Der 1874 in Caracas geborene Reynaldo Hahn war ein vielfach begabtes Wunderkind. Er hatte eine schöne Tenorstimme, spielte gewandt Klavier und komponierte bereits mit 14 Jahren „Si mes vers avaient des ailes“, das bis heute bekannteste von seinen über 100 Liedern. Als eigener Interpret dieser Melodien avancierte er zum gern gesehenen Gast in den Pariser Salons der Belle Époque – im größeren Rahmen populär machten ihn seine sechs Operetten. Hahns Bühnenerstling „L’île du rêve“, der dank der Forschungsarbeit des Palazzetto Bru Zane erstmals auf CD vorliegt, entstand während des Studiums bei Massenet, durch dessen Protektion der nur einstündige Dreiakter 1898 sogar an der Pariser Opéra Comique herauskam. Tahiti, jene „Insel der Träume“, ist Schauplatz einer Romanze zwischen einem französischen Marineoffizier und einer jungen Einheimischen. Dass die Liebe nicht ewig währt, ist absehbar, doch endet sie im Gegensatz zu den berühmteren Opern „Madame Butterfly“ oder „Lakmé“ – ebenfalls nach autobiographisch gefärbter Vorlage des schriftstellernden französischen Marineoffiziers Pierre Loti – nicht tödlich. „Eine polynesische Idylle“, so der Untertitel, beschreibt auch den Charakter der Musik. Nichts Auftrumpfendes hat sie an sich, der Gesang ist niemals dramatisch aufwallend. Ihr Reiz liegt in der Subtilität der Harmonien, dem ruhigen Fluss der Melodien und ihren zarten Exotismen. Dass Hervé Niquet ein Pultmagier ist, hat er schon oft bewiesen und so entlockt er auch diesmal dem Münchner Rundfunkorchester die allerfeinsten Klänge. Die erlesene Besetzung wird von Hélène Guilmette und Cyrille Dubois angeführt. Betörend sind die Vokalgirlanden der Sopranistin, exquisit ist die lyrische Eleganz des Tenors. Mithin: ein musikalischer Traum!

Karin Coper

INFOS ZUR CD

Reynaldo Hahn: „L’île du rêve“ (1898)
Guilmette, Dubois, Morel, Sargsyan, Gombert, Dolié
Münchner Rundfunkorchester, Chœur du Concert Spirituel – Hervé Niquet
1 CD, Bru Zane