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Beiträge 02/2023

Bayreuth 4.0

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Interview Iris Steiner

(dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer März/April-Ausgabe 2023)

Zweifellos mutig, was Katharina Wagner sich da vorgenommen hat – und wahrscheinlich hätte es Urgroßvater Richard gefallen: 2.000 Zuschauer mit Hightech-Sonnenbrillen im dunklen Saal versinken in seiner Musik – und in digitalen Phantasiewelten. Leider war damals wie heute die politische Klasse wenig experimentierfreudig und degradiert die von der Intendantin ausgerufene „Werkstatt Bayreuth“ gerne und unbefugt zum Marketing-Gag. 300 Zuschauer kommen in diesem Jahr in den Genuss des virtuellen Spektakels, 1.700 gehen leer aus. „Es ist ein Anfang“, mein Regisseur Scheib und ist optimistisch, dass die technische Weltpremiere in Bayreuth genau am richtigen Ort stattfindet. 

Jay Scheib (Foto Helen Duras)

Wer hatte eigentlich die Idee, bei einer Neuproduktion in Bayreuth AR-Technologie zu verwenden – und warum haben Sie sich für den „Parsifal“ entschieden?
Grundsätzlich kam der Anstoß von Katharina Wagner. Wir haben uns schon vor Jahren, noch vor der Covid-Zeit übrigens, viel darüber ausgetauscht und überlegt, welches Werk geeignet sein könnte. Der „Parsifal“-Stoff hat eine tolle Beziehung zur Realität und zum Irrealen. Genau richtig für einen Wandel zwischen einer realen und einer virtuellen Welt. 

Es geht also um eine Darstellung dieser beiden Welten: der realistischen und dem, was Sie „magisch“ nennen. Sie möchten beide Aspekte auf der Bühne und technisch „unter einen Hut bekommen“?
Ja – obwohl es eigentlich gar nicht „magisch“ ist oder eben „virtuell“, sondern eine Mischung. Wir erhoffen uns, das Virtuelle nutzen zu können, um das Reale zu konfrontieren und umgekehrt. Aber falls wir dabei eine magische Wirkung erfahren … umso besser. (lacht)

Ist so eine Avantgarde für technisch gestützte Bühnenästhetiken denn ausgerechnet auf dem „Grünen Hügel“ am richtigen Platz? Verändert sich durch virtuelle Welten etwas Grundlegendes in der Wahrnehmung von Wagners Werk? 
Ich denke, man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Augmented Reality und ähnliche Technologien sehr bald ein zentraler Teil unseres Alltags sein werden. Wir sollten deshalb auch in der Kunst neugierig und spielerisch mit diesen Möglichkeiten umgehen und sie als das nutzen, was sie sind: heutige Ausdrucksmittel für Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben und die wir auch 2023 noch erzählen möchten. Nicht mehr und nicht weniger. Entweder wir nutzen diese Technologien im positiven und kreativen Sinn für uns – oder sie werden irgendwann uns benutzen. So einfach ist das.

Was bedeutet das konkret für die Kunstform Oper? 
Für mich persönlich bedeutet es, dass wir uns allgemeingültigem technischem Fortschritt nicht verschließen dürfen, weil er unsere Gesellschaft und unsere Zeit abbildet. Technik ist schon längst im Alltag angekommen, wir bedienen uns ihrer ganz selbstverständlich. Ich halte es für absolut überfällig, sie auch in Theater- oder Opernproduktionen einzusetzen.

Wie zeitgemäß darf Richard Wagners Werk interpretiert werden? Rund um das Bayreuther Festspielhaus eine immer wiederkehrende Fragestellung, die auch aktuell die Gemüter erhitzt (Foto Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath)

Haben Sie keine Angst vor dem als sehr konservativ geltenden Bayreuther Publikum?
Ich finde, es ist eine großartige Idee, und ich bewundere Katharina Wagners Mut und ihre Vision, die ­Bayreuther Festspiele auf diese Art weiterzudenken. Ich bin sicher, dass diese Entwicklung Richard Wagner gefallen hätte – er war ja durchaus dafür bekannt, Neues und Unbekanntes gerne als Erster „haben“ zu wollen. Davon abgesehen: Augmented Reality ist sehr kompliziert und fordert uns technisch wirklich heraus. Wir gehen tatsächlich einen ganz neuen Weg.

