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Iris Steiner

Wie realistisch ist real?

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

Sekt und Häppchen sucht man in Serge Dornys Einstandspremiere mangels Pause vergebens. Den „großen Brocken“ gibt es trotzdem – direkt von der Bühne, mit fulminanter Wucht und beklemmender Intensität, musikalisch auf höchstem Niveau. Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ – das Werk eines 22-Jährigen – wurde bereits kurz nach der Uraufführung 1930 in Leningrad Opfer politischen Drucks. Dass für die Erstaufführung an der Bayerischen Staatsoper – in Koproduktion mit der Novaya Opera Moskau – Regisseur Kirill Serebrennikov aus dem politischen Hausarrest per Videoschalte agiert, verleiht dieser Inszenierung ganz besondere Brisanz. Die absurde Novelle Nikolai Gogols (1836) erzählt von einer Welt, in der Realität und Fiktion in Traumlogik koexistieren. Serebrennikovs beklemmende Szenerie des kalten Petersburger Winters, immer höher werdender Schneeberge, von Räumfahrzeugen mit grellen Scheinwerfern, Schlagstöcken und Absperrgittern zeigt deutliche Bezüge zu Putins Russland – grellbunte Neon-Folklore auf grau-trister Bühne inklusive. Einer, der es wissen muss, setzt auf düstere Bilder und macht die Nase zum sozialen Status: Je mehr Nasen eine Person im Gesicht trägt, desto angesehener ist sie. Die per se dadaistischen Absurditäten der Oper in Form, Sprache und Intention sowie eine Umkehr der Wirkungsweisen von Text und Musik macht sich Serebrennikovs Regie zu eigen. Er teilt die Welt in Täter und Opfer und zeichnet das groteske Bild einer spießigen und korrupten Gesellschaft in Polizeiuniform, in der sich der kleine Beamte Platon Kusmič Kovaljov nicht mehr zurechtfindet, weil ihm seine Nase abhandenkam und nun als Staatsrat ein Eigenleben führt. Die Angst vor dem Anderssein, die Angst vor Strafe und die Vermischung von Absurdität und Realismus bis hin zum grenzenlosen Denken sind die geistigen Pfeiler der Inszenierung. Wenn am Ende die Nase zwar zurückkehrt ins Gesicht des Besitzers, dieser sich trotzdem in trostloser Plattenbau-Umgebung dem Alkohol hingibt und selbst das letzte Zeichen der Hoffnung – ein roter Luftballon in der Hand eines Kindes – mit lautem Knall zerplatzt, ist das vielleicht auch ein Statement des inhaftierten Regisseurs zur Zukunft Russlands.

Dem Bayerischen Staatsorchester in quasi Kammermusikbesetzung steht ein monumentaler Gesangs-Solistenapparat von 58 Rollen gegenüber. Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski – mit dem Repertoire bestens vertraut – erweckt Schostakowitschs Komposition in allen Facetten zum Leben. Die Zwanglosigkeit im Umgang mit Logik, aber auch eine gewisse Trostlosigkeit wird in der Musik spürbar. Grandios besetzt: die vielen Solistenpartien, allen voran Boris Pinkhasovich als Kovaljov und Doris Soffel als alte Dame. Serge Dorny hätte einen entspannteren Einstieg in seine Intendanz wählen können – aber im Jahr 2021 kaum einen passenderen. München setzt also auf Musik-Theater. Man darf gespannt sein.

Iris Steiner

„Nos“ („Die Nase“) (1930) // Oper von Dmitri D. Schostakowitsch

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Weniger ist diesmal mehr

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Wer bei der aktuellen Neuproduktion von Intendant Ludwig Baumann auf den gewohnten inszenatorischen Überraschungseffekt wartet, wird zunächst ein wenig enttäuscht: Betont traditionell in Bühnenbild und Erzählweise kommt diese „Madama Butterfly“ daher – eine japanisch anmutende Papier-Hausfront vor zartrosa Hintergrund, lediglich bewegliche Schiebetüren geben dem „drinnen“ und „draußen“ der Handlung etwas Struktur. Manchmal dienen Lichteffekte und Schattenspiele zur Darstellung dessen, was parallel zur Handlung im Vordergrund dahinter „im Haus“ passiert. Wären da nicht die ausnahmslos prächtigen Kostüme und Masken – sogar der Chor trägt echte japanische Kimonos – gäbe es auf dieser Bühne nicht sehr viel zu sehen. Aber halt: Das Ganze mündet keineswegs in einem langweiligen Opernabend. Ganz im Gegenteil wirkt sich die Reduktion des Optischen wie ein Brennglas auf die akustische Melodramatik von Puccinis Musik aus. Erstaunlicherweise taugt gerade diese Art der Inszenierung hervorragend zum Beweis des dramatischen „Overloads“, den Puccinis Oper zu bieten hat – für ein emotional ausgehungertes Post-Corona-Publikum fast schon zu viel des Guten.

