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Wie kann ich stören?

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Zwei Jahrzehnte lang stand sie in über 40 Sopran-Partien selbst auf der Bühne. Dann entschied sich Dr. Rebekah Rota für den Wechsel hinter die Kulissen und erwies sich als Allrounderin: erst Regie, Disposition und Operndirektion – und jetzt, seit vergangenem Herbst, ihre erste Intendanz an der Oper Wuppertal. Arbeiten im Krisenmodus ist der US-Amerikanerin dabei alles andere als fremd

Interview Florian Maier

Opernsängerinnen und -sänger sind eher selten an der Spitze eines Theaterbetriebes anzufinden. Wollen Sie ein Vorbild sein?
Das würde ich mir nie anmaßen. Es gibt den Spruch „Jeder ist austauschbar“. Das stimmt zwar, kann aber schnell dazu führen, dass jeder einzelne Akteur seine eigene Stimme unterschätzt – aus Angst, ersetzt zu werden, wenn man zu laut, zu unangenehm, zu diffizil ist. Wenn ich ein Vorbild für etwas sein könnte, dann wäre ich es gerne im Hinblick auf das Vertrauen, dass jeder Einzelne zählt. Man muss nur den richtigen Rahmen finden und manchmal ist das ein anderer als zunächst gedacht. Ich kann alles ein bisschen und alles ein bisschen schlecht – die beste Voraussetzung für eine Führungskraft. (lacht)

Sie waren 20 Jahre Sopranistin, bevor Sie ins ­Management gewechselt sind. Gab es ein Schlüsselerlebnis für diese Entscheidung?
Mehrere. In meiner Zeit als Sängerin habe ich es leider viel zu oft erlebt, nicht geschätzt zu werden. Ein Regisseur, der eine Oper inszeniert und stolz darauf ist, die Oper nicht zu kennen, lässt keine Frage, nicht den kürzesten Dialog zu. Ein Opernhaus, das sich weigert, weibliche und männliche Sänger gleich zu honorieren und nach vielen Jahren der Zusammenarbeit einen falschen Vertrag schickt, in dem nicht mal mein Name richtig geschrieben wird. Es kann für unsere Branche auf Dauer nicht gut sein, wenn Leitungsebenen kein Verständnis dafür haben, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Und oft schwingt eine gewisse Arroganz dem Publikum gegenüber auch noch mit, gespeist aus einem vermeintlich intellektuell-elitären Ansatz, der sich selbst genug ist.

Sie sind damals als alleinerziehende Mutter auf sich gestellt aus den USA nach Deutschland gekommen. Gab es Raum, über Ihre beruflichen Zweifel und ­Ängste zu sprechen?
Das war eine harte Zeit und ich fühlte mich sehr alleingelassen damit. Ich hatte zeitweilig auch Stimmknötchen und trotz toller Kolleginnen und Kollegen Angst, offen darüber zu reden – in unserem System fühlst Du Dich letzten Endes wie eine Einzelkämpferin. Dementsprechend dankbar war ich, dass ich es, dank einem hervorragenden Chirurgen an der Berlin Charité und entsprechendem Stimmtraining im Anschluss, nach sechs Monaten wieder auf die Bühne geschafft habe und dadurch ein besseres Verständnis für mein eigenes Handwerk gewonnen habe.

Als Violetta in Verdis „La traviata“ am Landestheater ­Neustrelitz, 2015 (Foto Tom Schweers)

Haben Sie das Gefühl, dass in der Branche inzwischen ein spürbarer Wandel einsetzt?
Es wird momentan zumindest sehr viel darüber geredet. In verschiedensten Initiativen wird versucht, mal mehr und mal weniger zu hinterfragen. Aber die Bereitschaft, wirklich große Schritte zu gehen, fehlt. Das würde voraussetzen, die Oper und ihre ursprüngliche Rolle als humanistische Stimme für die Gesellschaft zu betrachten und an diesem Grundsatz Finanzierung, Arbeitsbedingungen und vieles mehr neu auszurichten. In einem riesigen System Grundsätzliches infrage zu stellen, ist immer ein langer Prozess.

