Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der amerikanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension
Interview Iris Steiner
(dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer März/April-Ausgabe 2023)
Zweifellos mutig, was Katharina Wagner sich da vorgenommen hat – und wahrscheinlich hätte es Urgroßvater Richard gefallen: 2.000 Zuschauer mit Hightech-Sonnenbrillen im dunklen Saal versinken in seiner Musik – und in digitalen Phantasiewelten. Leider war damals wie heute die politische Klasse wenig experimentierfreudig und degradiert die von der Intendantin ausgerufene „Werkstatt Bayreuth“ gerne und unbefugt zum Marketing-Gag. 300 Zuschauer kommen in diesem Jahr in den Genuss des virtuellen Spektakels, 1.700 gehen leer aus. „Es ist ein Anfang“, mein Regisseur Scheib und ist optimistisch, dass die technische Weltpremiere in Bayreuth genau am richtigen Ort stattfindet.
Wer hatte eigentlich die Idee, bei einer Neuproduktion in Bayreuth AR-Technologie zu verwenden – und warum haben Sie sich für den „Parsifal“ entschieden?
Grundsätzlich kam der Anstoß von Katharina Wagner. Wir haben uns schon vor Jahren, noch vor der Covid-Zeit übrigens, viel darüber ausgetauscht und überlegt, welches Werk geeignet sein könnte. Der „Parsifal“-Stoff hat eine tolle Beziehung zur Realität und zum Irrealen. Genau richtig für einen Wandel zwischen einer realen und einer virtuellen Welt.
Es geht also um eine Darstellung dieser beiden Welten: der realistischen und dem, was Sie „magisch“ nennen. Sie möchten beide Aspekte auf der Bühne und technisch „unter einen Hut bekommen“?
Ja – obwohl es eigentlich gar nicht „magisch“ ist oder eben „virtuell“, sondern eine Mischung. Wir erhoffen uns, das Virtuelle nutzen zu können, um das Reale zu konfrontieren und umgekehrt. Aber falls wir dabei eine magische Wirkung erfahren … umso besser. (lacht)
Ist so eine Avantgarde für technisch gestützte Bühnenästhetiken denn ausgerechnet auf dem „Grünen Hügel“ am richtigen Platz? Verändert sich durch virtuelle Welten etwas Grundlegendes in der Wahrnehmung von Wagners Werk?
Ich denke, man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Augmented Reality und ähnliche Technologien sehr bald ein zentraler Teil unseres Alltags sein werden. Wir sollten deshalb auch in der Kunst neugierig und spielerisch mit diesen Möglichkeiten umgehen und sie als das nutzen, was sie sind: heutige Ausdrucksmittel für Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben und die wir auch 2023 noch erzählen möchten. Nicht mehr und nicht weniger. Entweder wir nutzen diese Technologien im positiven und kreativen Sinn für uns – oder sie werden irgendwann uns benutzen. So einfach ist das.
Was bedeutet das konkret für die Kunstform Oper?
Für mich persönlich bedeutet es, dass wir uns allgemeingültigem technischem Fortschritt nicht verschließen dürfen, weil er unsere Gesellschaft und unsere Zeit abbildet. Technik ist schon längst im Alltag angekommen, wir bedienen uns ihrer ganz selbstverständlich. Ich halte es für absolut überfällig, sie auch in Theater- oder Opernproduktionen einzusetzen.
Haben Sie keine Angst vor dem als sehr konservativ geltenden Bayreuther Publikum?
Ich finde, es ist eine großartige Idee, und ich bewundere Katharina Wagners Mut und ihre Vision, die Bayreuther Festspiele auf diese Art weiterzudenken. Ich bin sicher, dass diese Entwicklung Richard Wagner gefallen hätte – er war ja durchaus dafür bekannt, Neues und Unbekanntes gerne als Erster „haben“ zu wollen. Davon abgesehen: Augmented Reality ist sehr kompliziert und fordert uns technisch wirklich heraus. Wir gehen tatsächlich einen ganz neuen Weg.
Warum sind Sie persönlich der Richtige für dieses Projekt – in Bayreuth, an einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt?
Ich bin ein großer Traditionalist – und ein großer Fan von Wagners Werk. Aus meiner Sicht war Bayreuth immer ein guter Ort für neue Inspirationen und dafür, Neues auszuprobieren. Ganz im Sinne des „Werkstatt Bayreuth“-Gedankens. Es ist eine großartige Erfahrung, hier mit den Besten ihres Fachs arbeiten zu dürfen – und ich meine jetzt sowohl die Spezialisten hinter der Bühne als auch alle Künstler vor dem Vorhang. Natürlich ist Bayreuth auch ein sehr traditioneller Ort. Aber das ist für mich kein Widerspruch, sondern eine Herausforderung. Es geht darum, den perfekten „Weg der Verschmelzung“ zu finden und die Technologie in der Komposition und im Klang dieses einzigartigen Saals quasi aufzulösen.