Dass die Idee gar so gut aufgeht, liegt an der herausragenden musikalischen Qualität – unabdingbar für ein solch puristisches Konzept. Allen voran Yana Kleyn, die Interpretin der Cio-Cio-San, der man darstellerisch wirklich alles abnimmt. Vom 15-jährigen Mädchen zur amerikanisch gewandeten „Mrs. Pinkerton“ und einer gebrochenen Madama Butterfly am Ende des Stücks beherrscht die junge Russin die Darstellung der verschiedenen Facetten ihrer Figur meisterhaft. Dazu macht sie mit einer überragenden Gesangsleistung dem Anspruch der Titelprotagonistin alle Ehre – und die Aufführung fast zur „One-Woman-Show“. Jenish Ysmanov ist ihr als Pinkerton mit vor allem in den Höhen strahlendem Schmelz ein ebenbürtiger Partner (keine einfache Aufgabe in diesem Fall). Ksenia Leonidova singt und spielt ihre Suzuki ausdrucksstark und überzeugend, Sergeij Kostov ist ein wunderbar-schmieriger Heiratsvermittler Goro mit auffällig schönem Tenortimbre. Lediglich der Sharpless von Ian Burns kann stimmlich mit dem sehr hohen Niveau nicht ganz mithalten, sein schauspielerisches Talent macht die kleinen Abstriche aber wieder wett. Sämtliche kleinere Solopartien komplettieren das Solistenensemble zu einer runden Gesamtleistung. Wie immer eine „feste Bank“ ist auch hier der Festivalchor Immling (Einstudierung Cornelia von Kerssenbrock), traditionell vorwiegend ein Laienchor mit erstaunlichem Leistungsvermögen und trotz pandemiebedingter Probeneinschränkungen voll spürbarer Begeisterung für die Sache. Die zweite Krone dieses Abends gebührt neben der Sängerin der Titelpartie allerdings eindeutig dem mitreißend spielenden Festivalorchester Immling, das unter der Leitung von Cornelia von Kerssenbrock diesen Puccini zu dem macht, was er ist: zweieinhalb Stunden italienisch-dramatische Sommerfestival-Oper at its best!

Iris Steiner

„Madama Butterfly“ (1904) // Tragedia giapponese von Giacomo Puccini

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Festivals

Lass doch die Dornen …

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Mai 2021)
„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ – und des Musiktheaters!

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Mai 2021)
„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ – und des Musiktheaters!

Als müsste man das entwöhnte Publikum erst wieder zurückholen aus der heimischen TV-Bilderflut: Regisseur Robert Carsen versetzt das erste Oratorium des 22-jährigen Georg Friedrich Händel in die temporeiche Scheinwelt eines Topmodel-Castings. Dass die Idee wunderbar aufgeht, verblüfft nicht nur aus musikalischer Sicht. Während die Musik sogar DJ-affin zeitlos „ba-rockt“ – manchmal in halsbrecherischen Tempi der Les Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano – verblasst durch die Erkenntnis von Bellezza, der am Ende geläuterten Schönheitskönigin in Gestalt von Mélissa Petit, die bunte Glitzerwelt im Außen hin zur folgerichtig leeren Bühne. Wenn sie nach dem letzten Ton ihrer Schlussarie das Tor der Hinterbühne auf die noch hellen Salzburger Gassen hinaus verlässt – barfuß, im schlichten weißen Hemdchen – ist der „Triumph der Zeit und der Erkenntnis“ vollzogen. Ein Blick in den Spiegel der Wahrheit hat den schönen Schein vertrieben und Carsen lässt gleich das ganze Publikum durch Riesenspiegelung des Zuschauerraumes daran teilhaben. Ein Bezug auf die aktuelle Gefühlslage des Auf-sich-Selbst-zurückgeworfen-Seins? Während Bellezza im schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis den Verfall ihrer Schönheit akzeptiert und das Libretto des römischen Kardinals Benedetto Pamphilj arg moralisierend die Hinwendung zum „göttlichen Willen“ feiert, hat Carsens dankbar unprätentiöse, zeitlose Darstellung der vier allegorischen Protagonisten in diesem Lehrstück über die Vergänglichkeit erstaunlich entlarvende Züge.

Wahrscheinlich verhalf auch die pandemisch-vorteilhafte Abwesenheit von Chor und großem Ensemble diesem Werk auf die Salzburger Festspielbühne. Das spannende Solistenquartett um Cecilia Bartoli lässt voluminöse Massenszenen aber zu keiner Zeit vermissen. So singt und vor allem spielt die vielversprechende junge Sopranistin Mélissa Petit die Schönheit Bellezza als Siegerin des Topmodel-Castings auf dem Weg zur Erkenntnis mit großer Eindringlichkeit. Ab und an fehlende stimmliche Klarheit und Klang-Fokussierung sind wohl den Anstrengungen dieser Riesenpartie geschuldet, vor allem in Piano-Passagen gelingt ihr immer wieder Großartiges. Tenor Charles Workman gestaltet die „Zeit“ tongewaltig und auch körperlich auffallend präsent, sein Talar-Kostüm verstärkt die einschüchternde Wirkung. Ein geschickter Schachzug von Bühnen- und Kostümbildner Gideon Davey, dem damit ein starker Kontrast zur intellektuell-modern angelegten Figur der „Erkenntnis“ in Anzug und Designerbrille gelingt. Countertenor Lawrence Zazzo betört durchgehend mit dem warmen Klang seiner voluminösen Stimme. Dass sie es „immer noch kann“ (und wie!), beweist Cecilia Bartoli als Piacere auch im zehnten Jahre ihrer Festivalleitung. „Lascia la spina, cogli la rosa“: Dass Bellezza dieser betörenden Aufforderung widerstehen kann, ist geradezu ein Wunder. Ein Gänsehautmoment – überhaupt ist der „Triumph“ neben der Zeit und der Erkenntnis auch einer dieser Produktion!