Warum sind Sie persönlich der Richtige für dieses Projekt – in Bayreuth, an einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt?
Ich bin ein großer Traditionalist – und ein großer Fan von Wagners Werk. Aus meiner Sicht war Bayreuth ­immer ein guter Ort für neue Inspirationen und dafür, Neues auszuprobieren. Ganz im Sinne des „Werkstatt Bayreuth“-Gedankens. Es ist eine großartige Erfahrung, hier mit den Besten ihres Fachs arbeiten zu dürfen – und ich meine jetzt sowohl die Spezialisten hinter der Bühne als auch alle Künstler vor dem Vorhang. Natürlich ist Bayreuth auch ein sehr traditioneller Ort. Aber das ist für mich kein Widerspruch, sondern eine Herausforderung. Es geht darum, den perfekten „Weg der Verschmelzung“ zu finden und die Technologie in der Komposition und im Klang dieses einzigartigen Saals quasi aufzulösen. 

Sie konnten bereits 2021 Erfahrungen in Bayreuth sammeln. „Sei Siegfried“ war ein multimediales Projekt mit Zuschauerbeteiligung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Zuerst war das Publikum natürlich skeptisch. Aber dann setzte einer nach dem anderen das Headset auf, fuchtelte wild mit den Armen und versank in der virtuellen Welt. Ein großer Spaß!

Ich habe den Eindruck, dass in der aktuellen Diskussion nicht immer ganz klar zwischen „Virtual Reality“ – wie im „Siegfried“-Projekt 2021 – und „Augmented Reality“ unterschieden wird. Würden Sie uns das erklären?
Ganz grundsätzlich ist man mit der „Virtual Reality“ in einer Welt eingeschlossen und bekommt von der Außenwelt überhaupt nichts mit. Bei der „Augmented Reality“ schaut man durch eine ganz normale Brille im ganz normalen Sichtfeld hindurch – es werden lediglich zusätzliche Elemente hinzugefügt. Da es im Theatersaal dunkel und nur die Bühne beleuchtet ist, kann man die Umgebung gewissermaßen technisch „überschreiben“. Ich kann problemlos einen Wald in den Zuschauerraum projizieren oder die Aufführung aus einem Baum heraus beobachten. Man kann die Bühne optisch meilenweit verlängern oder einen riesigen Felsen mit reflektierenden Partikeln direkt über Ihrem Kopf schweben lassen. Nichts davon schmälert die Aussagekraft der Geschichte – und schon gar nicht die der Musik. Im Gegenteil: Man kreiert zusätzliche Elemente, die das Erlebnis im besten Fall noch intensiver machen.

Virtuelle Welten auf dem Grünen Hügel (Bild Jay Scheib, interactive design Joshua Higgason)

Ist diese „Parsifal“-Produktion eigentlich eine Art „Weltpremiere“ für diese Form der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie?  
Meines Wissens hat noch niemand versucht, eine abendfüllende Oper damit auszustatten. Es gab experimentelle Versuche in der Art einer „Pass-Through-AR“, so wie wenn Sie mit Ihrem Handy eine Speisekarte scannen. Aber in unserer Größenordnung ist mir nichts bekannt. Ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren mit meinem Team und mehreren Kollegen an der Entwicklung. Und es ist zugegebenermaßen sehr kompliziert …

Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie also Regisseur und technischer Entwickler in Personalunion?
Ja, allerdings arbeiten wir zu mehreren an der Umsetzung. Unser Entwicklungschef ist der interaktive Designer und Videodesigner Joshua Higgason. Die Hardware – die Brille für jeden einzelnen Zuschauer – wird durch das chinesische Unternehmen „Nreal“ eigens für diese Anwendung hergestellt. Man kann sie sich vorstellen wie eine normale, sehr hell getönte Sonnenbrille, die unter dem Sitz mit einer kleiner Steuerungseinheit verbunden ist. Der Zuschauer muss nichts weiter tun, als zu Beginn der Vorstellung die Brille wie eine Sonnenbrille aufzusetzen. Für Brillenträger gibt es sogar passende Linsen.

