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Wie realistisch ist real?

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

Sekt und Häppchen sucht man in Serge Dornys Einstandspremiere mangels Pause vergebens. Den „großen Brocken“ gibt es trotzdem – direkt von der Bühne, mit fulminanter Wucht und beklemmender Intensität, musikalisch auf höchstem Niveau. Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ – das Werk eines 22-Jährigen – wurde bereits kurz nach der Uraufführung 1930 in Leningrad Opfer politischen Drucks. Dass für die Erstaufführung an der Bayerischen Staatsoper – in Koproduktion mit der Novaya Opera Moskau – Regisseur Kirill Serebrennikov aus dem politischen Hausarrest per Videoschalte agiert, verleiht dieser Inszenierung ganz besondere Brisanz. Die absurde Novelle Nikolai Gogols (1836) erzählt von einer Welt, in der Realität und Fiktion in Traumlogik koexistieren. Serebrennikovs beklemmende Szenerie des kalten Petersburger Winters, immer höher werdender Schneeberge, von Räumfahrzeugen mit grellen Scheinwerfern, Schlagstöcken und Absperrgittern zeigt deutliche Bezüge zu Putins Russland – grellbunte Neon-Folklore auf grau-trister Bühne inklusive. Einer, der es wissen muss, setzt auf düstere Bilder und macht die Nase zum sozialen Status: Je mehr Nasen eine Person im Gesicht trägt, desto angesehener ist sie. Die per se dadaistischen Absurditäten der Oper in Form, Sprache und Intention sowie eine Umkehr der Wirkungsweisen von Text und Musik macht sich Serebrennikovs Regie zu eigen. Er teilt die Welt in Täter und Opfer und zeichnet das groteske Bild einer spießigen und korrupten Gesellschaft in Polizeiuniform, in der sich der kleine Beamte Platon Kusmič Kovaljov nicht mehr zurechtfindet, weil ihm seine Nase abhandenkam und nun als Staatsrat ein Eigenleben führt. Die Angst vor dem Anderssein, die Angst vor Strafe und die Vermischung von Absurdität und Realismus bis hin zum grenzenlosen Denken sind die geistigen Pfeiler der Inszenierung. Wenn am Ende die Nase zwar zurückkehrt ins Gesicht des Besitzers, dieser sich trotzdem in trostloser Plattenbau-Umgebung dem Alkohol hingibt und selbst das letzte Zeichen der Hoffnung – ein roter Luftballon in der Hand eines Kindes – mit lautem Knall zerplatzt, ist das vielleicht auch ein Statement des inhaftierten Regisseurs zur Zukunft Russlands.

Dem Bayerischen Staatsorchester in quasi Kammermusikbesetzung steht ein monumentaler Gesangs-Solistenapparat von 58 Rollen gegenüber. Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski – mit dem Repertoire bestens vertraut – erweckt Schostakowitschs Komposition in allen Facetten zum Leben. Die Zwanglosigkeit im Umgang mit Logik, aber auch eine gewisse Trostlosigkeit wird in der Musik spürbar. Grandios besetzt: die vielen Solistenpartien, allen voran Boris Pinkhasovich als Kovaljov und Doris Soffel als alte Dame. Serge Dorny hätte einen entspannteren Einstieg in seine Intendanz wählen können – aber im Jahr 2021 kaum einen passenderen. München setzt also auf Musik-Theater. Man darf gespannt sein.

Iris Steiner

„Nos“ („Die Nase“) (1930) // Oper von Dmitri D. Schostakowitsch

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Mord-s-Mozart-Collage

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2021)
Musikdramatisches Ausrufezeichen mit „Mozart muss sterben“

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2021)
Musikdramatisches Ausrufezeichen mit „Mozart muss sterben“

Zum Ende eines wahnwitzigen Viren-Theater-Jahres noch einmal so richtig aufdrehen: Genau das hat Intendant Josef E. Köpplinger seinem Haus musikdramatisch verordnet. Mozarts prall volle 36 Lebensjahre, die Gerüchte um diese Kürze, vor allem aber sein musikalischer Gefühlskosmos geben da mehr als genug für neunzig pausenlose Minuten her.

