Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status
Zwei Jahrzehnte lang stand sie in über 40 Sopran-Partien selbst auf der Bühne. Dann entschied sich Dr. Rebekah Rota für den Wechsel hinter die Kulissen und erwies sich als Allrounderin: erst Regie, Disposition und Operndirektion – und jetzt, seit vergangenem Herbst, ihre erste Intendanz an der Oper Wuppertal. Arbeiten im Krisenmodus ist der US-Amerikanerin dabei alles andere als fremd
Interview Florian Maier
Opernsängerinnen und -sänger sind eher selten an der Spitze eines Theaterbetriebes anzufinden. Wollen Sie ein Vorbild sein?
Das würde ich mir nie anmaßen. Es gibt den Spruch „Jeder ist austauschbar“. Das stimmt zwar, kann aber schnell dazu führen, dass jeder einzelne Akteur seine eigene Stimme unterschätzt – aus Angst, ersetzt zu werden, wenn man zu laut, zu unangenehm, zu diffizil ist. Wenn ich ein Vorbild für etwas sein könnte, dann wäre ich es gerne im Hinblick auf das Vertrauen, dass jeder Einzelne zählt. Man muss nur den richtigen Rahmen finden und manchmal ist das ein anderer als zunächst gedacht. Ich kann alles ein bisschen und alles ein bisschen schlecht – die beste Voraussetzung für eine Führungskraft. (lacht)
Sie waren 20 Jahre Sopranistin, bevor Sie ins Management gewechselt sind. Gab es ein Schlüsselerlebnis für diese Entscheidung?
Mehrere. In meiner Zeit als Sängerin habe ich es leider viel zu oft erlebt, nicht geschätzt zu werden. Ein Regisseur, der eine Oper inszeniert und stolz darauf ist, die Oper nicht zu kennen, lässt keine Frage, nicht den kürzesten Dialog zu. Ein Opernhaus, das sich weigert, weibliche und männliche Sänger gleich zu honorieren und nach vielen Jahren der Zusammenarbeit einen falschen Vertrag schickt, in dem nicht mal mein Name richtig geschrieben wird. Es kann für unsere Branche auf Dauer nicht gut sein, wenn Leitungsebenen kein Verständnis dafür haben, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Und oft schwingt eine gewisse Arroganz dem Publikum gegenüber auch noch mit, gespeist aus einem vermeintlich intellektuell-elitären Ansatz, der sich selbst genug ist.
Sie sind damals als alleinerziehende Mutter auf sich gestellt aus den USA nach Deutschland gekommen. Gab es Raum, über Ihre beruflichen Zweifel und Ängste zu sprechen?
Das war eine harte Zeit und ich fühlte mich sehr alleingelassen damit. Ich hatte zeitweilig auch Stimmknötchen und trotz toller Kolleginnen und Kollegen Angst, offen darüber zu reden – in unserem System fühlst Du Dich letzten Endes wie eine Einzelkämpferin. Dementsprechend dankbar war ich, dass ich es, dank einem hervorragenden Chirurgen an der Berlin Charité und entsprechendem Stimmtraining im Anschluss, nach sechs Monaten wieder auf die Bühne geschafft habe und dadurch ein besseres Verständnis für mein eigenes Handwerk gewonnen habe.
Haben Sie das Gefühl, dass in der Branche inzwischen ein spürbarer Wandel einsetzt?
Es wird momentan zumindest sehr viel darüber geredet. In verschiedensten Initiativen wird versucht, mal mehr und mal weniger zu hinterfragen. Aber die Bereitschaft, wirklich große Schritte zu gehen, fehlt. Das würde voraussetzen, die Oper und ihre ursprüngliche Rolle als humanistische Stimme für die Gesellschaft zu betrachten und an diesem Grundsatz Finanzierung, Arbeitsbedingungen und vieles mehr neu auszurichten. In einem riesigen System Grundsätzliches infrage zu stellen, ist immer ein langer Prozess.
Ihre Wuppertaler Intendanz sind Sie mit einer „zukunftweisenden Vision von einem demokratischeren und weltoffenen Theater“ angetreten. Wie darf man sich diese Vision denn konkret vorstellen?
Sie betrifft drei Bereiche: die Prozesse hinter der Bühne; die Kunst, die wir produzieren; und unseren Umgang mit dem Publikum. Es ist klar, dass in den Theaterstrukturen, in denen ich jetzt arbeite, eine klare Entscheidungsstruktur vorgegeben ist. Die Unternehmenskultur, mit der wir diese Struktur jeden Tag beleben, versuche ich demokratischer zu gestalten. Und das heißt, beispielsweise Entscheidungen transparenter zu machen. Vorher wird definiert, welche Beteiligungsgruppen über welche Punkte entscheiden und nach welchen Parametern das geschieht. Beispielsweise wurde vor meiner Zeit am Haus ein sogenannter Orchesterüberbau veranlasst, unter dem das Orchester aus verschiedenen Gründen sehr gelitten hat. Ich wurde gleich zu Beginn meiner Intendanz gebeten, ihn entfernen zu lassen, wollte das aber nicht einfach so aus dem Bauch heraus entscheiden, ohne alle Fakten zu kennen. Deshalb habe ich das Orchester, die Musikalische Leitung, aber auch den Chor und die Solisten auf der Bühne und die Technik miteinbezogen. In den Bühnenorchesterproben für „Tristan und Isolde“ wurde einmal mit und einmal ohne den Überbau gespielt, ich saß beide Male im Graben, um mich in die Perspektive des Orchesters hineinzuversetzen. Am Ende haben wir diskutiert und die finale Entscheidung habe zwar ich getroffen, aber im Konsens mit meinen Mitarbeitenden. Inzwischen ist der Überbau entfernt worden.
