Sekt und Häppchen sucht man in Serge Dornys Einstandspremiere mangels Pause vergebens. Den „großen Brocken“ gibt es trotzdem – direkt von der Bühne, mit fulminanter Wucht und beklemmender Intensität, musikalisch auf höchstem Niveau. Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ – das Werk eines 22-Jährigen – wurde bereits kurz nach der Uraufführung 1930 in Leningrad Opfer politischen Drucks. Dass für die Erstaufführung an der Bayerischen Staatsoper – in Koproduktion mit der Novaya Opera Moskau – Regisseur Kirill Serebrennikov aus dem politischen Hausarrest per Videoschalte agiert, verleiht dieser Inszenierung ganz besondere Brisanz. Die absurde Novelle Nikolai Gogols (1836) erzählt von einer Welt, in der Realität und Fiktion in Traumlogik koexistieren. Serebrennikovs beklemmende Szenerie des kalten Petersburger Winters, immer höher werdender Schneeberge, von Räumfahrzeugen mit grellen Scheinwerfern, Schlagstöcken und Absperrgittern zeigt deutliche Bezüge zu Putins Russland – grellbunte Neon-Folklore auf grau-trister Bühne inklusive. Einer, der es wissen muss, setzt auf düstere Bilder und macht die Nase zum sozialen Status: Je mehr Nasen eine Person im Gesicht trägt, desto angesehener ist sie. Die per se dadaistischen Absurditäten der Oper in Form, Sprache und Intention sowie eine Umkehr der Wirkungsweisen von Text und Musik macht sich Serebrennikovs Regie zu eigen. Er teilt die Welt in Täter und Opfer und zeichnet das groteske Bild einer spießigen und korrupten Gesellschaft in Polizeiuniform, in der sich der kleine Beamte Platon Kusmič Kovaljov nicht mehr zurechtfindet, weil ihm seine Nase abhandenkam und nun als Staatsrat ein Eigenleben führt. Die Angst vor dem Anderssein, die Angst vor Strafe und die Vermischung von Absurdität und Realismus bis hin zum grenzenlosen Denken sind die geistigen Pfeiler der Inszenierung. Wenn am Ende die Nase zwar zurückkehrt ins Gesicht des Besitzers, dieser sich trotzdem in trostloser Plattenbau-Umgebung dem Alkohol hingibt und selbst das letzte Zeichen der Hoffnung – ein roter Luftballon in der Hand eines Kindes – mit lautem Knall zerplatzt, ist das vielleicht auch ein Statement des inhaftierten Regisseurs zur Zukunft Russlands.

Dem Bayerischen Staatsorchester in quasi Kammermusikbesetzung steht ein monumentaler Gesangs-Solistenapparat von 58 Rollen gegenüber. Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski – mit dem Repertoire bestens vertraut – erweckt Schostakowitschs Komposition in allen Facetten zum Leben. Die Zwanglosigkeit im Umgang mit Logik, aber auch eine gewisse Trostlosigkeit wird in der Musik spürbar. Grandios besetzt: die vielen Solistenpartien, allen voran Boris Pinkhasovich als Kovaljov und Doris Soffel als alte Dame. Serge Dorny hätte einen entspannteren Einstieg in seine Intendanz wählen können – aber im Jahr 2021 kaum einen passenderen. München setzt also auf Musik-Theater. Man darf gespannt sein.

Iris Steiner

„Nos“ („Die Nase“) (1930) // Oper von Dmitri D. Schostakowitsch

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