Die offene, leere Bühne bis an die Brandmauer; Arbeitslicht; ein paar wenig tätige Bühnenarbeiter; dann die „Beginn“-Ansage der über die Bühne eilenden Abend-Inspizientin samt ihrem prüfenden Blick in den Orchestergraben – und im Zentrum des halbgeschäftigen Nichts: ein leerer Rollstuhl. Nach Auftrittsaufforderung wankt ein gebrechlicher Mann in den Stuhl und brabbelt in einer Suada von seinem Handel mit Gott, dieses Wunder Mozart getötet zu haben. Es ist im Jahr 1823 der alte Antonio Salieri, umspielt von einem „Introitus“-Häppchen seines Requiems, umtänzelt von zwei „Venticelli“, zwei damaligen Klatschverbreitern, die das Gerücht zu einem „Shitstorm“ weiten und zu Allegro-assai-Klängen aus Salieris „Sinfonia veneziana“ diesen in den agil-intriganten Hofkomponisten der Wiener 1780er Jahre bis zu Mozarts Tod verwandeln: gepflegte Allonge-Perücke, glitzer-bestickter Barock-Gehrock über dem Rüschenhemd – und ein feinsinniger Theatraliker wie Erwin Windegger macht daraus ein Kabinettstück mit Sahnehäubchen.

Dann beginnt die Drehbühne zu kreisen, faltet sich auf, bildet kleine Bühnenpodeste – und das hochklassige Handwerksniveau von Choreografin Ricarda Regina Ludigkeit und Regisseur Köpplinger zaubert in den nur durch farbige Leuchtröhren ein bisschen wechselnden Raum eine Handlungs-Musik-Collage: temporeich, spannungsreich, stimmungsreich – bestes Musiktheater. Der Autor Köpplinger hat dabei aus Peter Shaffers „Amadeus“, Alexander Puschkins „Mozart und Salieri“, historischen Zeitungsmeldungen und eigenen verbindenden Sätzen bis hin zum grässlichen Gacker-Lachen des enfant terrible Mozart aus Miloš Formans Film eine Leidenstour des gut Begabten gegenüber dem Genie gemacht – von Peter Neustifters ungebärdigem Mozart über Florine Schnitzels leidgeprüfte Constanze bis zu Frank Bergs steifem Kaiser Joseph bestens gelungen.

Das aber auch, weil vom Orchestergraben aus Anthony Bramall in 21 Arien, Ensembles und Orchesterausschnitten den faszinierenden Kosmos von Mozarts Kompositionen ausbreitet. Ja, da ist nahezu jede Lebenssituation, Gefühlsschattierung und mal lustiges, mal abgründig fatales Ereignis in Töne und Expression verwandelt worden, immer wieder Leichtigkeit mit Tiefgang. Zehn Solisten des Hauses wechseln von Donna Anna über Cherubino, Konstanze, Sarastro, dem Mandolinen-begleiteten Ständchen des Don Giovanni zu Tamino und Figaro, von Jennifer O’Loughlins Koloraturen zu Mária Celengs Elvira-Furor. Bei den Herren geht der Abend-Lorbeer an Daniel Gutman, der nicht nur als Leporello die Mandoline zu Giovannis Ständchen live spielt, sondern als Figaro mit herrlich dunklem, kernigem und voluminösem Bassbariton Cherubino die ironisch-böse Realität des künftigen Soldaten-Daseins vorsingt. Am Ende der gekonnt auf Abstand agierende und dennoch blitzsauber singende Chor des Hauses, das Solistenensemble im „Lacrimosa“ und dann noch die Maurische Trauermusik – dazu Salieris Verzweiflung über die eigene, nur gediegene Mittelmäßigkeit – und dann frenetischer Beifall. Zum Saisonende ein herrlich heftig pulsierendes Lebenszeichen des Theaters – eine Produktion, die die Herbstsaison gleich höchst reizvoll beleben wird.

Dr. Wolf-Dieter Peter

„Mozart muss sterben. Eine theatrale Behauptung“ (2021) // Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Antonio Salieri, zusammengestellt von Josef E. Köpplinger in Anlehnung und unter Verwendung von Zitaten aus Peter Shaffers „Amadeus“, Alexander Puschkins „Mozart und Salieri“ sowie Zeitungsmeldungen und Zeitzeugenberichten aus den Jahren 1781 bis 1825

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Um Himmels willen

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

München / Gärtnerplatztheater (März 2021)
Dan Goggins hochmusikalische Nonnen erobern mit „Non(n)sense“ die Bühne

Nein, es müssen weder Mahalia Jackson oder Aretha Franklin aus dem Gospelhimmel herabsteigen noch Whoopi Goldberg „Sister Act“ wiederbeleben. Im Stream des Gärtnerplatztheaters erwies es sich jetzt nämlich als höchst unterhaltsam, gleichsam die Mütter dieser „sisters“ zu erleben. Dan Goggin hat viele Einzelideen und Songs 1985 zu einem Broadway-Revuetheater zusammengefügt, aus dem ein jahrelanger Dauerbrenner wurde und der dann letztlich den Filmhit anschob. „Dies Wort in Gottes Ohr: Nonnen haben auch Humor!“, lautet der Grundtenor – äääh, -sopran. Den müssen sie „herauslassen“, denn eine Schwester hat mit ihrer Bouillabaisse fast das ganze Kloster vergiftet. Es war eben nicht mehr das „jüngste“ Gericht … Vier tote Schwestern lagern nun in der Kühltruhe, weil das Geld für die Beerdigung nicht reicht – eine Benefizveranstaltung soll es richten.