Iris Steiner

„Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ (1707) // Oratorium von Georg Friedrich Händel

Die Inszenierung wird bei den Sommerfestspielen wiederaufgenommen, Infos und Termine finden Sie hier.

Jetzt muss Schluss sein!

Ein breites Bündnis namhafter Kunstschaffender fordert die sofortige Öffnung der Kulturstätten

Ein breites Bündnis namhafter Kunstschaffender fordert die sofortige Öffnung der Kulturstätten

Wie steht es um die Kunstfreiheit in Zeiten der Pandemie? Christian Gerhaher, prominenter Kopf der Initiative „Aufstehen für die Kunst“, beklagt „das offensichtlich geringe Interesse an den Künsten vonseiten der Politik“ und hat zusammen mit seinen drei Kollegen Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Hansjörg Albrecht und Kevin Conners sowie der renommierten Berliner Kanzlei Raue den Kampf aufgenommen: gegen das derzeitige Kultur-Totalverbot und ein mutmaßlich verfassungswidriges Handeln des Staates. „Macht das Tor zur Kultur auf. In Euren Köpfen“, wütet auch Schriftsteller Gert Heidenreich am 27. Februar in der FAZ. Ist nun die Zeit des „Erduldens“ endgültig vorüber? Wir haben nachgefragt beim österreichischen Charaktertenor Wolfgang Ablinger-Sperrhacke. Man darf hoffen …

Interview Iris Steiner

Was möchten Sie mit Ihrer Initiative erreichen?
Das große Ziel ist eine rechtliche Klärung, inwieweit die grundgesetzlich äußerst stark geschützte Kunstfreiheit „einfach so“ seit einem Jahr außer Kraft gesetzt werden kann. Wir sind seit März 2020 in verschiedenen Formen des Lockdowns, was zu Beginn auch durchaus gerechtfertigt war. Durch diverse Feldversuche im Laufe des Jahres – etwa bei den Salzburger Festspielen – wurde bewiesen, dass Kultur mit Hygienemaßnahmen durchaus stattfinden kann. Auch die Öffnungen der Häuser im September und Oktober liefen völlig problemlos. Nichtsdestotrotz wurde seit November alles komplett und ohne stichhaltige Begründung geschlossen, während gleichzeitig Gotteshäuser fast ohne Einschränkungen durchgehend geöffnet blieben.

Warum glauben Sie, dass ausgerechnet der Kunst- und Kulturbereich anscheinend grundlos so starken und dauerhaften Total-Verboten unterlegen ist?
Unser Kunstbetrieb wird hauptsächlich von staatlicher Seite finanziert, was eine Schließung recht einfach macht. Thomas Hengelbrock wurde beispielsweise auf Nachfrage von zwei Ministerpräsidenten und einem regierenden Bürgermeister mitgeteilt, dass die Bevölkerung diese Verbote akzeptiert und man sie deshalb auch durchzieht. Das ist insgesamt unser Problem: Klagen müssen die Künstler, weil etwa Intendanten als Angestellte von Kommune oder Staat kein Klagerecht hätten. Die Rechtsträger hingegen werden ja nicht gegen sich selber klagen. Auf Anstrengung der Staatskapelle Dresden gibt es jetzt zum Beispiel einen Prozess beim Arbeitsgericht Chemnitz, auch um ein Statement zu setzen, dass Kurzarbeitergeld alleine monatelanges quasi Berufsverbot nicht ausgleichen kann.

Was würden Sie Bundeskanzlerin Merkel oder Ministerpräsident Söder gerne sagen?
Kunst ist ein Lebensmittel. Sie definiert das Erbe der Menschheit und wenn man sieht, was von der übrig geblieben ist über die Jahrtausende, sind es immer Kunstwerke und Bauten. Keiner weiß, wer vor 100 Jahren bayerischer Ministerpräsident war, aber jeder kennt Goethe und Shakespeare. Das zum einen. Zum anderen haben gerade Deutschland und Österreich aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber der Kunstfreiheit, die ja bekanntlich während der NS-Zeit aufs Schärfste unterdrückt wurde. Ein schlimmes Erbe, da müsste viel mehr historische Sensibilität walten. Die Kultur bei der schrittweisen Öffnung als letztes zu berücksichtigen, wie jüngst in einem Vorschlag des Berliner Oberbürgermeisters Müller geschehen, ist in mehrerlei Hinsicht ein Unding. Nach einem Jahr Pandemie sollte man endlich kapiert haben, dass man jedes Theater hinsichtlich Publikumskapazität und Hygienekonzept einzeln betrachten muss. Viele Studien haben der Kultur mit das geringste Innenraumrisiko überhaupt attestiert.

