Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?
Interviews Iris Steiner
Aus aktuellem Anlass starten wir in dieser Ausgabe eine neue Reihe und fragen Macher, Visionäre, Forscher und Politiker: Welche Zukunft hat die Kultur? Diesmal: Achim Müller, Direktor Forschung und Projekte am Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) Berlin, sowie Jochen Sandig, Kulturunternehmer und Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele
Diskussionen über die Zukunft von Kultur und ihre Rolle in der Gestaltung von Gesellschaft – auch in Bezug oder Konkurrenz zu anderen drängenden Themen wie der Klimakrise oder gesellschaftlicher Polarisierung – gab es ja auch vor der alles überschattenden Corona-Pandemie immer. Die aktuelle Situation stellt nun schlagartig einen großen Teil der konkreten kulturellen Praktiken und Institutionen in Frage: Sei es durch Kontakt- und damit Veranstaltungs-, Kapazitäts- und Partizipationsbeschränkungen, durch verändertes Freizeitverhalten und Bewertungen seitens des Publikums (wie „Geht ja auch ohne“, „Das ist endgültig etwas für wenige“), oder schließlich durch die absehbaren Legitimierungs- und Verteilungsdebatten angesichts öffentlicher Sparzwänge und anderer Problemfelder (Nachhaltigkeit, Diversität, Bildung). In diesem Licht braucht es natürlich spezifische Debatten über die Rolle von Kultur in der Bewältigung der Krise im Allgemeinen als auch im Speziellen über Reaktionen in Institutionen, künstlerischen Formen, Vermittlungsarbeit und Kommunikation.
Der Begriff der Zukunft weckt bei vielen Menschen Sorgen und Ängste. Zukunft aktiv zu gestalten, ist ein schöpferischer Akt. Kommt nicht gerade den Künsten hier eine wachsende Verantwortung gar mit dringlicher Notwendigkeit zu? Ebenso scheint mir das Schicksal unserer Gesellschaft existenziell mit der Zukunft der Kultur verknüpft. Wer oder was sind wir denn überhaupt ohne Kultur? Zum kulturellen Geschehen gehören in der Regel drei wesentliche Elemente: der Raum, die künstlerischen Akteure – auf und hinter der Bühne – und das Publikum. Nur wenn dieser Dreiklang auch in eine zeitlich synchrone reale Zusammenkunft treten kann, kann die Magie der Kreation zum echten Erlebnis werden. Mithilfe der Technologie kann der Raum auch virtuell sein, das kennen wir vom Film. Aber das Digitale wird niemals den realen physischen Raum vollständig ersetzen, dies gilt ebenso für die Resonanz der Akteure mit dem Publikum. Ich spiele gerne mit Worten und so habe ich entdeckt, dass die Zukunft wortwörtlich in der ZUsammenKUNFT steckt. Kultur ist ein unverzichtbarer Teil einer lebendigen demokratischen Gesellschaft und steht in ihrer Systemrelevanz dem Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungssystem in nichts nach. Kultur wirkt als Transmitter zwischen allen Bereichen des menschlichen Lebens. Die Leitplanken in Richtung einer positiven Zukunft symbolisieren für mich unter anderem die beiden Bücher „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch und „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. In diesem Korridor müssen wir auch die politische Debatte um die finanzielle Existenzsicherung der Kultur führen, denn Investitionen in die Kultur sichern eine lebenswerte Zukunft.