Dafür haben „Vestiarischwester“ Judith Leikauf und „Klosterbaumeister“ Karl Fehringer einen hybriden Barockaltar auf die Bühne gestellt. Doch Amoretten sind schon nackte, halb mit Tüchern bedeckte Showgirls. Oben auf der Empore hat ein fünfköpfiger „Hortus musicus“ in Nonnentracht Platz genommen, angeführt von „Klosterkantor“ Andreas Partilla – und die lassen allerlei irdisch-fetzige Klangwölkchen sich auftürmen, dann auch die Sinne umsäuseln und die Füße mitwippen. Der Tabernakel ist ein von bunten Lämpchen umrahmtes Zirkus-Entrée, aus dem erstaunliche „Wunder“ auftreten, denn auch die Altarbilder links und rechts sind wundersam drehbar und wechseln von Heiligenbildchen zum muskulösen Bodybuilder Steve Reeves. Dass Farblichter-Ketten auch die Proszeniumslogen verdecken, signalisiert schon „Buntes“ …

Das folgt dann auch für zwei Stunden vom „Theatralischen Liturgen“ Josef E. Köpplinger, der die laienhafte Selbstdarstellungslust der fünf übrig gebliebenen Nonnen, ihre verborgenen Talente, aber auch Eifersüchteleien mal nuancenreich, mal deftig inszeniert. Dass die reife Oberin Regina (Dagmar Hellberg) und ihre Vize Maria Hubert (Tracey Adele Cooper) locker mithalten, wenn die jüngeren Schwestern Robert Anne, Maria Amnesia und Maria Leo eine gekonnt kleine Steppnummer hinlegen, ist dem natürlich „sittsamen“ Training von Ricarda Regina Ludigkeit zu verdanken, die auch die sonstigen Tanztalente der be-rock!-ten Schwestern amüsant entwickelt hat. Über alle mal herrlich schräg-unbedarfte, mal sehnsüchtig tiefverborgene, jetzt losbrechende „Showstar“-Anbetung hinter Klostermauern sind die komödiantischen Talente der „Schwestern“ Florine Schnitzel, Julia Sturzlbaum und Frances Lucey zu bestaunen. Ein Wirbel von „Elvis lebt“ über „Die sterbende Nonne“ zu „Wege zur unbefleckten Empfängnis“ und Zarah Leanders „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ samt Koloraturbrillanz – dafür kein „Pinguin“-Nonnenwitz, aber von „Winnetous Schwester“ über „Heidi“ zu „Sternenkrieg-Prinzessin Leia“ und „Jurassic Park“ viel Wortwitziges (Textbearbeitung ebenfalls „Liturg“ Köpplinger). Die finanzielle Rettung am Ende kommt nicht vom Filmprojekt „Nonnendämmerung“, nicht vom Schwestern-Kochbuch „BJM-Backen mit Jungfrau Maria“ samt Rezepten für „Sauce Catholique“, „Schlesisches Himmelreich“, „Rostbratwurst Hlg. Johanna“ und Nachspeise „Judasküsschen“, sondern von – nein, das sei noch nicht verraten! Diese Nonnen bieten allerlei reizend-weibliche Überraschungen, die das hoffentlich kommende „volle Haus“ toben lassen wird. Der theatralisch-heilige Geist war mit Euch!

Wolf-Dieter Peter

„Nunsense“ („Non(n)sense“) (1985) // Musical Comedy von Dan Goggin

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 3. April 2021 über die Website des Theaters abrufbar.

Ein sonderbar Ding …

München / Bayerische Staatsoper (März 2021)
Barrie Kosky inszeniert den „Rosenkavalier“

München / Bayerische Staatsoper (März 2021)
Barrie Kosky inszeniert den „Rosenkavalier“

Um in München eine uralte „Rosenkavalier“-Inszenierung mit Kultstatus von Otto Schenk zu ersetzen, braucht es nicht nur Mut, sondern auch einen ambitionierten und perfektionistischen Regie-Könner wie Barrie Kosky. Dazu das Bayerische Staatsorchester, das auch in pandemiebedingt auf 43 Köpfe reduzierter Stärke in der Instrumentierung von Eberhard Kloke und unter der Leitung des designierten Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski einen kammermusikalisch transparenten Klang beisteuert. Vor allem aber braucht es eine vokale Deluxe-Besetzung, die das Schmuckstück von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal 110 Jahre nach der Dresdner Uraufführung so zum Leuchten bringt, dass einem selbst vor dem Bildschirm noch der Atem wegbleibt. Allesamt nutzen diesen speziellen Strauss-Klang durchweg für ein Fest der Stimmen.