Können Sie uns bereits jetzt ein paar Einblicke in Ihre Arbeit am „Parsifal“ geben? 
Gerne! Gleich während der Ouvertüre haben wir beispielsweise einen riesigen Baum aufgestellt. Sie sehen die Wurzeln, die Zweige und Sie können sehen, dass sich im Inneren des Baums eine Art Titan-Silberkern befindet. Er ist 20 Meter lang und zehn Meter breit – etwa die Größe des Saales – und dreht sich ganz langsam. Wenn Sie vorne im Theater sitzen, ist er über Ihnen, wenn Sie hinten sitzen, sehen Sie ihn im Ganzen.

Wie man hört, stehen lediglich gut 300 Brillen pro Vorstellung zur Verfügung. Nicht gerade üppig bei 2.000 Plätzen. Eine Art „Zweiklassen-Gesellschaft“? Was sehen die vielen Besucher im Publikum ohne Brille?
Wir behelfen uns mangels vollständiger Ausrüstung für alle Zuschauer mit einem sogenannten Echtzeit-3D-­Erstellungstool (insbesondere aus der Videospiel-Entwicklung) und andere Arten der Echtzeit-Videoverarbeitung auf einem riesigen Rundum-Bildschirm. Das alles sieht man dann auch ohne Brille zusätzlich zur Handlung auf der Bühne.

Können Sie also ausschließen, dass Zuschauer „ohne Brille“ etwas Wesentliches verpassen?
Ich würde es anders formulieren. Mit Brille sehen Sie eine andere Vorstellung als ohne. Ich zitiere dazu gerne den surrealistischen Dichter Paul Éluard: „Es gibt eine andere Welt. Und die befindet sich in dieser einen …“

(Screenshot Bayreuth Festival AR introduction video)

Schade für den großen „Rest“ des Publikums, der also nur die eine Welt sieht.
Ja schade, aber es ist ein Anfang. Wenn es funktioniert und dem Publikum gefällt, werden wir sicher bald auch eine größere Anzahl Brillen bekommen. „Werkstatt ­Bayreuth“ eben. Ein bisschen ist auch der Weg schon das Ziel.

Wie gehen Sie mit Ihren lautstarken Kritikern um, die es ja auch gibt?
Ich denke, es bringt nichts, wenn man sich ärgert. Es ist nichts Neues, dass Menschen auf Veränderungen zuerst einmal mit Abwehr reagieren – bis es dann plötzlich „Tradition“ ist. Ich versuche, mich dem Werk so ehrlich und tiefgehend wie möglich zu nähern. Als Wagner damals das Orchester in einem Graben „versteckte“, verloren die Leute auch den Verstand. Und dann hat diese Innovation und das ganz spezielle Klangerlebnis hier am Haus letztendlich zu einer ganz anderen Arbeitsweise der Dirigenten geführt. Was die öffentliche Diskussion betrifft, auf die Sie anspielen: Mit mir hat niemand persönlich gesprochen, und ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe, irgendetwas zu verteidigen. Es wird immer Leute geben, die ein Konzert jeder Inszenierung vorziehen würden. Meine Arbeit dreht sich um die Musik, die Geschichte und die Art und Weise, wie ein Bild zum nächsten und dann zu noch einem wird. Was ich in dieser Form allerdings tatsächlich nicht erwartet habe, ist die hohe politische Relevanz, die wir mit unserer Arbeit ganz offensichtlich auslösen …

Sind wir Deutschen fortschritts- und technikfeindlich? Oder woher kommt diese Ablehnung ihrer Meinung nach? 
Nein, ich glaube nicht, dass es an mangelndem technischen Interesse liegt. Ganz im Gegenteil, ich halte die deutschen Theaterhäuser für die besten der Welt, weil es immer geradezu einen Spaß an Innovationen gibt und daran, etwas auszuprobieren. Viel mehr als in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich. In meinen 20 Jahren, die ich hier bereits arbeiten darf, habe ich die deutsche Theatertradition immer als eine Tradition der permanenten Revolution empfunden. Und Revolution ist manchmal chaotisch. Aber es ist ein großes Privileg, daran teilhaben zu dürfen.