Passend dazu haben Sie als „erste Amtshandlung“ einen strategischen Opernbeirat ins Leben gerufen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Gewerken und Abteilungen eingeladen, sich darin einzubringen. Wie fielen die Reaktionen aus?
Sehr positiv. Ich hatte allerdings ehrlicherweise erwartet, dass sich am Ende mehr Menschen dafür anmelden würden. Das Interesse ist bis jetzt noch zurückhaltend. Ich bin aber sehr glücklich mit dem Team, mit mir sind wir zu acht in einer super Mischung querbeet durch das ganze Haus, vom Orchester und der Bühnentechnik bis hin zu Maske und Requisite. Wir hatten ein erstes Treffen und werden im Januar wieder zusammenkommen – mal sehen, wohin die Reise geht.
Im Zuge Ihrer Berufung als Opernintendantin sprach der Wuppertaler Kulturdezernent Matthias Nocke von einem „inhaltlich und künstlerisch ausgezeichneten Spielplan für gleich fünf Spielzeiten, der nicht nur durchgerechnet war, sondern auch von handwerklich exzellenter Qualität ist“. Was sind denn Ihre großen Leitlinien für die nächsten Jahre?
Ein ganz wesentlicher roter Faden in der Programmatik sind zeitgenössische Opern von internationalen Komponistinnen und Komponisten zu gesellschaftlich relevanten und ja, auch sehr schwierigen Thematiken. „Angel’s Bone“ von Du Yun hat den Auftakt gebildet, es geht darin um moderne Sklaverei und Menschenhandel. Das Werk für die kommende Spielzeit entsteht gerade, die Kammeroper „Suites for Sleeping Children“ als Auftragsarbeit der libanesischen Komponistin Layale Chaker. Wir werden uns darin in Koproduktion mit dem Spoleto Festival und der niederländischen Reisopera den Traumata geflüchteter Kinder stellen. Eine weitere wichtige Leitlinie meiner Programmatik ist es, Opern unbekannter Komponistinnen zur Aufführung zu bringen. Stücke, die einen Bezug zu Wuppertal haben, sind ebenso ein wichtiger Baustein. Zur Vermittlung der Faszination, die von der Oper ausgehen kann, nutzen wir Edutainment-Programme wie beispielsweise „Das Universum der menschlichen Stimme“, die regelmäßig an Orten außerhalb des Opernhauses stattfinden.
Die Reaktionen zu „Angel’s Bone“ fielen teils sehr emotional aus, weil die Zuschauer „hartem Tobak“ zu Problemen unserer Zeit ausgesetzt wurden. Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Woher rühren diese Widerstände?
Ich glaube, das ist nicht nur ein Problem der Oper, sondern ein Problem unserer Gesellschaft. Natürlich ist es keine schöne Sache, mit schwierigen oder unangenehmen Themen konfrontiert zu werden – vor allem dann, wenn man an diesem Abend eine Erwartung des Konsumierens oder des rein ästhetischen Genusses hat. Aber die Operntradition ist eine sehr lange – historisch gesehen waren nicht wenige Werke immer schon sehr politisch, aktuell und haben für Aufruhr gesorgt. Unser Publikum ist ein sehr breites und ja, es gibt diese eher ablehnenden Stimmen, aber durchaus auch andere, die es sehr begrüßen, solche Stoffe zu sehen. Ich hoffe, in meiner Spielplansetzung einen Platz zu finden für alle diese Stimmen, ich will nicht nur eine bedienen.
Ist die Diskussion darüber schon der halbe Gewinn?
In der Tat, die Diskussion über „Angel’s Bone“ hat ein Scheinwerferlicht auf das problematische Thema Menschenhandel geworfen und zu Diskussionen über Möglichkeiten zur Verbesserung geführt – insbesondere in den begleitenden Nebenprogrammen.
Schlagzeilen gemacht haben Sie erst kürzlich mit dem Slogan „Lego trifft Ikea“. Was steckt dahinter?