Das gilt zuerst für die drei Damen an der Spitze des Ensembles, allen voran die durchweg intelligent gefühlvolle und hochsouveräne Marlis Petersen mit ihrem Marschallinen-Debüt. Samantha Hankey hebt sich mit ihrem androgynen Octavian vokal dagegen ab und Katharina Konradi vervollständigt mit betörend jugendlicher Klarheit dieses berühmte Damen-Terzett. Wenn sich diese drei zusammenfinden, ist das eine vokale Sternstunde. Passend dazu ist Christof Fischesser ein Ochs von vitaler Prägnanz und Johannes Martin Kränzle der souveräne Faninal. Weil auch die übrigen Rollen durch die Bank vorzüglich besetzt sind, ist ein musikalisches Glanzstück zu vermelden.

Für seine Inszenierung spielt Kosky metaphorisch mit der Zeit, „dem sonderbar Ding“, und überblendet damit einen Perspektivenwechsel. Im ersten Akt nimmt er die der Marschallin ein, im zweiten die von Sophie. Der dritte Akt wird zu einer Inszenierung von Octavian. Im düsteren Schlafzimmer der Marschallin ist nur der Auftritt des Sängers ein Barockglanzlicht. In der übervollen Gemäldegalerie bei Faninals wird das Auftauchen der silbernen Prunkkutsche samt Octavian und Silberrose zum Coup. Den dritten Aufzug verlegt Kosky vom Vorstadtbeisl in ein Vorstadttheater. Hier inszeniert Octavian den Ochs aus dem Stück, um dann gemeinsam mit Sophie wortwörtlich gen Himmel zu entschweben. Als optischer Running Gag geistert ein halbnackter gealterter Cupido durchs Stück und bricht am Ende den Zeiger aus der großen Standuhr, auf deren Pendel sich auch die Marschallin einmal sinnig schaukelt. Kosky setzt in seiner Inszenierung auf die Nahaufnahmen seiner Protagonisten – und hat dabei die richtigen Verbündeten. Dieses ganz besondere, zauberhafte Als-ob-Wien aus der Zeit Maria Theresias als Ganzes bleibt da beinahe auf der Strecke und so vor allem eine klingende Erinnerung.

Roberto Becker

„Der Rosenkavalier“ (1911) // Komödie für Musik von Richard Strauss in einer Bearbeitung von Eberhard Kloke

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand bis 19. April 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

Nuancenreiches Welttheater

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

Ja, es ist schon toll, wenn über einhundert Mann Wagners „Walkürenritt“ oder den „Trauermarsch“ hinfetzen. Doch dann gibt es die eine Künstlerin auf der weiten, leeren Bühne des Münchner Nationaltheaters, die die ganze Welt erstehen lässt. Der Rezensent hob am Ende sein Glas und verneigte sich vor dem Bildschirm …

Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte irgendwie überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub; der Teufel bittet um drei Tage Geigenunterricht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch; durch teuflische Täuschung werden daraus drei Jahre; niemand im Dorf erkennt den Soldaten und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter; enttäuscht nutzt der Soldat den Buchzauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe; doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen die kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen; nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf; als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Teufel. „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“

Was moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute. Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße des ungenannt bleibenden Szenikers im Theaterrund völlig verzichtbar. Zwar blieben Norbert Grafs kleine Tanzeinlagen ebenfalls belangloses Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte oder mit erhobenem Arm eine hohe Klarinettenlinie beschwor, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre: geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige – stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts bemühtem Theoriebau so etwas wie „epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört“ als Assoziation ein. Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung – ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon.

Da stand auch nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken – und beschwor: ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, liebevolle Prinzessin und vermeintlich souveränen reichen Mann, final tobenden Teufel … und zahllose weitere Nuancen als fesselnde Klangdramatik – ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein: Beschwörung durch situativen Klang und aufgeladene Betonung – und Welt und Mensch sind imaginativ sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas heben und tief beeindruckt danken: für ein singuläres Kabinettstück, einen „Kunst-Brillanten“, der lange weiterstrahlt … und dann zurück in unsere Welt: eine Aufzeichnung auf DVD verdient!

Wolf-Dieter Peter

„L’histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“) (1918) // Igor Strawinsky

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 17. Februar 2021 für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 4,90 Euro.