Sie haben lange vorgearbeitet und entwickelt. Wann beginnen nun wirklich die Proben vor Ort?
Mitte Mai startet die Einrichtung, zuvor machen wir im März und April größere technische Tests. Mein Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) besteht aus sieben Kollegen, die mit mir alles vorbereiten, was wir dann in Bayreuth einbauen werden. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sofort alle 2.000 Plätze mit Brillen ausgestattet. Aber ich gehe ohnehin davon aus, dass in ein paar Jahren jeder sein eigenes Headset mitbringen wird. Meine Aufgabe als Regisseur ist und bleibt immer die, eine neue Welt zu kreieren. Die Mittel passen sich ganz einfach der Zeit an. 

Als Regisseur und Technikexperte in einer Person arbeiten Sie in zwei eigentlich sehr unterschiedlichen Berufen. Wie haben Sie es geschafft, beides zu perfektionieren? 
Ich arbeite in vielen Disziplinen, habe klassisches Ballett gemacht, vor Kurzem eine Rock’n’Roll-Arena-Tournee in Neuseeland, dazu Musicals, experimentelle Theaterstücke und Opern. Und ich hatte schon immer ein starkes persönliches Interesse an neuen Technologien. 

Trotz allem ist es ein großer Unterschied, „Spaß“ an technischen Entwicklungen zu haben und sie professionell zu verstehen und einzusetzen. Das klingt eigentlich nach zwei Berufen.
Einiges von dem, was ich mir vorstelle, kann ich selbst realisieren und besitze eine Art professionellen Überblick darüber, was machbar ist und was nicht. Dann suche ich mir die passenden Spezialisten. Letztendlich bin ich in erster Linie verantwortlich für das Ergebnis und dafür, dass jeder Abend ein unvergesslicher wird. 

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Gott erhalt’s!

Wie braut man eine Operette? Zur Uraufführung von Daniel Behles „Hopfen und Malz“ am Eduard-von-Winterstein-Theater

Wie braut man eine Operette? Zur Uraufführung von Daniel Behles „Hopfen und Malz“ am Eduard-von-Winterstein-Theater

von Stefan Frey

„Ich finde den Begriff Operette eigentlich sehr gut, weil er kontrovers ist. Sie ist satirisch, aber belehrt nicht, sondern verbirgt durch Oberflächlichkeit eine tiefere Schicht. Für mich hat das eine Subversivität, die es in der Oper nicht gibt. Es ist eine Form, Humor auf die Bühne zu bringen, auch blöden Humor. In der Oper gibt es keine richtige Lustigkeit, niemand hat den Mut, auch einen Kalauer zu vertonen. Aber in der Operette muss der Text griffig sein. Simple Reime, die aber einen Schmäh haben. Und wenn man dann noch eine turbulente Geschichte hat, mit vielen Verwirrungen, dann folgt die Musik von alleine.“

Tenor Daniel Behle weiß, was er will. Für ihn ist Operette nicht – wie bei den wenigen „Operetten-Uraufführungen“ der letzten Jahre – nur ein Etikett für mehr oder minder neutönerisches, komisches Musiktheater, für ihn ist es ein eigenes Genre mit eigenen Regeln. Und die nimmt er ernst, es soll schließlich auch nach Operette klingen.

Behle ist ein musikalischer Grenzgänger, hat nicht nur Gesang und Komposition studiert, sondern auch Posaune und Schulmusik. So vielseitig wie seine Ausbildung ist auch sein Schaffen. Er schreibt spätromantische Orchesterstücke, Hamburger Shanties und fiktive Richard-Strauss-Lieder. Und jetzt auch noch eine Operette. Sie heißt „Hopfen und Malz“, dreht sich ums Bierbrauen und wurde am 21. Januar 2023 in Annaberg-Buchholz uraufgeführt.

