Der in Kyiv lebende ukrainische Countertenor Roman Melish ­veranstaltet deutsch-ukrainische Liederabende zur seelischen Stärkung der Bevölkerung. Wie ist die Stimmung im Land nach fast zwei Jahren Krieg? Wie kann Musik im Widerstand helfen?

von Georg Rudiger

Bis Mitte November durfte Roman Melish nicht sprechen. Im Sommer hatte der ukrainische Sänger seine Stimme komplett verloren. Nachdem er noch ein Konzert für Mütter von gefallenen Soldatinnen und Soldaten gegeben hatte, versagte sein „Instrument“, mit dem er im Krieg schon häufig Trost und Hoffnung spendete. „Man hat alles verloren, für das man sein Leben lang gearbeitet hat. Zunächst fühlte ich, dass ich selbst verloren bin. Ich weiß auch nicht, ob die Stimme so wiederkommt, wie sie war“, sagt er beim Videogespräch Ende November in seiner Wohnung in Kyiv, die bisher von Raketen- und Drohnenangriffen verschont blieb. „Das Sprechverbot über mehrere Wochen war hart. Ich konnte meine Gefühle nicht teilen – das war sehr schwierig. Auf der anderen Seite habe ich in dieser stillen Zeit mehr beobachten können: Menschen auf der Straße oder Bäume im Wind. Und mehr Musik gehört.“ In den nächsten Wochen tastet er sich in Absprache mit seinem Arzt langsam an seine Stimme heran. Als Countertenor soll er auf jeden Fall noch warten. Wenn die Heilung nicht auf konventionellem Weg gelingt, steht wohl eine Laser-­Operation an den Stimmbändern an. Aber das könnte nicht in der Ukraine gemacht werden. Warum seine Stimme derart beschädigt wurde, weiß er nicht. Wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung nach 20 Kriegsmonaten im Dauerstress.

Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Melish im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. „Ich war total gelähmt und hatte unglaubliche Angst.“ Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Kyiv zurückkehren. Nun herrschte überall Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. „Mein Bruder und ich haben unsere Dokumente gerichtet und einen Koffer gepackt für den Fall, dass wir fliehen müssen“, berichtete er im Januar 2023 in einem ersten persönlichen Gespräch. Erst am 6. April 2022 kehrt er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kyiv zurück. Und erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-Bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde. Am Anfang habe er sich als Musiker völlig nutzlos gefühlt im Krieg, aber das habe sich geändert. „Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.“

„Wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Roman Melish singt in der Bibliothek von Irpin, einer ehemals ­russisch besetzten Stadt in der Nähe von Kyiv (Foto Yevhen Petrychenko)

Besonders stark empfand er den Trost und die Stärkung durch die Musik bei den beiden Liederabenden, die er mit Kolleginnen und Kollegen im November 2022 in Irpin und Kyiv gab. „Solospivy yednannia. An die Musik“, lautete der Titel. Das von Franz Schubert vertonte Gedicht Franz von Schobers stand im Mittelpunkt. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden, hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ lauten die Verse, die im Kriegskontext nochmals an Tiefe und Bedeutung gewannen. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge konnten sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Dass diese beiden deutsch-ukrainischen Liederabende stattgefunden haben, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von „LIEDBasel“ hat mit Roman ­Melish zusammen in Basel studiert. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Melishs Instagram-Profil furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf. „Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Silke Gäng hat mit ihrem Team von „LIEDBasel“ Spenden gesammelt für dieses außergewöhnliche Projekt und gemeinsam mit Roman Melish das Programm zusammengestellt. Es gelang ihr sogar, im April 2023 den befreundeten Sänger mit der Sopranistin Ivanna Plish und dem Pianisten Andrii Vasin für ein Sonderkonzert zum Festival von Kyiv nach Basel zu holen. Taras Stoliar, der bei den Liederabenden in der Ukraine noch die Lautenzither Bandura – das ukrainische Nationalinstrument – spielte, erhielt kurzfristig keine Ausreisegenehmigung, weil die Frühjahrsoffensive der Ukraine anstand und er dafür als Soldat zur Verfügung stehen musste. Heute ist Stoliar mit seiner Musik an der Front und spielt für seine Kameradinnen und Kameraden Metallica-Songs auf dem zart klingenden Instrument. Für das Basler Konzert sprang die in der Schweiz lebende Dirigentin und Banduraspielerin ­Sviatoslava Luchenko ein und rettete den Abend, den Silke Gäng als sehr emotional in Erinnerung behielt. „Viele ukrainische Freunde von Roman waren da. Und auch unserem Publikum ging das Konzert nahe.“