Wie ist das genaue weitere Vorgehen der Initiative geplant? Ihr im November angekündigter Weg eines Eilantrags auf Wiederöffnung wurde bisher ja nicht beschritten …
Es gab bereits jetzt – pikanterweise noch Tage vor der vereinbarten nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 3. März – eine offizielle Stellungnahme des Ministeriums, dass alle Theater bis zum 31. März geschlossen bleiben sollen. Dies wurde den Mitarbeitern der Häuser bereits mitgeteilt, basiert jedoch zum jetzigen Zeitpunkt auf keiner Rechtsgrundlage. Sobald sich diese Ankündigung durch eine offizielle Verordnung bestätigt, werden wir am 6. oder 7. März dagegen Klage einreichen.

Wer kann sich daran beteiligen – und wie?
Wir freuen uns über jede Unterstützung, mit Ausnahme von „Querdenkern“ aller Art, von denen wir uns ausdrücklich distanzieren, da unser Eilantrag auf Maskenpflicht, Testungen und Hygienekonzepten beruht. Wir brauchen vor allem finanzielle Hilfe für Medienarbeit und die ebenfalls nicht gerade kostengünstige Klage. Jeder kann uns über unsere Website eine Spende zukommen lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob wir nicht letztendlich bis zum Bundesverfassungsgericht gehen müssen. Allerdings gibt es einen ganz gesunden Optimismus, was den Erfolg unseres Eilantrags betrifft. Sollten die Spendeneinnahmen dann die Ausgaben übersteigen, werden wir das Geld an durch die Pandemie mittellos gewordene Künstler weiterreichen.

www.aufstehenfuerdiekunst.de

Die Insel der Glückseligen

Das Grafenegg Festival trotzt dem Virus

Das Grafenegg Festival trotzt dem Virus

von Iris Steiner

Mehr zu sein als das „Land um Wien herum“, war vor 20 Jahren der Grund für das Bundesland Niederösterreich, die Kultur zu seinem Identitätsstifter zu machen. Ein Glücksfall für den 32 Hektar großen, im Stile englischer Landschaftsgärten gestalteten Park um das Schloss Grafenegg. Man erweiterte die Anlage um eine Open-Air-Bühne und einen Konzertsaal und realisierte in wenigen Jahren den heute weit über Österreich hinaus bekannten grandiosen Standort mit seinen traumhaften Bedingungen zur Darbietung klassischer Konzerte. 

Rudolf Buchbinder
Künstlerischer Leiter Rudolf Buchbinder (Foto Marco Borggreve)

Bemerkenswert ist, dass es überhaupt stattgefunden hat, das 14. Grafenegg Festival. Zwar musste das ursprünglich geplante Programm den aktuellen Gegebenheiten angepasst und ein aufwendiges Sicherheitskonzept erarbeitet werden, aber „es war uns wichtig, die Kunst als Grundbedürfnis der Menschen gerade in Zeiten wie diesen zu behaupten“, betonte die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Die Idee des künstlerischen Leiters Rudolf Buchbinder, »alle österreichischen Kräfte zu bündeln“ und damit mögliche Reiseprobleme ausländischer Künstler von vornherein auszuschließen, war so clever wie offensichtlich. Wo, wenn nicht in Österreich, könnte man sonst Weltniveau erreichen, wenn man fast ausschließlich seine „eigenen“ Künstler und Orchester engagiert?

Trotzdem, ein wenig traurig ist der in Tübingen geborene Geschäftsführer Dr. Philipp Stein schon, wenn er daran denkt, dass in „normalen Jahren“ das Publikum einen ganzen Tag mit mehreren Konzerten an verschiedenen Orten auf dem weitläufigen Gelände von Grafenegg verbringen kann. Etwas, das in diesem Jahr aufgrund der Regeln leider auf ein Konzert am Abend reduziert werden musste. Um einen geordneten Einlass des Publikums in den Wolkenturm zu ermöglichen, wurden sämtliche Tickets in Farben eingeteilt. „Wir dürfen den großen Park nicht frei zugänglich machen, sondern nutzen ihn für Wartezonen. Darüber hinaus achten wir sehr darauf, dass sich die Bereiche vor und hinter der Bühne nicht vermischen“, so Stein. Das Konzept ging auf – alle Künstler wurden in über 1.100 PCR-Tests kontrolliert – und auch beim Wetter hatte man großteils Glück: Lediglich zwei der 15 geplanten Konzerte mussten abgebrochen werden, da das Auditorium als Schlechtwetter-Alternative in diesem Jahr nicht zur Verfügung stand. 