Sie konnten bereits 2021 Erfahrungen in Bayreuth sammeln. „Sei Siegfried“ war ein multimediales Projekt mit Zuschauerbeteiligung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Zuerst war das Publikum natürlich skeptisch. Aber dann setzte einer nach dem anderen das Headset auf, fuchtelte wild mit den Armen und versank in der virtuellen Welt. Ein großer Spaß!
Ich habe den Eindruck, dass in der aktuellen Diskussion nicht immer ganz klar zwischen „Virtual Reality“ – wie im „Siegfried“-Projekt 2021 – und „Augmented Reality“ unterschieden wird. Würden Sie uns das erklären?
Ganz grundsätzlich ist man mit der „Virtual Reality“ in einer Welt eingeschlossen und bekommt von der Außenwelt überhaupt nichts mit. Bei der „Augmented Reality“ schaut man durch eine ganz normale Brille im ganz normalen Sichtfeld hindurch – es werden lediglich zusätzliche Elemente hinzugefügt. Da es im Theatersaal dunkel und nur die Bühne beleuchtet ist, kann man die Umgebung gewissermaßen technisch „überschreiben“. Ich kann problemlos einen Wald in den Zuschauerraum projizieren oder die Aufführung aus einem Baum heraus beobachten. Man kann die Bühne optisch meilenweit verlängern oder einen riesigen Felsen mit reflektierenden Partikeln direkt über Ihrem Kopf schweben lassen. Nichts davon schmälert die Aussagekraft der Geschichte – und schon gar nicht die der Musik. Im Gegenteil: Man kreiert zusätzliche Elemente, die das Erlebnis im besten Fall noch intensiver machen.
Ist diese „Parsifal“-Produktion eigentlich eine Art „Weltpremiere“ für diese Form der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie?
Meines Wissens hat noch niemand versucht, eine abendfüllende Oper damit auszustatten. Es gab experimentelle Versuche in der Art einer „Pass-Through-AR“, so wie wenn Sie mit Ihrem Handy eine Speisekarte scannen. Aber in unserer Größenordnung ist mir nichts bekannt. Ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren mit meinem Team und mehreren Kollegen an der Entwicklung. Und es ist zugegebenermaßen sehr kompliziert …
Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie also Regisseur und technischer Entwickler in Personalunion?
Ja, allerdings arbeiten wir zu mehreren an der Umsetzung. Unser Entwicklungschef ist der interaktive Designer und Videodesigner Joshua Higgason. Die Hardware – die Brille für jeden einzelnen Zuschauer – wird durch das chinesische Unternehmen „Nreal“ eigens für diese Anwendung hergestellt. Man kann sie sich vorstellen wie eine normale, sehr hell getönte Sonnenbrille, die unter dem Sitz mit einer kleiner Steuerungseinheit verbunden ist. Der Zuschauer muss nichts weiter tun, als zu Beginn der Vorstellung die Brille wie eine Sonnenbrille aufzusetzen. Für Brillenträger gibt es sogar passende Linsen.
Können Sie uns bereits jetzt ein paar Einblicke in Ihre Arbeit am „Parsifal“ geben?
Gerne! Gleich während der Ouvertüre haben wir beispielsweise einen riesigen Baum aufgestellt. Sie sehen die Wurzeln, die Zweige und Sie können sehen, dass sich im Inneren des Baums eine Art Titan-Silberkern befindet. Er ist 20 Meter lang und zehn Meter breit – etwa die Größe des Saales – und dreht sich ganz langsam. Wenn Sie vorne im Theater sitzen, ist er über Ihnen, wenn Sie hinten sitzen, sehen Sie ihn im Ganzen.
Wie man hört, stehen lediglich gut 300 Brillen pro Vorstellung zur Verfügung. Nicht gerade üppig bei 2.000 Plätzen. Eine Art „Zweiklassen-Gesellschaft“? Was sehen die vielen Besucher im Publikum ohne Brille?
Wir behelfen uns mangels vollständiger Ausrüstung für alle Zuschauer mit einem sogenannten Echtzeit-3D-Erstellungstool (insbesondere aus der Videospiel-Entwicklung) und andere Arten der Echtzeit-Videoverarbeitung auf einem riesigen Rundum-Bildschirm. Das alles sieht man dann auch ohne Brille zusätzlich zur Handlung auf der Bühne.