Liederabend in der St.-Andreas-Kirche in Kyiv. Taras Stoliar, der als Frontsoldat seinen Dienst leistet, spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument (Foto Yevhen Petrychenko)

„Werden wir noch leben im Februar?“

Auch für Roman Melish war dieses Konzert ein Lichtblick in dunkler Zeit. „Russland möchte mit den Angriffen auf die Zivilbevölkerung unsere Moral brechen. Die Aufmerksamkeit und Unterstützung aus Basel helfen dabei, sich nicht alleine zu fühlen. Natürlich sind wir manchmal völlig erschöpft und hoffnungslos. Aber von unserem Konzert in Basel konnten wir noch lange zehren. Das war ein Licht in der Dunkelheit. Und wir brauchen weiterhin dieses Licht, um es anderen weitergeben zu können, die es dringend benötigen.“ Natürlich habe er geglaubt, dass der Krieg früher enden würde. Aber er könne den Kriegsverlauf nicht beeinflussen, sagt er mit ruhiger Stimme. Er unterstützt die Armee mit Spenden. Und berichtet seinen Freunden im Ausland vom Schicksal seines Landes, das durch den Krieg in Israel an Aufmerksamkeit verloren hat. Vom persönlichen Militärdienst ist Melish bislang freigestellt. „Ich habe Angst davor, dass ich selbst mal an die Front muss. Aber wir brauchen Leute dort. Unser Feind Russland hat mehr Soldaten. Für Putin sind Menschenleben nicht wichtig. In der ­Ukraine zählt jedes einzelne Leben. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir so lange Widerstand leisten. Wir haben eine starke Armee. Vor allem aber haben wir eine starke Moral und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.“

Und wie kann Musik in der derzeitigen Situation helfen? Die Ukraine bräuchte mehr Waffen und mehr Soldaten. Aber Musik könne trösten und dabei helfen, erlittenes Leid zu verarbeiten. Roman Melish erzählt von seinem letzten Konzert, vom Weinen einer Mutter um ihren getöteten Sohn, einem ausgezeichneten Piloten. „Sie spürte durch unseren Gesang, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Trauer. Wir vergessen nie, dass Dein Sohn gestorben ist, damit wir immer noch leben.“ Obwohl er nicht weiß, ob sich seine Stimme vollständig regeneriert, plant er nun gemeinsam mit Silke Gäng neue Liederabende, die um den 24. Februar 2024, den zweiten Jahrestag des Krieges, in Kyiv stattfinden sollen. Auf dem Programm stehen dieses Mal Vokalquartette von Johannes Brahms und Hans Huber, eines ­Schweizer Komponisten, und viel ­ukrainische Musik. Sie möchten damit in größeren Sälen wie der Universität und der Philharmonie auftreten. „Es ist schön etwas vorzubereiten, auch wenn wir nie wissen, was morgen sein wird. Werden wir noch leben im Februar? Ich weiß es nicht, aber wir müssen nach vorne schauen. Wir werden das alles organisieren. Und hoffen darauf, dass die Liederabende stattfinden können. Die Konzerte wären wichtig für uns – und natürlich für unser Publikum.“

„An die Musik – Song Recitals in Times of War“
Videomitschnitt des Livekonzerts vom 25. November 2022 in Kyiv auf YouTube

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

Print-Ausgabe bestellen | PDF-Ausgabe bestellen