Ihre Wuppertaler Intendanz sind Sie mit einer „zukunftweisenden Vision von einem demokratischeren und weltoffenen Theater“ angetreten. Wie darf man sich diese Vision denn konkret vorstellen?
Sie betrifft drei Bereiche: die Prozesse hinter der Bühne; die Kunst, die wir produzieren; und unseren Umgang mit dem Publikum. Es ist klar, dass in den Theaterstrukturen, in denen ich jetzt arbeite, eine klare Entscheidungsstruktur vorgegeben ist. Die Unternehmenskultur, mit der wir diese Struktur jeden Tag beleben, versuche ich demokratischer zu gestalten. Und das heißt, beispielsweise Entscheidungen transparenter zu machen. Vorher wird definiert, welche Beteiligungsgruppen über welche Punkte entscheiden und nach welchen Parametern das geschieht. Beispielsweise wurde vor meiner Zeit am Haus ein sogenannter ­Orchesterüberbau veranlasst, unter dem das Orchester aus verschiedenen Gründen sehr gelitten hat. Ich wurde gleich zu Beginn meiner Intendanz gebeten, ihn entfernen zu lassen, wollte das aber nicht einfach so aus dem Bauch heraus entscheiden, ohne alle Fakten zu kennen. Deshalb habe ich das Orchester, die Musikalische Leitung, aber auch den Chor und die Solisten auf der Bühne und die Technik miteinbezogen. In den Bühnenorchesterproben für „Tristan und Isolde“ wurde einmal mit und einmal ohne den Überbau gespielt, ich saß beide Male im Graben, um mich in die Perspektive des Orchesters hineinzuversetzen. Am Ende haben wir diskutiert und die finale Entscheidung habe zwar ich getroffen, aber im Konsens mit meinen Mitarbeitenden. Inzwischen ist der Überbau entfernt worden.

Passend dazu haben Sie als „erste Amtshandlung“ einen strategischen Opernbeirat ins Leben gerufen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Gewerken und Abteilungen eingeladen, sich darin einzubringen. Wie fielen die Reaktionen aus?
Sehr positiv. Ich hatte allerdings ehrlicherweise erwartet, dass sich am Ende mehr Menschen dafür anmelden würden. Das Interesse ist bis jetzt noch zurückhaltend. Ich bin aber sehr glücklich mit dem Team, mit mir sind wir zu acht in einer super Mischung querbeet durch das ganze Haus, vom Orchester und der Bühnentechnik bis hin zu Maske und Requisite. Wir hatten ein erstes Treffen und werden im Januar wieder zusammenkommen – mal sehen, wohin die Reise geht.

Im Zuge Ihrer Berufung als Opernintendantin sprach der Wuppertaler Kulturdezernent ­Matthias Nocke von einem „inhaltlich und künstlerisch ausgezeichneten Spielplan für gleich fünf Spielzeiten, der nicht nur durchgerechnet war, sondern auch von handwerklich exzellenter Qualität ist“. Was sind denn Ihre großen Leitlinien für die nächsten Jahre?
Ein ganz wesentlicher roter Faden in der Programmatik sind zeitgenössische Opern von internationalen Komponistinnen und Komponisten zu gesellschaftlich relevanten und ja, auch sehr schwierigen Thematiken. „Angel’s Bone“ von Du Yun hat den Auftakt gebildet, es geht darin um moderne Sklaverei und Menschenhandel. Das Werk für die kommende Spielzeit entsteht gerade, die Kammeroper „Suites for Sleeping Children“ als Auftragsarbeit der libanesischen Komponistin Layale Chaker. Wir werden uns darin in Koproduktion mit dem ­Spoleto Festival und der niederländischen Reis­opera den Traumata geflüchteter Kinder stellen. Eine weitere wichtige Leitlinie meiner Programmatik ist es, Opern unbekannter Komponistinnen zur Aufführung zu bringen. Stücke, die einen Bezug zu Wuppertal haben, sind ebenso ein wichtiger Baustein. Zur Vermittlung der Faszination, die von der Oper ausgehen kann, nutzen wir Edutainment-Programme wie beispielsweise „Das ­Universum der menschlichen Stimme“, die regelmäßig an Orten außerhalb des Opernhauses stattfinden.