Die bisherigen Entwicklungen haben Hypothesen auf der Grundlage früherer Untersuchungen des Instituts für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) bestätigt: Unsicherheit in weiten Teilen des Publikums verbunden mit leicht verfügbaren und vielfältigen digitalen Alternativen führt zu häufig ungewisser Auslastung selbst der begrenzten Kapazitäten; die Resonanz auf digitale Angebote von Kulturinstitutionen ist sehr unterschiedlich, in der Konkurrenz zu aufwendig produzierten Angeboten im Streaming- und Gaming-Bereich können nur wenige technisch mithalten, Teilnehmerzahlen sind häufig relativ gering. Um nachhaltig einen gleichwertigen Platz neben den traditionellen Formen einzunehmen, müssen die digitalen Angebote Teil einer digilogen Gesamtstrategie sein, mit kontinuierlicher Content-Entwicklung, Aufbau der entsprechenden künstlerischen, kommunikativen und technischen Kompetenzen/Mitarbeiter, Ausbau der technischen Infrastruktur und Anpassung von Organisationsprozessen. Viele Institutionen suchen Lösungen allerdings vor allem in der Innensicht oder im Austausch mit ähnlichen Institutionen, selten in Partnerschaften und durch Lernen außerhalb der eigenen Disziplin oder gar im Bereich der Wirtschaft. Daneben gibt es Gegenbeispiele von großer Lern- und Handlungsfähigkeit – meist von Institutionen, die bereits vor der Pandemie aktiv und strategisch auf Strömungen wie die Digitalisierung oder die Ausdifferenzierung des Kultur-und Freizeitverhaltens reagiert haben und dafür mit anderen Institutionen oder Unternehmen kooperiert haben.
Schon vor der Pandemie gab es ein komplexes globales Thema mit existentieller Notwendigkeit lokaler Antworten zur Krisenbewältigung: die Erderwärmung und der damit verbundene Klimawandel. Für den Globalen Klimastreik am 20. September 2019 habe ich ein Transparent mitentwickelt, auf dem stand geschrieben: „Wir machen zusammen Halt.“ Niemand konnte ahnen, wie abrupt und radikal ein solches Haltmachen in einem ganz anderen Kontext überhaupt möglich sei. Die Corona-Pandemie mit der Gefahr des exponentiellen Wachstums von Ansteckungen hat uns dazu gezwungen. Haben wir die Zeit zum Nach-Denken genutzt oder auch zum Vor-Denken? Wir brauchen neue Konzepte des Zusammenlebens und des Wirtschaftens. Ich würde mir wünschen, dass wir noch stärker dazu bereit sind, hier etwas zu verändern. Bei den Schloss Fest Spielen richteten wir Anfang 2020 an unsere Künstlerfamilie und das Publikum drei Fragen: „Wo stehst Du? Was bewegt Dich? Wohin gehen Wir?“ Wenn wir aus Corona etwas lernen können, dann ist es, das gemeinsame WIR zu entdecken und unseren Narzissmus und Egoismus zurückzustellen. Die gute Nachricht: Ich habe viel Solidarität unter meinen Intendanten-Kollegen erlebt und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.
Hier würde ich zwei Bereiche hervorheben: Zum einen sollten Zielvereinbarungen oder Projektvorgaben zur Gewinnung und Bindung von Publikum („Audience Development“), heute häufig mit dem Konzept von „Diversität« verknüpft, angesichts der drohenden Erosion gerade auch in den Kernpublika nachjustiert werden. Programme wie zum Beispiel das 360° sollten im Sinne echter Diversität stärker ausbalanciert werden: Neben der derzeit im Mittelpunkt stehenden Integration unterrepräsentierter Personengruppen sollten für die Verankerung in der Bevölkerung insgesamt auch die Pflege des treuen und engagierten Kernpublikums und die Ansprache häufig eher unterhaltungsorientierter Gelegenheitsbesucher fokussiert werden. Aktivitäten sollten dabei auf empirisch ermittelten Verhaltensmustern und Präferenzen beruhen, sonst droht statt der angestrebten Integration einfach Desinteresse. Zweitens sollten Anreize gesetzt und Ressourcen bereitgestellt werden, um die Reichweite durch digitale Angebote zu erhöhen. Dabei sind Gesamtstrategien zu priorisieren, bei denen die Content- und Formatentwicklung in den Aufbau von Kompetenzen, technischer Infrastruktur und spezifischer Kommunikationsstrategien eingebettet ist. Das Programm „Neustart“ der KSB weist da in die richtige Richtung. Um Wissenstransfer anzuregen, sollten insbesondere Kooperationen mit technologischen Partnern (z.B. Software-/Games-Entwickler) unterstützt werden – angelehnt an „Tandemförderungen“ wie „Doppelpass“.