Heillos Inkonsequentes gegen Romantik

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

Ein besonderer Abschied wäre möglich gewesen: In der 1990 gescheiterten „Freischütz“-Neuinszenierung donnerte im Nationaltheater der damalige Schauspieler Klaus Bachler die tödlichen „Freikugel“-Bedingungen Samiels ins Theaterrund. Jetzt hätte der gerne als Erzähler oder Vorleser auftretende Intendant Nikolaus Bachler in seiner letzten Saison nochmals … doch der von ihm engagierte Regisseur sah alles anders.

Der weiße Schimmel „Regietheater“ führt in seinen besten Auftritten bestürzende, faszinierende und horizontbereichernde Werksichten vor. Dafür stand Dmitri Tcherniakov lange Zeit. Als Künstler im 21. Jahrhundert lehnt er überirdische „Freischütz“-Gegebenheiten wie Gottesglaube und Eremiten, Teufelspakte und Samiel ab. Er siedelt die Handlung um Probeschuss, treffsichere Kugeln und allerlei Spuk-Brimborium im Hier und Heute an. Und muss also viel „in die Moderne übersetzen“: neue Texte für die dann stummen Figuren über der Bühne.

Als sein eigener Bühnenbildner hat er als Einheitsbild den hochgelegenen Veranstaltungssaal eines schicken Hotels gewählt. Dessen hintere Holzlamellenwand lässt durch Drehen der Segmente in einen weiteren Saal blicken, dahinter Hochhausfassaden. Im vorderen Saal feiert ein Oligarch oder Boss (imposant mit dicker Havanna Bálint Szabó) mit einer Business-Society ohne Masken und Abstand (tapfer klangschön der Staatsopernchor; Einstudierung: Stellario Fagone), bedient von Hotelpersonal mit Maske; man säuft Bier aus der Flasche. Der Probeschuss besteht darin, aus dem Hotelfenster wahllos einen Passanten abzuknallen. Dafür kommt Tcherniakovs zweite Neuheit abermals zum Einsatz: Auf der schwarzen Leinwand oberhalb blicken wir mit Max durchs Zielfernrohr und sehen dann bei Kilians Schuss das Gehirn des Getroffenen spritzen – erst nachher wird vorgeführt, dass das ein Fake-Filmchen war. Damit wir auch verstehen, dass Max ein Weichei ist, läuft er in einer ärmlichen Strickjacke herum, Typ Oberbuchhalter. Diesen panischen Normalo schleift Kaspar, ein wohl traumatisierter Kriegsheld, später in den abgedunkelten Saal als „Wolfsschlucht“ in einem Plastiksack herein. In einer Ölsardinendose mixt er diese speziellen Kugeln und ballert damit lustvoll herum. Da fehlt jegliche Horror-Atmosphäre. Einzig beeindruckende Regie-Idee für Kaspar, die der kernig-böse Bariton Kyle Ketelsen auch bewundernswert umsetzt: Aus seinem Trauma heraus antwortet er als „Samiel“ mit gepresst abgedunkeltem Bass sich selbst und beschwört sein Ende.

Der ansonsten dominierenden szenischen Enttäuschung entsprechend zieht sich aber Agathe in eben diesem Saal – und nicht in einer Luxussuite – zur Hochzeit um. Woher Ottokar kommt, bleibt unklar, erst recht der Auftritt des Eremiten. Dafür spielt all das in halbhellem Nachtblau – also wohl nur in Max’ neuem Trauma …? Doch da war schon klar, dass Tcherniakovs Werksicht in sich völlig inkonsequent und verkorkst modernisiert war. Da retteten auch die auf die Filmleinwand projizierten neuen Zwischentexte nichts.

Trost für die pausenlos gestreamte Aufführung kam aus dem auf Abstand sitzenden Staatsorchester unter Antonello Manacorda. Die auf gute Übertragungsqualität zielende Aussteuerung ließ die Besonderheiten der Orchesterfassung von Eberhard Kloke nicht so recht erkennen. Doch Manacorda vermied alle spätromantische Aufladung der Emotionen, sondern bezog den Gesamtklang auf die damals lebenden Beethoven und Schubert: schlank, klar, straff, melodieselig wo angebracht. Darin folgte ihm ein exzellentes Solistenensemble: neben dem fiesen Kaspar von Ketelsen der tenoral fast zu gesund strahlende Max von Pavel Černoch; aus Ännchen hatte Tcherniakov eine zweite Tilda Swinton geformt, die auch noch eine lesbische Beziehung zu Agathe andeuten musste – aber Anna Prohaska sang das einfach strahlend weg. Sie alle überragte Golda Schultz: Ihre Agathe klang nach Sopran-Sonnenschein-Gold, dabei weich, mühelos geformt und herzenswarm – eine Verneigung wert. Ansonsten: Auf Nimmerwiedersehen!