Missbrauchte Engel in ­Käfighaltung: Du Yuns „Angel’s Bone“ im Herbst 2023 (Foto Oper Wuppertal/Daniel Senzek)

Die Reaktionen zu „Angel’s Bone“ fielen teils sehr emotional aus, weil die Zuschauer „hartem ­Tobak“ zu Problemen unserer Zeit ausgesetzt wurden. Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Woher rühren diese Wider­stände?
Ich glaube, das ist nicht nur ein Problem der Oper, sondern ein Problem unserer Gesellschaft. Natürlich ist es keine schöne Sache, mit schwierigen oder unangenehmen Themen konfrontiert zu werden – vor allem dann, wenn man an diesem Abend eine Erwartung des Konsumierens oder des rein ästhetischen Genusses hat. Aber die Operntradition ist eine sehr lange – historisch gesehen waren nicht wenige Werke immer schon sehr politisch, aktuell und haben für Aufruhr gesorgt. Unser Publikum ist ein sehr breites und ja, es gibt diese eher ablehnenden Stimmen, aber durchaus auch andere, die es sehr begrüßen, solche Stoffe zu sehen. Ich hoffe, in meiner Spielplansetzung einen Platz zu finden für alle diese Stimmen, ich will nicht nur eine bedienen.

Ist die Diskussion darüber schon der halbe Gewinn?
In der Tat, die Diskussion über „Angel’s Bone“ hat ein Scheinwerferlicht auf das problematische Thema Menschenhandel geworfen und zu Diskussionen über Möglichkeiten zur Verbesserung geführt – insbesondere in den begleitenden Nebenprogrammen.

Schlagzeilen gemacht haben Sie erst kürzlich mit dem Slogan „Lego trifft Ikea“. Was steckt ­dahinter?
Unser neues Konzept für ein wiederverwend­bares und damit nachhaltiges Bühnenbildsystem, „­Modular Stage Zero“. Gedanklich ist das eine Erweiterung praktikabler Podeste, die an jedem Theater schon vorhanden sind. Das Grundmaterial ist aber viel filigraner und kann in der Oberfläche schnell und individuell beschichtet werden, sodass das Ergebnis bei jeder Oper wie ein komplett neues Bühnenbild wirkt. Im Prinzip wie Lego­steine auf Rädern, die 360 Grad bespielt werden können. In den nächsten Jahren werden wir für ausgewählte Inszenierungen den Produktionsteams immer wieder die Vorgabe machen, mit „Modular Stage Zero“ zu arbeiten. Und diese können dann auch neue passende Teile anfertigen lassen, die sich in das System einfügen – so, als ob ein Kind zu Weihnachten ein neues Lego-Set bekommt. Über die Jahre wird das Gesamtkonstrukt also immer mehr zu bieten haben.

Ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckt derzeit ein innovatives Pilotprojekt, „Spür zu: Oper zum Fühlen“. Audiodeskription in der Oper kommt inzwischen vermehrt zum Einsatz, Angebote für gehörlose und hörbeeinträchtige ­Menschen waren gerade in dieser Kunstform dagegen lange Zeit kaum vorstellbar. Wie funktioniert das Ganze?
Ich habe einen persönlichen Zugang zur Gebärdensprache, meine Schwägerin ist Lehrerin. Als dann meine Tochter geboren wurde, habe ich ihr von Beginn an die Gebärdensprache beigebracht, weil Kinder auf diese Weise nachgewiesenermaßen schon extrem früh kommunizieren können. Das hat tatsächlich geklappt, mit einem Jahr hatte sie schon einen Wortschatz von 100 Wörtern, lange, bevor sie Englisch und Deutsch sprechen konnte. So ist auch ein Kontakt zur entsprechenden ­Community entstanden. In den USA ist diese viel größer als hier, wodurch auch das Konzertangebot in dieser Hinsicht viel weiter fortgeschritten ist. Als ich dann noch auf einen Bericht zu sogenannten „Sound Shirts“ der Firma CuteCircuit gestoßen bin, ist in mir die Idee entstanden, ein solches Angebot auch für unser Publikum zu entwickeln. Bei „Spür zu“ werden wir mit solchen ausleihbaren Sound Shirts arbeiten. Diese verwandeln die Töne in feine Vibrationen und übertragen sie drahtlos auf den Menschen. Man kann beispielsweise programmieren, dass die tieferen Töne in den Brustbereich übertragen werden, die Trompeten auf den Rücken oder die Geiger auf die Arme. Inzwischen ist die Technologie ausgereift genug, um das nötige Feingefühl für so etwas Komplexes wie Musiktheater zu liefern.

Opernhaus Wuppertal (Foto Andreas Fischer)

Wie weit sind Sie denn damit? Arbeiten Sie wissenschaftlich mit einem Kooperationspartner?
Anfang 2024 sollten wir die Sound Shirts vorliegen haben, um damit zunächst intern zu proben und an den Einstellungen zu feilen. Unser bester Ratgeber ist derzeit die Lyric Opera of Chicago. Das ist bisher das einzige Opernhaus weltweit, das diese Technologie eingesetzt hat – im Konzertbereich gibt es schon mehr Veranstalter mit diesbezüglichen Erfahrungen. Chicago hat in der letzten Spielzeit damit begonnen und viel positives Feedback aus der Stadtgesellschaft erhalten. Wir sind in engem Austausch, um aus den dortigen Erfahrungen zu lernen. Denn letztendlich ist die Oper im Kern ein Gesamterlebnis für alle Sinne, eine unmittelbare Kommunikation von einem Menschenherzen direkt an ein anderes. Und davon sollte keine Gesellschaftsgruppe ausgeschlossen sein.

Was kann das deutschsprachige Musiktheater denn sonst noch von der amerikanischen Szene lernen?
Es gibt im amerikanischen Raum natürlich ebenso konservative Systeme und Stimmen wie hier. Aber was ich sehr schätze ist die Einstellung, dass eine moderne musikalische Sprache nicht automatisch ausschließt, dass sie auch zugänglich sein kann. Musiktheater kann zugleich anspruchsvoll und verständlich, intellektuell und emotional sein. In der deutschen Tradition wird das Ganze in meiner Wahrnehmung allzu oft zu einem „Entweder/oder“ stilisiert und die eine Seite damit verpönt. In den USA ist die Haltung entspannter: „I don’t care where it’s coming from“ – wenn etwas gut ist, dann wird es auch genutzt.

Würden Sie Ihre Arbeitsmentalität auch Ihrer Prägung als US-Amerikanerin zuschreiben?
Ich glaube nicht, dass das an meiner Herkunft liegt. Aber dadurch, dass ich genauso viel zuhause und fremd bin in beiden Ländern, habe ich einen gewissen Outsider-Status, den ich bewusst sehr pflege. Ich halte das jedoch für eine persönliche Eigenschaft, die nichts mit meinem Status als Amerikanerin, als Sängerin oder auch als Frau zu tun hat. Wenn alles ruhig ist, dann überlege ich: Wie kann ich stören? Und wenn alles gestört und aufgewühlt ist, dann ­suche ich die Ruhe. Hauptsache, es ist anders, mit dem Ziel, altvertraute Muster aufzubrechen.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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Singen gegen den Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