Was sich am dringendsten ändern muss, sind die lähmende Stagnation und das Festhalten an alten Prinzipien und Privilegien. Wir brauchen Mut zum Neuanfang. Die „Große Transformation“ bedeutet, große Ziele für eine nachhaltige gemeinsame Welt in allen Bereichen zu etablieren und systematisch umzusetzen: Keine Armut. Bildung und Kultur für Alle. Die Gleichheit aller Menschen, egal welcher Geschlechter und Herkunft kann und muss Realität werden. Der Planet Erde darf nicht weiter zerstört und ausgebeutet werden, sondern soll als Lebensraum und Heimat aller zukünftigen Generationen erhalten werden. Den Künsten kommt dabei die verantwortungsvolle Rolle als Katalysatoren dieses Wandlungsprozesses zu. Der Traum einer besseren Welt hat die Vereinten Nationen zum gemeinsamen Masterplan der Sustainable Development Goals als globale Agenda 2030 geführt. Ein wichtiger Kompass, der uns bereits seit vier Jahren in die Hand gelegt wurde. Wie ich persönlich dabei vorgehe? Ich nehme diesen Kompass ernst und suche leidenschaftlich gerne auch nach Wegen, die noch niemand gegangen ist. Es ist ein langer Weg, aber er führt uns vielleicht zum Ziel, wenn wir beginnen, ihn zu gehen. Als Intendant habe ich mich entschlossen, die traditionsreichen Ludwigsburger Schlossfestspiele als ein zeitgemässes Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit zu begehen und zu feiern. Dies bedeutet, Vielfalt, Zugänglichkeit und Regeneration konsequent zusammen zu denken.
Die digital unterstützte Arbeit ist noch stärker „angekommen“ – ich arbeite derzeit fast ausschließlich mit internetbasierten Forschungs-, Vermittlungs- und Moderationsmethoden. Die Potenziale dieser Technologien waren ja schon bekannt, nun haben sich die Rahmenbedingungen verändert, machen physische Kontakte zum Risikofaktor, beeinträchtigen sie oder schließen sie über juristische Regelungen gar aus. Dadurch ist der Bedarf nach möglichst intensiver digitaler Interaktion natürlich gestiegen. Die in dieser Zeit gewonnenen Erfahrungen werden sicher auch die zukünftige Arbeit prägen, hin zu einem Mix aus rein digitalen Methoden und Formaten, solchen, die auf physischer Begegnung und Interaktion beruhen, sowie hybriden Formen, die physischen mit digitalem Austausch verknüpfen.
Wir lernen, mehr im Moment zu leben und flexibel zu planen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, auf Entwicklungen zu reagieren, und brauchen dafür vor allem Verlässlichkeit der Finanzierung. Materielle Ressourcen sind notwendig, um das Personal und die Künstler zu finanzieren und durch das tiefe Tal der geringeren Einnahmen hindurch zu führen. Besonders hart trifft es die nicht-öffentlich geförderte Veranstaltungsbranche. Dringend müssen wir Zugänglichkeit zu einem breiten 360-Grad-Publikum herstellen. Musik und Tanz sind universelle Sprache, die alle Menschen verstehen, sie haben ihren Ursprung im rituellen und transformativen Akt. Beide Künste sind vergänglich und gleichzeitig in der Lage, die Zeit anzuhalten, sie geben uns eine Ahnung von der Ewigkeit – ein wunderschönes Paradoxon. Genauso oszillieren wir als Teile ständig zwischen der materiellen und der immateriellen Welt. Corona hat dafür unsere Sinne geschärft.
Es ist hinlänglich und kontrovers diskutiert worden, welche Bedeutung Kultur, präziser der Kulturbereich/-betrieb, grundsätzlich für gesellschaftliche Diskurse und Prozesse hat – dem ist in der hier gebotenen Kürze wenig hinzuzufügen. Politisch/organisatorisch bestätigt sich in der Krise positiv wie negativ Vertrautes: Das deutsche Kultur-(finanzierungs-)system erweist sich bisher als erstaunlich widerstandsfähig, Unterstützung und Rechtssicherheit wurden relativ schnell und partnerschaftlich bereitgestellt. Nur wenige Stimmen haben bisher die Situation dazu genutzt, das System grundsätzlich in Frage zu stellen. Ob dies in den Zeiten des Abbaus öffentlicher Defizite so bleibt, ist abzuwarten. Die einschneidende grundlegende Erkenntnis ist wohl, wie stark der bestehende Kulturbereich auf erprobten kulturellen Praktiken des physischen Kontaktes beruht – falls Corona und damit die Kontaktbeschränkungen auch nur annähernd bestehen bleiben, könnte dies im Kulturbetrieb ähnlich massive strukturelle Auswirkungen haben wie die Digitalisierung oder andere technologische Umbrüche.