Foto © Iris Steiner
Warte-Park (Foto Iris Steiner)

Dass man mit 1.250 Besuchern je Abend in diesem Jahr zu einem der größeren Kulturveranstalter des Landes zählen darf, ist nur ein kleiner Trost, aber Optimist Buchbinder lässt sich nicht beirren: „Wir hatten im Hinblick auf die Pandemie von vornherein die bestmöglichen Voraussetzungen – keine szenischen Produktionen, alles Open Air und ein relativ später Festivalstart am 14. August. Dazu kommt ein phantastischer Rückhalt durch das Land Niederösterreich. Für uns war immer klar, dass wir stattfinden.“ Der Blick auf die Bilanz zeigt, dass er Recht behalten hat. Das Grafenegg Festival 2020 liest sich wie ein „who is who“ der Klassikbranche. Es debütierten die Wiener Symphoniker, das ORF Radiosymphonieorchester und Starsopranistin Anna Netrebko mit ihrem Mann Yusif Eyvazov. Orchesterkonzerte mit dem Residenzorchester, dem Tonkünstler-Orchester, den Wiener Philharmonikern unter Gustavo Dudamel und Franz Welser-Möst folgten, dazu virtuose Solistenkonzerte mit Alice Sara Ott und Arabella Steinbacher und ein Opernabend mit Piotr Beczała. Kammermusikalische Abende wie „Buchbinder & Friends“ sowie das Liedprogramm mit Jonas Kaufmann  stellten zudem unter Beweis, dass die Atmosphäre des Wolkenturms auch für kleinere Besetzungen geeignet ist. 

Foto © Iris Steiner
Intensives Wolkenturm-Konzerterlebnis – den Pandemie-Widrigkeiten
konnte man in Grafenegg von ihrer besten Seite begegnen (Foto Iris Steiner)

„Klang trifft Kulisse“ hielt auch den Corona-Bedingungen Stand: 80 Prozent der ursprünglich geplanten Künstler konnten auftreten, die Hauptherausforderung bestand im Umgestalten der Programme, die ohne Pause stattfinden mussten. Sämtliche ausländischen Orchester zu ersetzen, war die größte und schmerzlichste inhaltliche Veränderung, wie Geschäftsführer Philipp Stein bemerkte, „neben dem Umstand, dass bei der Umplanung nur wenig zeitgenössische Musik ins Programm genommen werden konnte“ – aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. „Regionalisierung als Antwort auf eine globale Krise ist immer schwierig. Aber das war der Wermutstropfen, mit dem wir in diesem Jahr eben leben mussten.“  

Das Festival setzt auch zukünftig auf sein Alleinstellungsmerkmal als Tagesausflugsziel für Kultur- und Naturliebhaber in Großstadtnähe, auf das Gefühl, dass man statt über einen roten Teppich hier über den grünen Rasen läuft – und auf ein niederschwelliges Gesamtpaket auch für Besucher, die nicht nur ausschließlich kulturaffin sein müssen, um die Atmosphäre des großen Parks um das Schloss genießen zu können. „Mit Corona wird man zunächst leben müssen“, meint Intendant Buchbinder, dessen Vertrag vorerst bis 2024 fixiert ist, „das wird es immer geben. Aber wenn ein Impfstoff gefunden ist, kann man damit umgehen.“ 

Dass das Programm zum 15. Geburtstag 2021 schon fertig geplant ist, zeugt von Optimismus. Und dass man direkt mit der diesjährigen Bilanz einen neuen Hauptsponsor für die Zukunft verkünden konnte, ist auch kein schlechtes Zeichen. 

Kunst in der Krise!?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Interviews Iris Steiner

Aus aktuellem Anlass starten wir in dieser Ausgabe eine neue Reihe und fragen Macher, Visionäre, Forscher und Politiker: Welche Zukunft hat die Kultur? Diesmal: Achim Müller, Direktor Forschung und Projekte am Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) Berlin, sowie Jochen Sandig, Kulturunternehmer und Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Sprechen wir über die „Zukunft der Kultur“. Brauchen wir gerade jetzt eine solche Diskussion? Oder ist das nur populistisches Säbelrasseln in einem Land, wo Kunst und Kultur staatlich unterstützt werden?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller
(Foto Annette Hempfling)

Diskussionen über die Zukunft von Kultur und ihre Rolle in der Gestaltung von Gesellschaft – auch in Bezug oder Konkurrenz zu anderen drängenden Themen wie der Klimakrise oder gesellschaftlicher Polarisierung – gab es ja auch vor der alles überschattenden Corona-Pandemie immer. Die aktuelle Situation stellt nun schlagartig einen großen Teil der konkreten kulturellen Praktiken und Institutionen in Frage: Sei es durch Kontakt- und damit Veranstaltungs-, Kapazitäts- und Partizipationsbeschränkungen, durch verändertes Freizeitverhalten und Bewertungen seitens des Publikums (wie „Geht ja auch ohne“, „Das ist endgültig etwas für wenige“), oder schließlich durch die absehbaren Legitimierungs- und Verteilungsdebatten angesichts öffentlicher Sparzwänge und anderer Problemfelder (Nachhaltigkeit, Diversität, Bildung). In diesem Licht braucht es natürlich spezifische Debatten über die Rolle von Kultur in der Bewältigung der Krise im Allgemeinen als auch im Speziellen über Reaktionen in Institutionen, künstlerischen Formen, Vermittlungsarbeit und Kommunikation.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig
(Foto Jean-Baptiste Millot)