Der in Kyiv lebende ukrainische Countertenor Roman Melish ­veranstaltet deutsch-ukrainische Liederabende zur seelischen Stärkung der Bevölkerung. Wie ist die Stimmung im Land nach fast zwei Jahren Krieg? Wie kann Musik im Widerstand helfen?

von Georg Rudiger

Bis Mitte November durfte Roman Melish nicht sprechen. Im Sommer hatte der ukrainische Sänger seine Stimme komplett verloren. Nachdem er noch ein Konzert für Mütter von gefallenen Soldatinnen und Soldaten gegeben hatte, versagte sein „Instrument“, mit dem er im Krieg schon häufig Trost und Hoffnung spendete. „Man hat alles verloren, für das man sein Leben lang gearbeitet hat. Zunächst fühlte ich, dass ich selbst verloren bin. Ich weiß auch nicht, ob die Stimme so wiederkommt, wie sie war“, sagt er beim Videogespräch Ende November in seiner Wohnung in Kyiv, die bisher von Raketen- und Drohnenangriffen verschont blieb. „Das Sprechverbot über mehrere Wochen war hart. Ich konnte meine Gefühle nicht teilen – das war sehr schwierig. Auf der anderen Seite habe ich in dieser stillen Zeit mehr beobachten können: Menschen auf der Straße oder Bäume im Wind. Und mehr Musik gehört.“ In den nächsten Wochen tastet er sich in Absprache mit seinem Arzt langsam an seine Stimme heran. Als Countertenor soll er auf jeden Fall noch warten. Wenn die Heilung nicht auf konventionellem Weg gelingt, steht wohl eine Laser-­Operation an den Stimmbändern an. Aber das könnte nicht in der Ukraine gemacht werden. Warum seine Stimme derart beschädigt wurde, weiß er nicht. Wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung nach 20 Kriegsmonaten im Dauerstress.

Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Melish im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. „Ich war total gelähmt und hatte unglaubliche Angst.“ Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Kyiv zurückkehren. Nun herrschte überall Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. „Mein Bruder und ich haben unsere Dokumente gerichtet und einen Koffer gepackt für den Fall, dass wir fliehen müssen“, berichtete er im Januar 2023 in einem ersten persönlichen Gespräch. Erst am 6. April 2022 kehrt er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kyiv zurück. Und erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-Bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde. Am Anfang habe er sich als Musiker völlig nutzlos gefühlt im Krieg, aber das habe sich geändert. „Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.“

„Wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Roman Melish singt in der Bibliothek von Irpin, einer ehemals ­russisch besetzten Stadt in der Nähe von Kyiv (Foto Yevhen Petrychenko)

Besonders stark empfand er den Trost und die Stärkung durch die Musik bei den beiden Liederabenden, die er mit Kolleginnen und Kollegen im November 2022 in Irpin und Kyiv gab. „Solospivy yednannia. An die Musik“, lautete der Titel. Das von Franz Schubert vertonte Gedicht Franz von Schobers stand im Mittelpunkt. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden, hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ lauten die Verse, die im Kriegskontext nochmals an Tiefe und Bedeutung gewannen. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge konnten sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Dass diese beiden deutsch-ukrainischen Liederabende stattgefunden haben, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von „LIEDBasel“ hat mit Roman ­Melish zusammen in Basel studiert. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Melishs Instagram-Profil furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf. „Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Silke Gäng hat mit ihrem Team von „LIEDBasel“ Spenden gesammelt für dieses außergewöhnliche Projekt und gemeinsam mit Roman Melish das Programm zusammengestellt. Es gelang ihr sogar, im April 2023 den befreundeten Sänger mit der Sopranistin Ivanna Plish und dem Pianisten Andrii Vasin für ein Sonderkonzert zum Festival von Kyiv nach Basel zu holen. Taras Stoliar, der bei den Liederabenden in der Ukraine noch die Lautenzither Bandura – das ukrainische Nationalinstrument – spielte, erhielt kurzfristig keine Ausreisegenehmigung, weil die Frühjahrsoffensive der Ukraine anstand und er dafür als Soldat zur Verfügung stehen musste. Heute ist Stoliar mit seiner Musik an der Front und spielt für seine Kameradinnen und Kameraden Metallica-Songs auf dem zart klingenden Instrument. Für das Basler Konzert sprang die in der Schweiz lebende Dirigentin und Banduraspielerin ­Sviatoslava Luchenko ein und rettete den Abend, den Silke Gäng als sehr emotional in Erinnerung behielt. „Viele ukrainische Freunde von Roman waren da. Und auch unserem Publikum ging das Konzert nahe.“