Wolf-Dieter Peter

„Der Freischütz“ (1821) // Romantische Oper von Carl Maria von Weber

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 15. Februar 2021 für 30 Tage kostenfrei auf Staatsoper.TV abrufbar.

München ein bisschen aufrütteln

Sir Simon Rattle übernimmt ab Herbst 2023 Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Sir Simon Rattle übernimmt ab Herbst 2023 Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

von Wolf-Dieter Peter

Sir Simon Rattle
(Foto Oliver Helbig)

„Aber bitte mit Sahne …“ gilt so in etwa für das Münchner Kultur-Selbstverständnis. Auch wenn Berlin Bundeshauptstadt ist, die dortigen Philharmoniker schon Weltklasse sind und ein immer noch fabulöses Konzertgebäude bespielen: München kann sich mit Mozart-, Wagner-, Strauss-, etlichen anderen Uraufführungen und seinen Orchestern durchaus ebenfalls in die Weltliga der Musik einreihen. Deshalb ist traditionell das Beste gerade gut genug.

Reaktion eins: Wenn man einen Maazel, Celibidache, Levine oder Mehta in der Stadt hatte, wenn man die derzeit wohl herausragende Begabung – einen Kirill Petrenko – an Berlin abgegeben hat, dann muss nach dem Tod von Mariss Jansons etwas „Großkalibriges“ den seit einem Jahr verwaisten Chefsessel des BRSO einnehmen. Schließlich kam ein Weltstar wie Leonard Bernstein zu seiner „Tristan“-Einspielung eben hierhin – und deutlich weniger glamourös, aber von selten anzutreffender Tiefe und Herzenswärme war auch die Ära des unvergesslichen Rafael Kubelík als BRSO-Chef. Ein Konzert unter Kubelík mit Beethovens 9. Symphonie soll 1970 in Liverpool einen prägenden Eindruck hinterlassen haben: Der Teenager Simon wollte genau so ein Dirigent werden.

Sir Simon Rattle und das BR Symphonieorchester
Sir Simon Rattle und das BR-Symphonieorchester (Foto Astrid Ackermann)

Reaktion zwei: „Rattle-di-tattle“ … na, da kommt einer, der wird dem stets gediegenen, mitunter auch selbstgefälligen Münchner Musikleben mal so etwas wie das Tanzen beibringen! Der 1955 geborene Liverpooler Simon Rattle hat schon in seiner ersten Chefposition beim zunächst nur regional bekannten Birmingham Symphony Orchestra internationales Aufsehen erregt. Seine von 2002 bis 2018 – also ganze 16 Jahre – währende Chef-Periode bei den Berliner Philharmonikern führte das vor, was München jetzt guttun wird: Neugier über gängige Repertoirebereiche hinaus – siehe seine Videobox „Musik im 20. Jahrhundert“. Ein Musizieren, das nicht auf emotionale Überwältigung zielt, sondern auf feine Klangreize und Durchhörbarkeit, dazu die Freude an Monumenten der Klassik – das zeigen Rattles Einspielungen der ersten zwei Werke aus Wagners „Ring des Nibelungen“ mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Vor allem aber „Kommunikation über Grenzen hinaus“: Rattle spielte mehrfach Filmmusik ein, er dirigierte zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London, initiierte ab 2002 mit den Berliner Philharmonikern das Projekt „Zukunft@BPhil“, mit dem Kinder an Musik herangeführt wurden, gipfelnd in dem Tanzprojekt auf Strawinskys „Sacre du Printemps“ sowie mehrfach preisgekrönt verfilmt als „Rhythm is it“. Auf dieser kommunikativen Schiene – niederschwellig erstklassige Kunst zu vermitteln – sollte München also einiges erwarten. Außerdem kann das internationale Renommee, mit dem Rattle antreten wird, der problem- und jetzt auch finanziell belasteten Situation um einen neuen Münchner Konzertsaal-Bau nur zuträglich sein. Schon einmal hat der „british style“ um Sir Peter Jonas Münchens Musikleben in der Oper eine singuläre Blüte beschert. Das als Omen genommen: Welcome Sir Simon!

