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Michael Spyres

Barockes Glück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Wenn die Staatskapelle im November traditionell auf Reisen geht, wird die Berliner Staatsoper zum Treffpunkt von Größen aus der Alte-Musik-Szene. Denn dann richtet sie die Barocktage aus, die 2021 im Zeichen Frankreichs stehen. Zur Eröffnungspremiere ist das Ensemble Le Concert d’Astrée aus Lille mit seiner Leiterin Emmanuelle Haïm angereist. Im Gepäck hat es die Oper „Idoménée“ von André Campra, einem hierzulande wenig Bekanntem. Doch im Paris des frühen 18. Jahrhunderts gehörte der 1660 in der Provence geborene Komponist zu den bedeutendsten Vertretern des Opéra-ballets und seine komödiantischen „Les fêtes vénitiennes“ waren 1710 der saisonale Publikumsrenner. Der kurz danach entstandene „Idoménée“ gehört zur Gattung der Tragédie en musique. Die Handlung kreist um den Kreterkönig Idoménée, der bei der Rückkehr aus dem Krieg Schiffsbruch erleidet, vom Meeresgott Neptun gerettet wird und ihm dafür den ersten Menschen, den er an Land trifft, opfern muss. Als dies sein Sohn Idamante ist, bittet er vergebens um Mitleid. Wahnsinnig geworden, tötet er den jungen Mann. Zurück bleiben zwei seelisch verletzte Frauen: die gefangene Trojanerin Ilione und ihre Rivalin Électre, beide in Idamante verliebt.

Ihre Traumata, emotionalen Verstörungen und Beziehungskonflikte will Àlex Ollé von der Truppe La Fura dels Baus in seiner zeitlosen Inszenierung sichtbar zu machen. Die beweglichen Plexiglaswände, mit denen Alfons Flores die Bühne ausgestattet hat, werden zu einem Spiegelbild der Gefühle. Videos, die Seestürme mit Ertrinkenden, düstere Schlossräume oder Feuersbrünste zeigen, visualisieren Träume und Erinnerungen der Figuren. Die Götter sind ihre Projektionen und deshalb identisch gekleidet. Idoménée findet seinen Gegenpart in Neptun, Électre in Venus und der personifizierten Eifersucht und an Ilione zerren Doppelgängerinnen mit Stricken als Symbol für ihre Zerrissenheit. Denn auch die Aktionen der energetischen Tanz-Compagnie Dantaz und des Chores sind Ausdruck vom Innenleben der Figuren.

Es sind teils starke Bilder, doch die wirkliche Kraft geht von der Musik aus. Affekte stimmlich ausloten, das kann die wunderbare Solistenschar: der noble Idoménée von Tassis Christoyannis, der feinstimmige Samuel Boden als Idamante und im Wechsel von Expressivität und Wohlklang Chiara Skerath als Ilione und Hélène Carpentier als Électre. Emmanuelle Haïm kennt das Stück genau und weiß Campras Stilmix aus französischen und italienischen Elementen zu verlebendigen. Mit ihren Händen modelliert sie ein Maximum an klanglichen Details und Farben, gibt dem Ensemble Impulse und atmet mit ihm.

Das musikalische Glück setzt sich drei Tage später beim Galakonzert zum 20-jährigen Bestehen von Le Concert d’Astrée fort. Auch Simon Rattle gibt sich die Ehre, doch es ist der Abend der Gründerin Emmanuelle Haïm, deren Vitalität auf ihre famosen Instrumentalisten und das erstrangige Gesangsdefilee überspringt. Umwerfend, in welche Basstiefen Andrea Mastroni dringt, mit welchem Furor Lea Desandre und Carlo Vistoli Koloraturen-Feuerwerke abbrennen oder Michael Spyres den stimmlichen Umfang seines Baritenors ausstellt. Natalie Dessay feiert ein exquisites Comeback und Sandrine Piau läutet das Finale mit einer berückend zelebrierten Händel-Arie ein. Die Zugabe: „Hallelujah“ – und danach frenetischer Beifall.