Liederabend in der St.-Andreas-Kirche in Kyiv. Taras Stoliar, der als Frontsoldat seinen Dienst leistet, spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument (Foto Yevhen Petrychenko)

„Werden wir noch leben im Februar?“

Auch für Roman Melish war dieses Konzert ein Lichtblick in dunkler Zeit. „Russland möchte mit den Angriffen auf die Zivilbevölkerung unsere Moral brechen. Die Aufmerksamkeit und Unterstützung aus Basel helfen dabei, sich nicht alleine zu fühlen. Natürlich sind wir manchmal völlig erschöpft und hoffnungslos. Aber von unserem Konzert in Basel konnten wir noch lange zehren. Das war ein Licht in der Dunkelheit. Und wir brauchen weiterhin dieses Licht, um es anderen weitergeben zu können, die es dringend benötigen.“ Natürlich habe er geglaubt, dass der Krieg früher enden würde. Aber er könne den Kriegsverlauf nicht beeinflussen, sagt er mit ruhiger Stimme. Er unterstützt die Armee mit Spenden. Und berichtet seinen Freunden im Ausland vom Schicksal seines Landes, das durch den Krieg in Israel an Aufmerksamkeit verloren hat. Vom persönlichen Militärdienst ist Melish bislang freigestellt. „Ich habe Angst davor, dass ich selbst mal an die Front muss. Aber wir brauchen Leute dort. Unser Feind Russland hat mehr Soldaten. Für Putin sind Menschenleben nicht wichtig. In der ­Ukraine zählt jedes einzelne Leben. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir so lange Widerstand leisten. Wir haben eine starke Armee. Vor allem aber haben wir eine starke Moral und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.“

Und wie kann Musik in der derzeitigen Situation helfen? Die Ukraine bräuchte mehr Waffen und mehr Soldaten. Aber Musik könne trösten und dabei helfen, erlittenes Leid zu verarbeiten. Roman Melish erzählt von seinem letzten Konzert, vom Weinen einer Mutter um ihren getöteten Sohn, einem ausgezeichneten Piloten. „Sie spürte durch unseren Gesang, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Trauer. Wir vergessen nie, dass Dein Sohn gestorben ist, damit wir immer noch leben.“ Obwohl er nicht weiß, ob sich seine Stimme vollständig regeneriert, plant er nun gemeinsam mit Silke Gäng neue Liederabende, die um den 24. Februar 2024, den zweiten Jahrestag des Krieges, in Kyiv stattfinden sollen. Auf dem Programm stehen dieses Mal Vokalquartette von Johannes Brahms und Hans Huber, eines ­Schweizer Komponisten, und viel ­ukrainische Musik. Sie möchten damit in größeren Sälen wie der Universität und der Philharmonie auftreten. „Es ist schön etwas vorzubereiten, auch wenn wir nie wissen, was morgen sein wird. Werden wir noch leben im Februar? Ich weiß es nicht, aber wir müssen nach vorne schauen. Wir werden das alles organisieren. Und hoffen darauf, dass die Liederabende stattfinden können. Die Konzerte wären wichtig für uns – und natürlich für unser Publikum.“

„An die Musik – Song Recitals in Times of War“
Videomitschnitt des Livekonzerts vom 25. November 2022 in Kyiv auf YouTube

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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