Ölsum oder Meersum: Wer braut das bessere Bier? (Foto Dirk Rückschloß/Pixore Photography)

Die Idee dazu kam Behle während einer „Arabella“-Vorstellung unter Christian Thielemann in Dresden. Der Gedanke, dass diese Musik eigentlich auch gut in eine Operette hineinpassen würde, ließ ihn nicht los und brachte ihn schließlich dazu, selbst eine zu schreiben. Und tatsächlich geistert Richard Strauss hörbar durch die Partitur von „Hopfen und Malz“, zumindest im Orchester – so, als habe Behle endlich die Operette geschrieben, die Richard Strauss immer schreiben wollte: Vergebens hatte er seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal davon zu überzeugen versucht, dass er „großes Talent zur Operette habe“ und „zum Offenbach des 20. Jahrhunderts berufen“ sei. Hofmannsthal schrieb stattdessen „Arabella“ – wahrscheinlich nur, um wiederum 100 Jahre später Daniel Behle auf die Idee zu bringen, selbst eine Operette zu schaffen. Dieser wiederum fand seinen Hofmannsthal im Schweizer Romancier Alain Claude Sulzer, der sich aber auf das Operetten­projekt des Komponisten einließ.

Unsinn mit Methode nach Wiener Art

Das Genre hat es Behle seit seinem Engagement an der Wiener Volksoper besonders angetan. Seinen Einstieg dort hatte er als Alfred in einer alten, schon etwas angestaubten „Fledermaus“-Inszenierung von Robert Herzl: „Das hat einfach Spaß gemacht, singen und nicht groß über das Warum nachdenken. Das war für mich sehr prägend. Ich finde, dass Operette, wie der Jazz ja auch, eine Wurzel hat. Und die ist für mich in Wien. Damals habe ich viel gelernt. Operette ist Musiktheater: Sprechen, singen und das Sujet sollte lustig sein oder wenigstens verwirrend – wie in der ‚Fledermaus‘. Warum funktioniert das? Klar, die Musik ist gigantisch, aber andererseits ist da auch die Thematik: Du hast einen Polizisten beleidigt, gehst dafür in den Knast, willst aber nicht – das ist so blöd, aber lustig und zeitlos. Ich finde auch Biertrinken zeitlos und deshalb sind wir darauf gekommen, das ist immer witzig.“

Denn darum geht es in „Hopfen und Malz“, ums Biertrinken und Bierbrauen. Und die Handlung ist tatsächlich lustig und verwirrend und spielt in den beiden norddeutschen Dörfern Meersum und Ölsum. Die wetteifern alljährlich um den ersten Preis beim regionalen Bierbrauwettbewerb. Seit Jahren gewinnt Horst Flens aus Ölsum. Und seit Jahren scheitert Max Fisch aus ­Meersum. Doch diesmal sind seiner Frau Letty vier ­Bayern im Traum erschienen. Sie verkünden ihr, der Mönch Theophil könne mit seinem Voodoo-Freibier ihrem Mann helfen, den Wettbewerb zu gewinnen. Und tatsächlich gibt der Mönch sein Geheimrezept preis: „Das Bier aus dem Kloster St. Demenz, jeder mag’s, keiner kennt’s.“

Richard Glöckner als Pilger Klaus (Foto Dirk Rückschloß/Pixore Photography)

Absurde Geschichten und simple Reime mit Schmäh als wesentliche Ingredienzen des Librettos entsprechen also durchaus ­Daniel Behles Reinheits-Gebot für Operetten. Und dieser Unsinn hat Methode, das verraten schon die Namen der Figuren. Da gibt es eine Senta und einen segelnden ­Holländer namens Bernd. Doch zusammen können sie nicht kommen, denn sie liebt die Berge (Senta ­Berger!), er die See. Als sie ihm einen Korb gibt, besingt er die „Wunde von Bernd“. Einer der vielen Lacher bei der Uraufführung in Annaberg-Buchholz. Bei Behle bekommt Senta also nicht den Holländer, sondern den ­Pilger Klaus: Senta Klaus! Und wo braut Max sein Freibier? In der Wolfsbucht.