Liebestaumel kalt gestoppt

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2020)
„Falstaff“-Neuproduktion feiert im Stream Premiere

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2020)
„Falstaff“-Neuproduktion feiert im Stream Premiere

Endlich einmal neo-feudale Verhältnisse: vor sich nicht werkgerechten Xeres, sondern eine gute Flasche spanischen Wein; ein Teller mit vielerlei Häppchen; legere Kleidung; ein Stuhl mit Armlehnen und entspannendem Kippeffekt – und zu alldem Verdis „Falstaff“ schön laut und oft visuell ganz nah gerückt… so war der heruntergekommene „Ritter von Einst“ feucht-frugal am mittelgroßen Bildschirm und mit gutem Ton aus der Stereoanlage zu erleben.

Erst die geplante Festspielpremiere im Sommer, dann die Verschiebung auf die zweite Spielzeiteinstudierung im November – alles durch den rigorosen Kultur-Lockdown unmöglich. Jetzt also „Staatsoper.TV“. Das gestochen scharfe Bild zeigte Dirigent Michele Mariotti, der mit Maske ans Pult des hochgefahrenen, weit auseinander sitzenden Staatsorchesters kam. Dezentes Begrüßungsgetrampel, dann Maske ab und los fegte der Protest des nicht mehr verkaterten Dr. Cajus – im edel holzgetäfelten Säulengang eines Casinos, benachbart etwa zum „Caesars Palace“ in Las Vegas. In diese Welt hat die slowenische Schauspielregisseurin Mateja Koležnik die ganze Handlung verlegt. Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt baute hinter dem Säulengang eine wechselnde Anzahl von bühnenhohen Türen, die Blicke in Räume mit Spieltischen samt Gewinnern und Verlierern, betrunken, spielsüchtig oder auch verzweifelt gewähren. Sexy Bunnys mit Bauchläden trippeln umher; Alice Ford, Tochter Nannetta und Meg Page sind aus „Dallas“ oder „Denver“ eingeflogen. Hinter den Türen ihrer Suiten stehen mal 200 Paar Schuhe à la Diktatorengattin Marcos oder auch ein Riesenfach mit Klopapier (Ah! die Staatsoper hat den Engpass verursacht!) und natürlich Stangen voller edler Kleider – alles im Synthetic-Look vergangener Jahre, grelle Farben und Muster, aber chic (Kostüme: Ana Savič-Gecan). Dass diese Ladies Falstaff in ihren Liebesbriefchen jeweils einen roten und einen blauen Slip schicken, an denen Falstaff herumschnuppert – naja …!? Großbürger Ford (kantig: Boris Pinkhasovich) ist in dieser Welt eher ein Finanzdirektor mit Mafia-Aura und Pelzmantel, seltsamerweise mit dem ja eigentlich verhassten Fenton (lyrisch gut: Galeano Salas) als Sekretär samt Aktentasche. Säulen, Türen und befremdlicherweise ein hoch oben gelegenes enges Fach bieten dem Liebespaar Nannetta-Fenton allerlei „bocca bacciata“-Möglichkeiten.

Hier wurstelt sich der einstige „Gentleman“ Falstaff mit seinen zwei heruntergekommenen Kumpanen so durch: erst Ranschmeißen und dann Ausnehmen von Vergnügungssüchtigen. War Wolfgang Koch bislang ein Wotan, Barak oder Hans Sachs im Schlurf- und Schmuddel-Look, so präsentiert er sich jetzt vom Schlafanzug über Morgenmantel, vom Schnürbauch bis zum Ausgehanzug im Designer-Look und locker gewellter Frisur – mehr als in anderen Inszenierungen eigentlich ein baritonal runder Partner für die quicklebendige Mrs. Quickly von Judit Kutasi und ihren schön dunklen Ranschmeiß-Tönen. Die Alice von Ailyn Pérez bietet dafür blühende Sopran-Schwelgereien. Für Tochter Nannetta beschwört Elena Tsallagova in glitzernder Korsage mit Silbersopran wirklichen Elfenzauber im Schlussbild. Dafür fahren alle Türen weg, die Säulen stehen für den Wald und als Elfen tänzeln die eingeladenen Girls aus den „Folies Bergère“ (oder sind es die modernisierten „Ziegfeld Girls“ aus den 1920ern?) mit weißen Federflügeln herein, ehe schwarze Gangster den anfangs gehörnten, dann in schwarzer Unterwäsche und Strapsen liebesorientierten Falstaff piesacken.