Der Begriff der Zukunft weckt bei vielen Menschen Sorgen und Ängste. Zukunft aktiv zu gestalten, ist ein schöpferischer Akt. Kommt nicht gerade den Künsten hier eine wachsende Verantwortung gar mit dringlicher Notwendigkeit zu? Ebenso scheint mir das Schicksal unserer Gesellschaft existenziell mit der Zukunft der Kultur verknüpft. Wer oder was sind wir denn überhaupt ohne Kultur? Zum kulturellen Geschehen gehören in der Regel drei wesentliche Elemente: der Raum, die künstlerischen Akteure – auf und hinter der Bühne – und das Publikum. Nur wenn dieser Dreiklang auch in eine zeitlich synchrone reale Zusammenkunft treten kann, kann die Magie der Kreation zum echten Erlebnis werden. Mithilfe der Technologie kann der Raum auch virtuell sein, das kennen wir vom Film. Aber das Digitale wird niemals den realen physischen Raum vollständig ersetzen, dies gilt ebenso für die Resonanz der Akteure mit dem Publikum. Ich spiele gerne mit Worten und so habe ich entdeckt, dass die Zukunft wortwörtlich in der ZUsammenKUNFT steckt. Kultur ist ein unverzichtbarer Teil einer lebendigen demokratischen Gesellschaft und steht in ihrer Systemrelevanz dem Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungssystem in nichts nach. Kultur wirkt als Transmitter zwischen allen Bereichen des menschlichen Lebens. Die Leitplanken in Richtung einer positiven Zukunft symbolisieren für mich unter anderem die beiden Bücher „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch und „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. In diesem Korridor müssen wir auch die politische Debatte um die finanzielle Existenzsicherung der Kultur führen, denn Investitionen in die Kultur sichern eine lebenswerte Zukunft.

Hat die Pandemie mit den damit verbundenen starken Einschränkungen des Kulturbetriebs Auswirkungen, die Sie nicht erwartet hatten? Haben Sie Erkenntnisse gewonnen über unverhoffte soziokulturelle Entwicklungen oder – im Gegenteil – hatten Sie andere erwartet?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die bisherigen Entwicklungen haben Hypothesen auf der Grundlage früherer Untersuchungen des Instituts für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) bestätigt: Unsicherheit in weiten Teilen des Publikums verbunden mit leicht verfügbaren und vielfältigen digitalen Alternativen führt zu häufig ungewisser Auslastung selbst der begrenzten Kapazitäten; die Resonanz auf digitale Angebote von Kulturinstitutionen ist sehr unterschiedlich, in der Konkurrenz zu aufwendig produzierten Angeboten im Streaming- und Gaming-Bereich können nur wenige technisch mithalten, Teilnehmerzahlen sind häufig relativ gering. Um nachhaltig einen gleichwertigen Platz neben den traditionellen Formen einzunehmen, müssen die digitalen Angebote Teil einer digilogen Gesamtstrategie sein, mit kontinuierlicher Content-Entwicklung, Aufbau der entsprechenden künstlerischen, kommunikativen und technischen Kompetenzen/Mitarbeiter, Ausbau der technischen Infrastruktur und Anpassung von Organisationsprozessen. Viele Institutionen suchen Lösungen allerdings vor allem in der Innensicht oder im Austausch mit ähnlichen Institutionen, selten in Partnerschaften und durch Lernen außerhalb der eigenen Disziplin oder gar im Bereich der Wirtschaft. Daneben gibt es Gegenbeispiele von großer Lern- und Handlungsfähigkeit – meist von Institutionen, die bereits vor der Pandemie aktiv und strategisch auf Strömungen wie die Digitalisierung oder die Ausdifferenzierung des Kultur-und Freizeitverhaltens reagiert haben und dafür mit anderen Institutionen oder Unternehmen kooperiert haben.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Schon vor der Pandemie gab es ein komplexes globales Thema mit existentieller Notwendigkeit lokaler Antworten zur Krisenbewältigung: die Erderwärmung und der damit verbundene Klimawandel. Für den Globalen Klimastreik am 20. September 2019 habe ich ein Transparent mitentwickelt, auf dem stand geschrieben: „Wir machen zusammen Halt.“ Niemand konnte ahnen, wie abrupt und radikal ein solches Haltmachen in einem ganz anderen Kontext überhaupt möglich sei. Die Corona-Pandemie mit der Gefahr des exponentiellen Wachstums von Ansteckungen hat uns dazu gezwungen. Haben wir die Zeit zum Nach-Denken genutzt oder auch zum Vor-Denken? Wir brauchen neue Konzepte des Zusammenlebens und des Wirtschaftens. Ich würde mir wünschen, dass wir noch stärker dazu bereit sind, hier etwas zu verändern. Bei den Schloss Fest Spielen richteten wir Anfang 2020 an unsere Künstlerfamilie und das Publikum drei Fragen: „Wo stehst Du? Was bewegt Dich? Wohin gehen Wir?“ Wenn wir aus Corona etwas lernen können, dann ist es, das gemeinsame WIR zu entdecken und unseren Narzissmus und Egoismus zurückzustellen. Die gute Nachricht: Ich habe viel Solidarität unter meinen Intendanten-Kollegen erlebt und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.