Können Sie also ausschließen, dass Zuschauer „ohne Brille“ etwas Wesentliches verpassen?
Ich würde es anders formulieren. Mit Brille sehen Sie eine andere Vorstellung als ohne. Ich zitiere dazu gerne den surrealistischen Dichter Paul Éluard: „Es gibt eine andere Welt. Und die befindet sich in dieser einen …“
Schade für den großen „Rest“ des Publikums, der also nur die eine Welt sieht.
Ja schade, aber es ist ein Anfang. Wenn es funktioniert und dem Publikum gefällt, werden wir sicher bald auch eine größere Anzahl Brillen bekommen. „Werkstatt Bayreuth“ eben. Ein bisschen ist auch der Weg schon das Ziel.
Wie gehen Sie mit Ihren lautstarken Kritikern um, die es ja auch gibt?
Ich denke, es bringt nichts, wenn man sich ärgert. Es ist nichts Neues, dass Menschen auf Veränderungen zuerst einmal mit Abwehr reagieren – bis es dann plötzlich „Tradition“ ist. Ich versuche, mich dem Werk so ehrlich und tiefgehend wie möglich zu nähern. Als Wagner damals das Orchester in einem Graben „versteckte“, verloren die Leute auch den Verstand. Und dann hat diese Innovation und das ganz spezielle Klangerlebnis hier am Haus letztendlich zu einer ganz anderen Arbeitsweise der Dirigenten geführt. Was die öffentliche Diskussion betrifft, auf die Sie anspielen: Mit mir hat niemand persönlich gesprochen, und ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe, irgendetwas zu verteidigen. Es wird immer Leute geben, die ein Konzert jeder Inszenierung vorziehen würden. Meine Arbeit dreht sich um die Musik, die Geschichte und die Art und Weise, wie ein Bild zum nächsten und dann zu noch einem wird. Was ich in dieser Form allerdings tatsächlich nicht erwartet habe, ist die hohe politische Relevanz, die wir mit unserer Arbeit ganz offensichtlich auslösen …
Sind wir Deutschen fortschritts- und technikfeindlich? Oder woher kommt diese Ablehnung ihrer Meinung nach?
Nein, ich glaube nicht, dass es an mangelndem technischen Interesse liegt. Ganz im Gegenteil, ich halte die deutschen Theaterhäuser für die besten der Welt, weil es immer geradezu einen Spaß an Innovationen gibt und daran, etwas auszuprobieren. Viel mehr als in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich. In meinen 20 Jahren, die ich hier bereits arbeiten darf, habe ich die deutsche Theatertradition immer als eine Tradition der permanenten Revolution empfunden. Und Revolution ist manchmal chaotisch. Aber es ist ein großes Privileg, daran teilhaben zu dürfen.
Sie haben lange vorgearbeitet und entwickelt. Wann beginnen nun wirklich die Proben vor Ort?
Mitte Mai startet die Einrichtung, zuvor machen wir im März und April größere technische Tests. Mein Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) besteht aus sieben Kollegen, die mit mir alles vorbereiten, was wir dann in Bayreuth einbauen werden. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sofort alle 2.000 Plätze mit Brillen ausgestattet. Aber ich gehe ohnehin davon aus, dass in ein paar Jahren jeder sein eigenes Headset mitbringen wird. Meine Aufgabe als Regisseur ist und bleibt immer die, eine neue Welt zu kreieren. Die Mittel passen sich ganz einfach der Zeit an.
Als Regisseur und Technikexperte in einer Person arbeiten Sie in zwei eigentlich sehr unterschiedlichen Berufen. Wie haben Sie es geschafft, beides zu perfektionieren?
Ich arbeite in vielen Disziplinen, habe klassisches Ballett gemacht, vor Kurzem eine Rock’n’Roll-Arena-Tournee in Neuseeland, dazu Musicals, experimentelle Theaterstücke und Opern. Und ich hatte schon immer ein starkes persönliches Interesse an neuen Technologien.
Trotz allem ist es ein großer Unterschied, „Spaß“ an technischen Entwicklungen zu haben und sie professionell zu verstehen und einzusetzen. Das klingt eigentlich nach zwei Berufen.
Einiges von dem, was ich mir vorstelle, kann ich selbst realisieren und besitze eine Art professionellen Überblick darüber, was machbar ist und was nicht. Dann suche ich mir die passenden Spezialisten. Letztendlich bin ich in erster Linie verantwortlich für das Ergebnis und dafür, dass jeder Abend ein unvergesslicher wird.
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023