Unser neues Konzept für ein wiederverwendbares und damit nachhaltiges Bühnenbildsystem, „Modular Stage Zero“. Gedanklich ist das eine Erweiterung praktikabler Podeste, die an jedem Theater schon vorhanden sind. Das Grundmaterial ist aber viel filigraner und kann in der Oberfläche schnell und individuell beschichtet werden, sodass das Ergebnis bei jeder Oper wie ein komplett neues Bühnenbild wirkt. Im Prinzip wie Legosteine auf Rädern, die 360 Grad bespielt werden können. In den nächsten Jahren werden wir für ausgewählte Inszenierungen den Produktionsteams immer wieder die Vorgabe machen, mit „Modular Stage Zero“ zu arbeiten. Und diese können dann auch neue passende Teile anfertigen lassen, die sich in das System einfügen – so, als ob ein Kind zu Weihnachten ein neues Lego-Set bekommt. Über die Jahre wird das Gesamtkonstrukt also immer mehr zu bieten haben.
Ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckt derzeit ein innovatives Pilotprojekt, „Spür zu: Oper zum Fühlen“. Audiodeskription in der Oper kommt inzwischen vermehrt zum Einsatz, Angebote für gehörlose und hörbeeinträchtige Menschen waren gerade in dieser Kunstform dagegen lange Zeit kaum vorstellbar. Wie funktioniert das Ganze?
Ich habe einen persönlichen Zugang zur Gebärdensprache, meine Schwägerin ist Lehrerin. Als dann meine Tochter geboren wurde, habe ich ihr von Beginn an die Gebärdensprache beigebracht, weil Kinder auf diese Weise nachgewiesenermaßen schon extrem früh kommunizieren können. Das hat tatsächlich geklappt, mit einem Jahr hatte sie schon einen Wortschatz von 100 Wörtern, lange, bevor sie Englisch und Deutsch sprechen konnte. So ist auch ein Kontakt zur entsprechenden Community entstanden. In den USA ist diese viel größer als hier, wodurch auch das Konzertangebot in dieser Hinsicht viel weiter fortgeschritten ist. Als ich dann noch auf einen Bericht zu sogenannten „Sound Shirts“ der Firma CuteCircuit gestoßen bin, ist in mir die Idee entstanden, ein solches Angebot auch für unser Publikum zu entwickeln. Bei „Spür zu“ werden wir mit solchen ausleihbaren Sound Shirts arbeiten. Diese verwandeln die Töne in feine Vibrationen und übertragen sie drahtlos auf den Menschen. Man kann beispielsweise programmieren, dass die tieferen Töne in den Brustbereich übertragen werden, die Trompeten auf den Rücken oder die Geiger auf die Arme. Inzwischen ist die Technologie ausgereift genug, um das nötige Feingefühl für so etwas Komplexes wie Musiktheater zu liefern.
Wie weit sind Sie denn damit? Arbeiten Sie wissenschaftlich mit einem Kooperationspartner?
Anfang 2024 sollten wir die Sound Shirts vorliegen haben, um damit zunächst intern zu proben und an den Einstellungen zu feilen. Unser bester Ratgeber ist derzeit die Lyric Opera of Chicago. Das ist bisher das einzige Opernhaus weltweit, das diese Technologie eingesetzt hat – im Konzertbereich gibt es schon mehr Veranstalter mit diesbezüglichen Erfahrungen. Chicago hat in der letzten Spielzeit damit begonnen und viel positives Feedback aus der Stadtgesellschaft erhalten. Wir sind in engem Austausch, um aus den dortigen Erfahrungen zu lernen. Denn letztendlich ist die Oper im Kern ein Gesamterlebnis für alle Sinne, eine unmittelbare Kommunikation von einem Menschenherzen direkt an ein anderes. Und davon sollte keine Gesellschaftsgruppe ausgeschlossen sein.
Was kann das deutschsprachige Musiktheater denn sonst noch von der amerikanischen Szene lernen?
Es gibt im amerikanischen Raum natürlich ebenso konservative Systeme und Stimmen wie hier. Aber was ich sehr schätze ist die Einstellung, dass eine moderne musikalische Sprache nicht automatisch ausschließt, dass sie auch zugänglich sein kann. Musiktheater kann zugleich anspruchsvoll und verständlich, intellektuell und emotional sein. In der deutschen Tradition wird das Ganze in meiner Wahrnehmung allzu oft zu einem „Entweder/oder“ stilisiert und die eine Seite damit verpönt. In den USA ist die Haltung entspannter: „I don’t care where it’s coming from“ – wenn etwas gut ist, dann wird es auch genutzt.
Würden Sie Ihre Arbeitsmentalität auch Ihrer Prägung als US-Amerikanerin zuschreiben?
Ich glaube nicht, dass das an meiner Herkunft liegt. Aber dadurch, dass ich genauso viel zuhause und fremd bin in beiden Ländern, habe ich einen gewissen Outsider-Status, den ich bewusst sehr pflege. Ich halte das jedoch für eine persönliche Eigenschaft, die nichts mit meinem Status als Amerikanerin, als Sängerin oder auch als Frau zu tun hat. Wenn alles ruhig ist, dann überlege ich: Wie kann ich stören? Und wenn alles gestört und aufgewühlt ist, dann suche ich die Ruhe. Hauptsache, es ist anders, mit dem Ziel, altvertraute Muster aufzubrechen.
Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024