Karin Coper

„Idoménée“ (1712/1731) // Tragédie en musique von André Campra

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Dramatische Opernromantik

Madrid / Teatro Real (März 2021)
Bellinis „Norma“ in dualer Deutung

Madrid / Teatro Real (März 2021)
Bellinis „Norma“ in dualer Deutung

In Spanien begegnet man der Corona-Krise mit Ruhe, Phantasie und einem gut ausgearbeiteten Hygienekonzept – und füllt so das Teatro Real mit 65 Prozent der Gesamtkapazität. Das Madrider Publikum weiß die Kulturpolitik der Regierung unter schwierigen Bedingungen zu schätzen und dankt mit einer ausverkauften Premiere von Vincenzo Bellinis „Norma“. Ein Blick von Berlin, Paris und Wien könnte sich lohnen …

Der australische Regisseur Justin Way sieht eine interessante Parallele zwischen dem Stoff der „Norma“ und dem politischen Geschehen in Norditalien zur Zeit ihrer Uraufführung an der Mailänder Scala 1831. Nach der Niederlage Napoleons war Norditalien unter habsburgische Herrschaft gekommen, was dort die ersten nationalistischen Bewegungen provozierte. So lässt Way das Stück in einem alten italienischen Theater spielen, in dem die Kompagnie gerade „Norma“ probt. Dem Publikum zweigt sich auf diese Weise eine Dualität Primadonna/Norma, Habsburger/Römer und Chor/italienische Patrioten. Dabei hält Way auch eine romantische Ästhetik für geeignet, ein derzeit wichtiges Thema anzusprechen: Soll sich ein Volk gegen seine Besatzer auflehnen oder nicht? Charles Edwards kreiert dazu ein Theater im Theater, mit einem mehrrangigen Zuschauerblock an einer Seite, aus dem die Habsburger dem Treiben der urwüchsigen Gallier bisweilen zusehen, und einer altmodisch-romantischen Ausstattung aus der Theaterpraxis jener Zeit sowie den entsprechenden Kostümen von Sue Willmington. Nicolás Fischtel beleuchtet das Ganze mit dem warmen unfokussierten Licht jener Zeit. In diesem Spannungsfeld findet mit guter Personenregie der für beide unlösbare heimliche Konflikt zwischen Norma als Druidenpriesterin und Pollione als habsburgischem Besatzer statt. Am Schluss gehen sie gemeinsam in das in Flammen aufgehende Theater – ein Finale wie in Wagners „Götterdämmerung“. Auf der anderen Seite versteht es Way aber auch, die dem traditionellen Frauenverständnis zu jener Zeit weit vorauseilende Persönlichkeit Normas glaubhaft darzustellen. Sie ist nicht nur bedeutende Druidenpriesterin und Sprecherin der Götter, sondern auch Liebhaberin, Mutter, verlassende Gattin, Freundin, Richterin, aber auch Ausführende sowie Opfer zeremonieller Praxis. Damit war Norma zu ihrer Zeit schon eine moderne Frau, stark und ebenso wagemutig wie aktiv im Treffen von Entscheidungen.

Das bildet sich auch im Gesang der meisten Protagonisten ab, der nicht unbedingt mit den Prinzipien des Belcanto zu vereinbaren ist, der gerade mit der „Norma“ große Blüte erreichte. Yolanda Auyanet betont mit einem kräftigen und charaktervollen Sopran die Intensität der Emotionen der Titelpartie, bisweilen bis an ihre stimmlichen Grenzen stoßend. Clémentine Margaine als Adalgisa überzeugt mit einem klangvollen und variationsreichen Mezzo, allerdings nicht immer verständlich. Michael Spyres wirkt als Pollione etwas steif, kann aber mit seinem kräftigen, wenn auch nicht glänzenden Tenor gut mithalten. Roberto Tagliavinis Bass fehlt der für Belcanto wünschenswerte Balsam. Marco Armiliato am Pult des Orquesta Titular del Teatro Real sorgt nicht immer für die Feinheiten und die Dynamik der Musik Bellinis und betont immer wieder auch die dramatischen Momente. Der von Andrés Maspero geleitete Chor des Teatro Real singt mit Maske ausgezeichnet und wird von Jo Meredith auch effektvoll choreografiert.

Klaus Billand

„Norma“ (1831) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini