„Diese Reflexion über die Begriffe ‚Toleranz‘ und ‚Intoleranz‘ ist vermutlich nie wichtiger gewesen als heute, als jetzt, zu dieser Stunde.“ (Markus Hinterhäuser)

Das Wagnis der Salzburger Festspiele, Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ zur Aufführung zu bringen, ist gelungen. Die Aktualität, die Heutigkeit ist erschreckend. Es ist ein Abend des Innehaltens, ein politischer Abend fernab jeder Ideologie, ein Abend der Beklemmung, ein Schrei nach Humanismus, ein festspielwürdiger Abend. Die Felsenreitschule ist ein geradezu idealer Ort für die Musik. Nono wollte einen ungewöhnlichen Raum und hat ihn hier gefunden – es entsteht ein Kosmos zwischen Fortissimo und Pianissimo, allen Ausdrucksformen der menschlichen Stimme. Mit Ingo Metzmacher ist ein genialer Interpret von Nonos Musik am Werk, er führt Orchester, Chor und Solisten scheinbar mühelos durch die Schwierigkeiten der Partitur und lässt unglaubliche musikalische Momente entstehen. Das Orchester ist im ganzen Raum platziert, rechts auf der Galerie sind Vibraphon, Harfe, Pauke und Celesta, links 12 Schlagwerke, Becken und Militärtrommel. Die Wiener Philharmoniker folgen ihm mit hörbarer Freude und unglaublicher Präzision, ohne dass die Unmittelbarkeit verloren geht. Die eigentliche Hauptrolle hat der Chor, hier die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in der Einstudierung von Huw Rhys James. Sie ist in Höchstform, während der gesamten Azione scenica auf der Bühne, in ständiger choreografierter Bewegung.

Tenor Sean Panikkar singt den Emigranten fulminant und bewältigt den musikalisch schwierigsten Part mit unzähligen hohen C’s geradezu bravourös. Er ist der Auswanderer, der sich nach seiner Heimat zurücksehnt und letztlich wie alle anderen im reißenden Strom untergehen wird. Die Frau, die mit ihm in der Emigration lebte und ihn zum Bleiben beschwört (solide gesungen von Anna Maria Chiuri), wendet sich voller Hass gegen ihn. Auf seinem Weg in die Heimat gerät der Emigrant in eine Demonstration und wird, obwohl völlig unbeteiligt, festgenommen und als einer von vielen gefoltert. Die fast 20-minütige Folterszene wird vom Chor, Performern und der Compagnie des Bhodi Projects und der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD) realistisch dargestellt. Bassbariton Musa Ngqungwana gestaltet mit großer Wortdeutlichkeit einen Gefolterten.

Die Gefolterten wenden sich ans Publikum mit der Frage: „Und ihr? Seid ihr taub? … Rüttelt Euch die Klage unserer Brüder nicht auf?“ Schwer, sich hier nicht persönlich betroffen zu fühlen. Mit dem Algerier, gesungen von Antonio Yang, gelingt dem Emigranten die Flucht aus dem Lager, die Freiheit wird zum wichtigeren Ziel als die Heimat. Die Gefährtin, perfekt gesungen und dargestellt unter totalem Körpereinsatz von Sarah Maria Sun, beschwört die Abkehr von Krieg und gibt Hoffnung. Regisseur Jan Lauwers füllt die Bühne mit permanenter Bewegung, geht mit den Folterszenen an die Grenzen. Er führt die Figur des blinden Poeten, gesprochen von Victor Lauwers, ein und verfasst ihm auch einen Text, der von allen verlacht wird. Letztlich verschlingt der Strom alle und alles. Es bleibt Brechts Schlusswort: „Gedenkt unsrer mit Nachsicht.“

Gabriela Scolik

„Intolleranza 1960“ (1961) // Azione scenica von Luigi Nono

Die Inszenierung ist bis 19. Dezember 2021 als kostenfreier Stream über ARTE concert verfügbar.