Pioniere, die hier als erster neu gegründeter Klangkörper des Hauses die Ärmel hochkrempelten und ihre Stimmen ertönen ließen. Von Volksliedern und geistlicher Musik bis hin zu eigens produzierten Opernaufnahmen war das Repertoire des Ensembles von Anfang an breit gefächert.

Diese Vielseitigkeit wurde über die letzten 75 Jahre hin gewissenhaft gepflegt und zählt auch für den aktuellen künstlerischen Leiter Howard Arman zu den wichtigsten Qualitäten seines Ensembles. „Es ist ein sehr intuitiver Chor, der sich gern auf Neues einlässt und dabei nicht nur auf die Dinge reagiert, die ich auf der Probe sage, sondern auch im Konzert jede noch so kleine Geste wahrnimmt und sofort darauf reagiert. Mit anderen Worten, er verkörpert all das, worauf es beim Musizieren eigentlich ankommt.“ Eine Meinung, mit welcher der englische Dirigent keineswegs allein dasteht. Kaum ein Pultstar der Nachkriegszeit, der nicht mit dem BR-Chor gearbeitet hätte. Rafael Kubelík, Leonard Bernstein, Claudio Abbado oder Sir Simon Rattle. Aber auch ausgewiesene Originalklang-Experten wie Ton Koopman oder Nikolaus Harnoncourt. Umso mehr bedauert man, dass die zum Jubiläum angedachte Zusammenarbeit mit der Akademie für Alte Musik Berlin aus bekannten Gründen vorerst aussetzen musste. Gerade weil die beiden Ensembles auf eine ebenso lange wie fruchtbare künstlerische Freundschaft zurückblicken. Und mit seinem Untertitel „Die Macht der Musik“ wäre Händels „Alexanderfest“ tatsächlich das ideale Werk für diesen Anlass gewesen. Howard Arman ist jedoch kein Mensch, der lange über das klagt, was derzeit nun einmal nicht geht, sondern pragmatisch genug, um gemeinsam mit seinem Chor nach kreativen Alternativen zu suchen. „Beim ‚Alexanderfest‘ wäre vor allem die Orchesterbesetzung einfach zu groß gewesen. Aber wir bleiben trotzdem bei Händel und machen eine Geburtstagsode, kombiniert mit Kompositionen von Henry Purcell und Daniel Purcell. Bei diesem Programm haben wir die Möglichkeit, für die beiden Hauptwerke zwei separate Besetzungen aufzustellen und so trotzdem alle Mitglieder des Chores zum Geburtstag zu Wort kommen zu lassen. Das war mir sehr wichtig.“

Schöpferisch durch die Krise

Fünf Jahre nach seinem Amtsantritt hat Arman dem BR-Chor seinen eigenen Stempel aufgedrückt und neue Schwerpunkte gesetzt, daneben aber auch die von Vorgängern wie Michael Gläser oder Peter Dijsktra angestoßenen Linien weitergeführt. Der Blick geht zwar nach vorne, ohne dabei jedoch etablierte Traditionen zu vergessen. Eine Mischung, die so gut angenommen wird, dass Aboplätze für die eigene Konzertreihe schon lange als Mangelware gelten. Die enge Verbindung zu seinem Publikum wollen das Ensemble und sein künstlerischer Leiter daher auch unter den aktuell erschwerten Bedingungen nicht abreißen lassen. „Ein Chor ist immer Teil seines Umfeldes. Wir alle sind gezwungen, kurzfristiger zu planen und zu leben. Und wir müssen eben nicht nur mit der Situation zurechtzukommen, sondern auch darauf reagieren. Das haben Komponisten und Musiker zu allen Zeiten getan. Ich bin kein Fan davon, Programme nur zu verkleinern oder zu verkürzen. Deshalb haben wir im letzten Jahr auch Kompositionen in Auftrag gegeben und versucht, neue Verbreitungswege zu entwickeln. Das sehe ich durchaus als etwas sehr Schöpferisches. Damit wir mal nicht immer nur über die Nachteile der Pandemie reden.“

Ob das Jubiläum im Mai zumindest vor teilweise gefülltem Saal gefeiert werden kann oder wieder nur als Stream über die Bühne geht, steht zum Redaktionsschluss wie so vieles andere noch in den Sternen. Den Optimismus, dass irgendwann wieder eine Art von Normalität einkehren wird, will man sich aber auch beim BR nicht nehmen lassen, wo der Probenbetrieb unter strengen Auflagen in kleinen Gruppen weitergeführt wird und einiges von dem, was aus dem ersten Lockdown geschoben werden musste, nun eben in adaptierter Form kommen soll. So unter anderem ein groß angelegtes Mahler-Projekt mit dem österreichischen Kollektiv Franui oder auch eine „Schubertiade“ in kleinen Besetzungen.