Dirigent Michele Mariotti hatte das verkleinert wirkende Staatsorchester zu schlankem, hellem und temporeichem Spiel animiert – was die Tontechnik sehr gut durchhörbar aufnahm. Das Evisco-Bild-Team um TV-Regisseur Christoph Engel fing das alles gut ein, präsentierte in der Pause Fahrten über die vergoldeten Rang-Brüstungen und zeigte dann den abschließenden Knalleffekt in Mateja Koležniks Inszenierung: Blackout im Wald, dann die nacheinander in der Schlussfuge einsetzenden, ungeschminkten, unkostümierten Solisten im Schwarz-Weiß-Bild einer heutigen Videokonferenz auf einer erhöhten Leinwand, dazu mal eine Totale des Orchesters aus einer Schlussprobe – alles auch mit dem aufgezeichneten Ton aus der Probe. And auf die Bühne kam der stumme Chor mit Maske, dazu dann auch die Solisten mit Maske, Verdi-Boitos „Alles auf Erden ist Torheit, wir Menschen sind die geborenen Narren“ vom Band und die 2.100 leeren Plätze im Bild – eine kalte Dusche für alles Liebesspiel und alle Sinne. Oper im Stil der Corona-Kulturbürokratie – auch eine Ohrfeige …

Wolf-Dieter Peter

„Falstaff“ (1893) // Giuseppe Verdi

Singulär

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2020)
Jubiläum der Braunfels-Rarität „Die Vögel“ gerät zur Stippvisite

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2020)
Jubiläum der Braunfels-Rarität „Die Vögel“ gerät zur Stippvisite

Es ist einfach nur bitter, wenn die Premiere einer Inszenierung gleichzeitig auch die Dernière markiert. Vor allem, wenn es sich wie im Falle von Walter Braunfels` „Die Vögel“ um eine Rarität handelt, die sich schon lange eine Rückkehr ins Repertoire verdient hätte. Fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Münchner Uraufführung hätte die Aristophanes-Vertonung nun endlich wieder an der Bayerischen Staatsoper zu hören sein sollen, doch der Lockdown machte die als triumphale Rückkehr geplante Neuinszenierung von Frank Castorf zu einer sehr exklusiven Angelegenheit. Gerade einmal 50 Auserwählte durften der ersten und leider einzigen Vorstellung beiwohnen, ehe am Tag darauf alle Theater wieder ihren Spielbetrieb einstellen mussten.

Ein Verlust ist das vor allem in musikalischer Hinsicht. Und dies, obwohl im Graben eine deutlich verkleinerte Orchesterbesetzung im Einsatz war. Ingo Metzmacher machte daraus jedoch kurzerhand eine Tugend und bewies mit der ebenso klar strukturierten wie den Klang fein auffächernden Lesart ein weiteres Mal, dass er für die Partituren des frühen 20. Jahrhunderts ein gutes Händchen besitzt. So strahlt die vielschichtige Komposition trotz oder gerade wegen der schlankeren Instrumentierung in unterschiedlichsten Farben, die es mühelos mit Braunfels` Kollegen Richard Strauss aufnehmen können, ohne dabei so kalorienreich zu wirken wie dessen Tondichtungen.

Nur schwer mitzuhalten vermag da leider das vom Komponisten selbst verfasste Libretto. Und vielleicht mag es auch daran liegen, dass Regisseur Frank Castorf hier nicht allzu viel eingefallen ist. Wie vom einstigen Vorzeige-Provokateur nicht anders gewohnt, gibt es auch diesmal auf der detailreichen Drehbühnenkonstruktion von Ausstatter Aleksandar Denić viel Futter für ornithologische Assoziationen – Plakate der „Byrds“ und „Eagles“ oder den großen Alfred Hitchcock. Da sein gleichnamiger Film aber weder mit Braunfels noch mit Aristophanes zu tun hat, wirkt das Ganze jedoch reichlich beliebig und kommt kaum an die Dichte mancher vergangener Castorf-Produktionen heran. Zu viele altbekannte Versatzstücke und (absichtliche?) Selbstzitate, wie beispielsweise bei der Nachtigall, die im recycelten Kostüm des Waldvogels aus Castorfs Bayreuther „Ring“ daherkommt.

Je weniger einen die szenische Aktion fesselt, umso mehr konzentriert man sich auf die Sängerriege. Angeführt von der großartigen Caroline Wettergreen, die in der halsbrecherischen Partie der bereits erwähnten Nachtigall Bemerkenswertes leistet und selbst in stratosphärischen Höhen nie an Wärme einbüßt. Auch die beiden Menschen, die sich ins Reich der Vögel verirren, sind mit Michael Nagy und Charles Workman exzellent besetzt. Während der eine mit kernigem Bariton aufwartet und vor allem im zweiten Akt mächtig auftrumpft, gibt der andere einen nachdenklichen Helden, der ohne tenorale Muskelprotzereien auskommt. Allein wegen diesem Trio bleibt zu hoffen, dass diese Produktion nach Ende der Pandemie noch einmal für mehr als 50 Menschen im Saal zugänglich sein möge.

Tobias Hell

„Die Vögel“ (1920) // Walter Braunfels