Kultur schafft Gemeinschaft. Kultur spendet Trost. Die Künste öffnen geistige Räume. Die Künste stellen seelische Verbundenheit her. Es muss doch jenseits der Arbeit und Produktivität auch Raum und Zeit für Rituale geben, für Feste, die wir feiern. Als verantwortlicher Intendant der Schloss Fest Spiele möchte ich die drei Begriffe zum Tanzen bringen: Das Schloss, das Fest und die Spiele. In Zeiten von Corona gehen wir verstärkt in die Außenräume: Marktplatz, Schlosshof und Blühendes Barock bilden in Ludwigsburg einen spannungsreichen Dreiklang an sehr unterschiedlichen Räumen. Es ist phänomenal zu erleben, dass gerade in diesen leicht zugänglichen offenen Räumen ein Schlüssel zur Öffnung liegt. Wenn wir wirklich Schwellen abbauen wollen und die Künste nicht als Zeitvertreib für ein elitäres Bildungsbürgertum begreifen, sondern radikal als ein gelebter demokratischer Resonanzraum, dann müssen wir auch neue Orte bespielen.
Sicher kann die Bewältigung der Corona-Krise auch eine konkrete Form von bürgerschaftlichem Gemeinsinn schaffen, ein „Das haben wir gemeinsam überwunden!“, das in einer Zeit, in der sich in den sozialen Medien quasi autarke Resonanzräume ausdifferenzieren, von großem Wert wäre. Die Herausforderung für Kulturinstitutionen besteht dabei unter anderem darin, neben internem Krisenmanagement als handfester und integrierender Gestalter des öffentlichen Lebens zu agieren – und nicht vorrangig als Forderungssteller im Verteilungskampf um öffentliche Unterstützung. Ansatzpunkte in Form von „Good-Practice-Beispielen“ gibt es, von künstlerischen Formaten, auch im öffentlichen und im digitalen Raum, über den Aufbau digitaler Kompetenz und Infrastruktur bis hin zu branchenübergreifenden Partnerschaften mit Gastronomie und Einzelhandel für die Aufrechterhaltung des Lebens im öffentlichen Raum trotz Corona. Nun gilt es, dass diese guten Beispiele sich in der Breite durchsetzen. Als Beitrag dazu haben wir am IKMW ein eigenes Projekt aufgesetzt: Wir nehmen Auswirkungen und Strategien von Theatern und freien Gruppen in Deutschland auf und dokumentieren Best-Practice-Beispiele. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen zu integrierten digilogen (digital/analogen) Strategien erweitern die bewährten Praktiken durch zeitgemäße digitale wie hybride Ansätze und werden auch in der nach Corona sicherlich digitaleren Welt von Bedeutung sein. Ende November werden wir Ergebnisse vorstellen – selbstverständlich digital.
Wir befinden uns in einem Krieg gegen uns selbst. Der Mensch zerstört die Natur, die Umwelt, seinen Lebensraum. Wir brauchen eine doppelte Hinwendung zum „Terrestrischen“, wie der französische Philosoph Bruno Latour es fordert, und gleichzeitig zum „Menschlichen“. Daher habe ich vor vier Jahren gemeinsam mit Alexandra Mitsotakis, Irene Papaligouras und anderen Partnern das World Human Forum in Delphi gegründet. Mein Leben ist bestimmt durch die ständige Suche nach einem dritten Weg, einem Plan C. Wir müssen das Ökonomische, Ökologische und Soziale in Einklang bringen, oder besser: in einen wohlklingenden Dreiklang!