Probenarbeit zu Arvo Pärts „Miserere“ anlässlich der Salzburger Festspiele 2019 unter Mitwirkung des Komponisten: Howard Arman (links) und Arvo Pärt im Gespräch mit Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler (Foto Salzburger Festspiele / Marco Borrelli)

Estnische Spiritualität und bayerische Stubenmusi

Frisch im Handel erhältlich ist dazu eine CD, mit der gleich noch an ein weiteres Jubiläum erinnert wird. Gilt es neben dem 75-jährigen Bestehen des BR-Chores doch ebenfalls den 85. Geburtstag von Arvo Pärt zu feiern, dessen Werke im Repertoire des Ensembles seit langem einen wichtigen Platz einnehmen. „Wir haben das als eine sehr angenehme Pflicht empfunden, weil wir eine sehr starke Verbindung mit ihm und seiner Musik haben. Er war sehr enttäuscht, dass er nicht nach München kommen konnte, um mit uns zu feiern.“ Hauptwerk auf der CD, die man gemeinsam mit dem œnm (œsterreichisches ensemble fuer neue musik) und dem Münchner Rundfunkorchester realisierte, ist Pärts „Miserere“ als Live-Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 2019. Ein Konzert, an das sich Arman ebenso gern erinnert wie an die vom Komponisten selbst intensiv begleitete Probenzeit.  „Es ist schön, zu unserem gemeinsamen Jubiläum eine Live-Aufnahme zu haben, die so viel Kraft vermittelt. So ein heikles Stück 1:1 ohne Korrekturen auf CD übernehmen zu können, sagt schon einiges aus. Über die gute Zusammenarbeit mit dem œnm, aber auch über unsere Sängerinnen und Sänger, weil wir mit Ausnahme des Countertenors alle Soli aus den eigenen Reihen besetzen konnten.“

Von der weltlichen Seite erlebt man den Chor dagegen auf der ebenfalls vor Kurzem erschienenen CD mit Edward Elgars „From the Bavarian Highlands“. Einem Zyklus, zu dem der englische Komponist bei einem Ferienaufenthalt in den Alpen beeinflusst wurde. Hier trafen sich Heimat und Wahlheimat von Howard Arman, beim Livekonzert im Münchner Herkulessaal ergänzt durch eine original bayerische Stubenmusi. Wobei es besonders schön war, dass man für dieses Crossover im besten Sinne des Wortes „nur geringfügig außerhalb der eigenen Familie“ schauen musste. Kamen die Volksmusik-Beiträge doch ebenfalls von Mitgliedern des Chores oder aus deren direktem Umfeld. „Es zeigt, aus welchem Hintergrund das Singen manchmal entspringt. In der Kindheit ist das erste, das man singt, ja eher selten Mendelssohns ‚Elias‘, sondern eben Volkslieder. Und da gibt es eine sehr lebendige Kultur, die wir zeigen wollten. Davon waren auch die Mitglieder der Elgar Society in London sehr begeistert, mit denen ich im Vorfeld über unsere Idee gesprochen habe.“

Experimente und neue Begegnungen ist man beim BR-Chor also gewohnt. Und auch, wenn sich das gemeinsame Singen auf absehbare Zeit wohl eher in übersichtlichem Rahmen abspielen wird, steht Qualität bei Howard Arman und seiner Truppe weiterhin an erster Stelle. „Natürlich planen wir auch größere Werke in der Hoffnung, dass diese bald wieder möglich sein werden. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von kleineren Stücken, auf die ich mich sehr freue. Die Größe der Besetzung sagt ja nichts über die Gedankengröße dahinter aus. Nehmen wir zum Beispiel Händel, der in seinen Opern oder Oratorien gern in wichtigen Momenten das Orchester reduziert. Wenn da eine Arie nur von einer Violine begleitet wird, dann heißt es aufpassen!“ Egal ob im kleinen oder großen Format, der BR-Chor ist für alles gerüstet.

CD-EMPFEHLUNGEN

Arvo Pärt: „Miserere“ (Chor- und Instrumentalwerke)
Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner ­Rundfunkorchester, œnm – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Edward Elgar: „From the Bavarian Highlands / Partsongs“
Chor des Bayerischen Rundfunks – Howard Arman
1 CD, BR-Klassik

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2021

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