In Daniel Behles Werk wimmelt es von Kalauern und Opern-Anspielungen, sowohl in den Gesangstexten als auch in der Musik. Ein Einfall jagt den nächsten, die Witze zünden, die Schlager auch, und doch wird letztlich keine Operette daraus. Dafür ist es zu überladen, dafür mischt Behle zu viele Opern-Anklänge in seinen wilden Stilmix. Dabei gibt es durchaus echte, wunderbar tänzerische Operetten-Nummern, sogar Musical-­Schmachtfetzen, aber eben auch Richard Strauss. Und ihm huldigt Behles Orchester allzu hingebungsvoll. Das macht es den Sängern schwer und deckt vor allem den Text zu, der ­Behle sonst so wichtig ist. Weniger wäre hier mehr. Das Publikum verstünde besser, was gesungen wird, und hätte auch mal Luft zum Nachsummen der durchaus vorhandenen Ohrwürmer. Denn Behle hat tatsächlich Talent für die Operette. Und er hat den in der seriösen Musik so seltenen Mut zum Gassenhauer.

Seine blühende Phantasie treibt auch im Libretto die buntesten Blüten, nur eine Geschichte erzählt sie nicht. Nicht einmal die Liebesgeschichte von Senta Klaus ist nach vielversprechendem Beginn von Bedeutung. Weder ­Familie noch Gesellschaft verhalten sich dazu. Überhaupt scheinen die Bewohner der beiden Dörfer Ölsum und Meersum keine anderen Probleme zu haben als ihren Bierbrauwettbewerb. Es bleibt aber sogar unklar, warum der so wichtig ist und wofür er überhaupt steht. Stattdessen gibt es ein Überangebot an skurrilen Nebenfiguren – angefangen beim Mönch Theophil, dem Sündensucher im Norden, bis hin zu Letty, der Lady Macbeth der Wolfsbucht. Schöne Episoden, die aber bei weitem keine dramatischen Situationen ergeben. Erst im großen Finale werden die vielen Handlungsstränge verdichtet – gekrönt vom Auftritt von Mama Cervisia, gesungen von Renate Behle, der Mutter des Komponisten.

Komponist Daniel Behle mit Librettist Alain Claude Sulzer (Foto Kostas Maros/LLH Productions)

Phantasie und der alte Zauber des Theaters

Die Aufführung in Annaberg-Buchholz macht das Beste aus dem Handlungs-Wirrwarr, bedient sowohl den Klamauk als auch die Poesie. Regisseurin ­Jasmin Solfaghari beherrscht ihr Handwerk und hat viele Ideen: Sie lässt ­Schafe singen, Bayern platteln und findet für jede Figur eine passende Haltung. Die bis ins kleinste Detail fantasievolle Ausstattung von Walter Schütze verleiht der Inszenierung zusätzlichen Reiz und manchmal sogar einen altmodischen Theaterzauber. Da vergisst man gern, dass das Ensemble des Eduard-von-­Winterstein-Theaters sängerisch bisweilen an seine Grenzen stößt und auch die Erzgebirgische Philharmonie Aue der Fülle des Wohlklangs à la Richard Strauss nicht immer gerecht wird. Das Publikum jedenfalls ist begeistert.

Am Morgen danach schreibt Daniel Behle auf seiner Facebook-Seite: „‚­Hopfen und Malz‘ entpuppt sich für mich nach dieser vom Publikum gefeierten Uraufführung als Zwitter zwischen Oper und Operette. Eine Erfahrung, die man am Schreibtisch nicht vorhersehen konnte.“ Für die geplanten Folgeproduktionen besteht also noch Hoffnung, dass Behle sich für die ­Operette entscheidet. Vor allem aber sollte er mit seinem Librettisten Alain Claude Sulzer beherzt den Rotstift zücken und die Lehren aus dieser Feuerprobe in Annaberg-­Buchholz ziehen. Es lohnt sich, denn „Hopfen und Malz“ ist noch lange nicht ausgegoren.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Die Diplomatie der Menschlichkeit