Welchen neuen Ansatz würden Sie der Politik zum jetzigen Zeitpunkt an die Hand geben? Wie würden Sie persönlich vorgehen?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Hier würde ich zwei Bereiche hervorheben: Zum einen sollten Zielvereinbarungen oder Projektvorgaben zur Gewinnung und Bindung von Publikum („Audience Development“), heute häufig mit dem Konzept von „Diversität« verknüpft, angesichts der drohenden Erosion gerade auch in den Kernpublika nachjustiert werden. Programme wie zum Beispiel das 360° sollten im Sinne echter Diversität stärker ausbalanciert werden: Neben der derzeit im Mittelpunkt stehenden Integration unterrepräsentierter Personengruppen sollten für die Verankerung in der Bevölkerung insgesamt auch die Pflege des treuen und engagierten Kernpublikums und die Ansprache häufig eher unterhaltungsorientierter Gelegenheitsbesucher fokussiert werden. Aktivitäten sollten dabei auf empirisch ermittelten Verhaltensmustern und Präferenzen beruhen, sonst droht statt der angestrebten Integration einfach Desinteresse. Zweitens sollten Anreize gesetzt und Ressourcen bereitgestellt werden, um die Reichweite durch digitale Angebote zu erhöhen. Dabei sind Gesamtstrategien zu priorisieren, bei denen die Content- und Formatentwicklung in den Aufbau von Kompetenzen, technischer Infrastruktur und spezifischer Kommunikationsstrategien eingebettet ist. Das Programm „Neustart“ der KSB weist da in die richtige Richtung. Um Wissenstransfer anzuregen, sollten insbesondere Kooperationen mit technologischen Partnern (z.B. Software-/Games-Entwickler) unterstützt werden – angelehnt an „Tandemförderungen“ wie „Doppelpass“.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Was sich am dringendsten ändern muss, sind die lähmende Stagnation und das Festhalten an alten Prinzipien und Privilegien. Wir brauchen Mut zum Neuanfang. Die „Große Transformation“ bedeutet, große Ziele für eine nachhaltige gemeinsame Welt in allen Bereichen zu etablieren und systematisch umzusetzen: Keine Armut. Bildung und Kultur für Alle. Die Gleichheit aller Menschen, egal welcher Geschlechter und Herkunft kann und muss Realität werden. Der Planet Erde darf nicht weiter zerstört und ausgebeutet werden, sondern soll als Lebensraum und Heimat aller zukünftigen Generationen erhalten werden. Den Künsten kommt dabei die verantwortungsvolle Rolle als Katalysatoren dieses Wandlungsprozesses zu. Der Traum einer besseren Welt hat die Vereinten Nationen zum gemeinsamen Masterplan der Sustainable Development Goals als globale Agenda 2030 geführt. Ein wichtiger Kompass, der uns bereits seit vier Jahren in die Hand gelegt wurde. Wie ich persönlich dabei vorgehe? Ich nehme diesen Kompass ernst und suche leidenschaftlich gerne auch nach Wegen, die noch niemand gegangen ist. Es ist ein langer Weg, aber er führt uns vielleicht zum Ziel, wenn wir beginnen, ihn zu gehen. Als Intendant habe ich mich entschlossen, die traditionsreichen Ludwigsburger Schlossfestspiele als ein zeitgemässes Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit zu begehen und zu feiern. Dies bedeutet, Vielfalt, Zugänglichkeit und Regeneration konsequent zusammen zu denken.

Hat die momentane Situation Auswirkungen auf Ihre zukünftige Arbeit? Werden Sie etwas verändern, weil Sie erst jetzt die Relevanz erkannt haben?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die digital unterstützte Arbeit ist noch stärker „angekommen“ – ich arbeite derzeit fast ausschließlich mit internetbasierten Forschungs-, Vermittlungs- und Moderationsmethoden. Die Potenziale dieser Technologien waren ja schon bekannt, nun haben sich die Rahmenbedingungen verändert, machen physische Kontakte zum Risikofaktor, beeinträchtigen sie oder schließen sie über juristische Regelungen gar aus. Dadurch ist der Bedarf nach möglichst intensiver digitaler Interaktion natürlich gestiegen. Die in dieser Zeit gewonnenen Erfahrungen werden sicher auch die zukünftige Arbeit prägen, hin zu einem Mix aus rein digitalen Methoden und Formaten, solchen, die auf physischer Begegnung und Interaktion beruhen, sowie hybriden Formen, die physischen mit digitalem Austausch verknüpfen.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir lernen, mehr im Moment zu leben und flexibel zu planen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, auf Entwicklungen zu reagieren, und brauchen dafür vor allem Verlässlichkeit der Finanzierung. Materielle Ressourcen sind notwendig, um das Personal und die Künstler zu finanzieren und durch das tiefe Tal der geringeren Einnahmen hindurch zu führen. Besonders hart trifft es die nicht-öffentlich geförderte Veranstaltungsbranche. Dringend müssen wir Zugänglichkeit zu einem breiten 360-Grad-Publikum herstellen. Musik und Tanz sind universelle Sprache, die alle Menschen verstehen, sie haben ihren Ursprung im rituellen und transformativen Akt. Beide Künste sind vergänglich und gleichzeitig in der Lage, die Zeit anzuhalten, sie geben uns eine Ahnung von der Ewigkeit – ein wunderschönes Paradoxon. Genauso oszillieren wir als Teile ständig zwischen der materiellen und der immateriellen Welt. Corona hat dafür unsere Sinne geschärft.