Das Israelische Staatsorchester zu Gast in Abu Dhabi

Das Israelische Staatsorchester zu Gast in Abu Dhabi

von Iris Steiner

Noch vor sieben Jahren hätte der Dirigent mit israelischem Pass nicht einmal einreisen dürfen nach Abu Dhabi – im vergangenen Dezember kam Lahav Shani zum ersten Mal und brachte gleich das ganze Staatsorchester mit. Der Nachfolger von Zubin Mehta in dieser Funktion und designierter Chef der Münchner Philharmoniker dirigierte an diesem Abend des 20. Dezember 2022 – der neue Fußball-Weltmeister Argentinien verlässt gerade Katar – 600 km weiter und weitaus weniger beachtet von der Weltöffentlichkeit ein politisch höchst bedeutendes Konzert. Während israelische Fußballfans nach Katar nur mit Ausnahmegenehmigung einreisen durften, spielte das 100-köpfige Israel Philharmonic Orchestra (IPO) vor illustrem Publikum im Konzertsaal des Emirates Palace. Einträchtig nebeneinander in der ersten Reihe: Staatschef Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan mit mehreren Ministern seines Kabinetts, Israels First Lady Michal Herzog und der erste jüdische Rabbi in den Vereinigten Abarischen Emiraten, Levi Duchman. „Ich muss Ihnen nicht sagen, was es für uns Israelis bedeutet, die Möglichkeit zu haben, einer arabischen Nation näher zu kommen“, schwärmt Shani. „Es fühlt sich nicht an wie ein 100-jähriger schwelender Konflikt, sondern nur wie ein Schritt dorthin, worauf wir alle seit vielen, vielen Jahren hoffen.“

Links Scheich Abdullah bin Zayid Al Nahyan und Rabbi Levi Duchman im angeregten Pausengespräch. Rechts feierlicher Konzertbeginn mit den National­hymnen ­Israels und der VAE: Regierungschef Scheich Abdullah und Israels First Lady ­Michal ­Herzog umgeben von zahlreichen Würdenträgern (Fotos Nina Berger)

Jede Zeit ist eine gute Zeit für den Frieden

84 Jahre nach dem letzten Auftritt in ­Kairo – der israelische Staat existierte 1938 noch gar nicht – fand damit wieder ein Konzert des IPO auf arabischem Boden statt, zustande gekommen auf der Basis des 2020 unterzeichneten „Abraham-­Abkommens“ zwischen dem damaligen und aktuellen israelischen Ministerpräsidenten ­Benjamin ­Netanjahu, Scheich ­Abdullah und – Donald Trump. Im Mittelpunkt des Vertrags: der erklärte Wille zur Verbesserung der Beziehungen auf diplomatischer, wirtschaftlicher, ­militär- und kulturpolitischer Ebene. In ­Europa noch weitgehend unbeachtet, hatte dieses Abkommen nicht zuletzt die ­erste offizielle jüdische Gemeinde der ­Emirate sowie eine israelische Botschaft in Abu Dhabi zur Folge.

„Wir machen das auch für unsere Jugend“

Der deutsche Literaturwissenschaftler Dr. Ronald Perlwitz, Leiter des Musikprogramms im Kultur- und Tourismusministerium des Landes, sieht das historische Konzert der Israelis – abgesehen von ein paar diplomatischen Hürden im Vorfeld – als „gelebtes und gelungenes Ergebnis“ der Abraham-Vereinbarung. „Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die generelle Weltoffenheit. Klassische Musik ist universelle Kunst, wir möchten sie unseren Einwohnern näherbringen und holen dafür die besten Solisten und Orchester ins Land.“ Ebenfalls Teil der ­Vereinbarung sind ­Arbeitsproben des einheimischen Jugendorchesters mit den Musikern des IPO, da „ein ganz wichtiger Grund, warum wir das machen, auch die kulturelle und musikalischer Bildung unserer Jugend ist“, so Perlwitz. Man übernehme damit die Rolle europäischer Familientraditionen, Kinder in die klassische Musik einzuführen. Etwas, das in der arabischen Welt nicht unbedingt der Fall und in Europa ebenfalls rückläufig ist. „Wir finden es wichtig, den Musikkonsum von Jugendlichen über die reine Unterhaltungsfunktion hinauszuführen und ihnen zu zeigen, dass Musik auch Kunst sein kann.“

Ein in den Emiraten ­ungewohntes Bild: der Perkussionist des ­Orchesters mit der traditionellen ­jüdischen Kopfbedeckung Kippa (Foto Department of Culture and Tourism – Abu Dhabi / Abu Dhabi Culture)

2021 wurde Abu Dhabi von der ­UNECSO zur „City of Music“ ernannt. Ein Titel mit Verpflichtung. Perlwitz weiß um die vielen formellen Hürden schon bei der Bewerbung. „Unser wichtigstes Argument war wahrscheinlich, dass wir eine sehr tolerante Stadt mit vielen Nationalitäten sind, die hier gut zusammenleben. Wir möchten den Kontakt untereinander verstärkt auch durch unterschiedlichste Musik auf höchstem Niveau verbessern.“ Eine „arabische Version der Völkerverständigung“ nennt er das – mit für Europäer ungewohntem Blick auf die eigene Tradition. „Unsere Gesellschaft ist geprägt von der Universalität der Aufklärung, von der Dominanz der Vernunft: Alle müssen irgendwann vernünftig werden. Hier im arabischen Raum ist das anders. Es gibt starke Traditionen und eine tiefe Verankerung in der eigenen Identität. Aber auch den Wunsch, andere Lebensweisen kennenzulernen, in Dialog zu treten, sich auszutauschen – und beispielsweise zusammen zu musizieren.“

Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar seitens der westlichen Welt so stark in der Kritik stand, sieht der Deutsche, der seit 2006 in Abu Dhabi lebt und arbeitet, recht distanziert. „Wir kommen mit unseren Werten und erwarten, dass andere sie teilen – ein jahrhundertealtes europäisches Problem. So geht es aber nicht. In einer globalisierten Welt muss man lernen, andersdenkende Gesellschaften zu respektieren, auch wenn es das eigene Wertesystem infrage stellt. Und solange große westliche Modeketten in Bangladesch oder Indien zu Dumpinglöhnen produzieren lassen, wäre ich auch sehr vorsichtig mit Kritik an ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Wer sind wir, dass wir die Menschen hier so arrogant belehren?“

Normalität ist möglich

Dass der Dialog gerade auf kultureller Ebene tiefgreifende Ergebnisse erzielt, ist für Perlwitz einer der Gründe für den Erfolg von „Abu Dhabi Classics“. „Wir hatten vor einigen Wochen das Concertgebouw Orchestra ­Amsterdam hier, dann das Trio Joubran aus Palästina, einen Tag später das ägyptische Jazz-Trio Abozekrys, kurz darauf den größten indischen Sitar-Spieler, ­Shujaat Khan – und jetzt das IPO.“ Ohne die vorhandenen Spannungen zwischen Israel und der arabischen Welt zu leugnen, setzt er auf die verbindende Kraft der Musik: „Solche Konzerte wie dieses sind für mich ein starkes Zeichen für den Frieden und dass es eine Normalität ­geben kann.“

Lahav Shani (Foto Department of Culture and Tourism – Abu Dhabi / Abu Dhabi Culture)

Auf dem Programm steht Mahlers „Titan“-Sinfonie, benannt nach Jean Pauls gleichnamigem Roman und stark beeinflusst vom Zeitgeist der deutschen Romantik. Ein Werk, das besonders gut zum Orchester passt, wie ­Lahav Shani betont. „Mahler entstammte ja einer jüdischen Familie und zumindest in dieser Ersten Sinfonie hat ihn die jüdische Musik bis zu einem gewissen Grad beeinflusst. Wir wollten etwas mitbringen, von dem wir glauben, dass es die Geschichte des Orchesters in vielerlei Hinsicht erzählt.“ Literaturwissenschaftler Perlwitz sieht noch eine weitere Verbindung: „Mahlers Hommage an die deutsche Romantik zeigt, wie sehr dieses Gedankengut damals ein Universelles war: Du musst Deine Identität und Deine Wurzeln kennen und auf dieser Basis kannst Du mit anderen in Kontakt treten. Eine Denkweise, die der Kultur hier sehr nahe ist. Und wir Deutschen sollten uns gelegentlich mal daran erinnern.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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