Welche Bedeutung hat Kultur für unsere Gesellschaft? Ist Ihnen jetzt – vielleicht aufgrund der Einschränkungen – etwas aufgefallen, was Ihnen vorher nicht so bewusst war?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Es ist hinlänglich und kontrovers diskutiert worden, welche Bedeutung Kultur, präziser der Kulturbereich/-betrieb, grundsätzlich für gesellschaftliche Diskurse und Prozesse hat – dem ist in der hier gebotenen Kürze wenig hinzuzufügen. Politisch/organisatorisch bestätigt sich in der Krise positiv wie negativ Vertrautes: Das deutsche Kultur-(finanzierungs-)system erweist sich bisher als erstaunlich widerstandsfähig, Unterstützung und Rechtssicherheit wurden relativ schnell und partnerschaftlich bereitgestellt. Nur wenige Stimmen haben bisher die Situation dazu genutzt, das System grundsätzlich in Frage zu stellen. Ob dies in den Zeiten des Abbaus öffentlicher Defizite so bleibt, ist abzuwarten. Die einschneidende grundlegende Erkenntnis ist wohl, wie stark der bestehende Kulturbereich auf erprobten kulturellen Praktiken des physischen Kontaktes beruht – falls Corona und damit die Kontaktbeschränkungen auch nur annähernd bestehen bleiben, könnte dies im Kulturbetrieb ähnlich massive strukturelle Auswirkungen haben wie die Digitalisierung oder andere technologische Umbrüche.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Kultur schafft Gemeinschaft. Kultur spendet Trost. Die Künste öffnen geistige Räume. Die Künste stellen seelische Verbundenheit her. Es muss doch jenseits der Arbeit und Produktivität auch Raum und Zeit für Rituale geben, für Feste, die wir feiern. Als verantwortlicher Intendant der Schloss Fest Spiele möchte ich die drei Begriffe zum Tanzen bringen: Das Schloss, das Fest und die Spiele. In Zeiten von Corona gehen wir verstärkt in die Außenräume: Marktplatz, Schlosshof und Blühendes Barock bilden in Ludwigsburg einen spannungsreichen Dreiklang an sehr unterschiedlichen Räumen. Es ist phänomenal zu erleben, dass gerade in diesen leicht zugänglichen offenen Räumen ein Schlüssel zur Öffnung liegt. Wenn wir wirklich Schwellen abbauen wollen und die Künste nicht als Zeitvertreib für ein elitäres Bildungsbürgertum begreifen, sondern radikal als ein gelebter demokratischer Resonanzraum, dann müssen wir auch neue Orte bespielen.

Sehen Sie in der jetzigen Situation auch eine Chance, etwas zum Besseren zu verändern?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Sicher kann die Bewältigung der Corona-Krise auch eine konkrete Form von bürgerschaftlichem Gemeinsinn schaffen, ein „Das haben wir gemeinsam überwunden!“, das in einer Zeit, in der sich in den sozialen Medien quasi autarke Resonanzräume ausdifferenzieren, von großem Wert wäre. Die Herausforderung für Kulturinstitutionen besteht dabei unter anderem darin, neben internem Krisenmanagement als handfester und integrierender Gestalter des öffentlichen Lebens zu agieren – und nicht vorrangig als Forderungssteller im Verteilungskampf um öffentliche Unterstützung. Ansatzpunkte in Form von „Good-Practice-Beispielen“ gibt es, von künstlerischen Formaten, auch im öffentlichen und im digitalen Raum, über den Aufbau digitaler Kompetenz und Infrastruktur bis hin zu branchenübergreifenden Partnerschaften mit Gastronomie und Einzelhandel für die Aufrechterhaltung des Lebens im öffentlichen Raum trotz Corona. Nun gilt es, dass diese guten Beispiele sich in der Breite durchsetzen. Als Beitrag dazu haben wir am IKMW ein eigenes Projekt aufgesetzt: Wir nehmen Auswirkungen und Strategien von Theatern und freien Gruppen in Deutschland auf und dokumentieren Best-Practice-Beispiele. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen zu integrierten digilogen (digital/analogen) Strategien erweitern die bewährten Praktiken durch zeitgemäße digitale wie hybride Ansätze und werden auch in der nach Corona sicherlich digitaleren Welt von Bedeutung sein. Ende November werden wir Ergebnisse vorstellen – selbstverständlich digital.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir befinden uns in einem Krieg gegen uns selbst. Der Mensch zerstört die Natur, die Umwelt, seinen Lebensraum. Wir brauchen eine doppelte Hinwendung zum „Terrestrischen“, wie der französische Philosoph Bruno Latour es fordert, und gleichzeitig zum „Menschlichen“. Daher habe ich vor vier Jahren gemeinsam mit Alexandra Mitsotakis, Irene Papaligouras und anderen Partnern das World Human Forum in Delphi gegründet. Mein Leben ist bestimmt durch die ständige Suche nach einem dritten Weg, einem Plan C. Wir müssen das Ökonomische, Ökologische und Soziale in Einklang bringen, oder besser: in einen wohlklingenden Dreiklang!