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Sperr ma zua …

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

von Florian Maier

Sie haben sich gefunden, allen Turbulenzen und Tränchen, allen Verwirrungen und Verwechslungen zum Trotz. Einer Fünffach-Hochzeit steht also endlich nichts mehr im Wege, die Operettenseligkeit schwingt sich auf zum großen Finale – und geht über in einen martialischen Marsch, während im Hintergrund historische Aufnahmen ausgemergelter KZ-Insassen projiziert werden und braungewandete Statisten mit Hakenkreuzbinden die Bühne beherrschen …

„Es blüht die süße Rebe,
Der Himmel ist so blau,
Viel tausend Jahre lebe
Der Zauber der Wachau!“

Am 14. Dezember 2023 begeht die Volksoper Wien ­ihren 125. Geburtstag. Direktorin Lotte de Beer und ihr Team hätten es sich einfach machen können: mit einer glamourösen Jubiläumsgala, einem gefälligen künstlerischen Potpourri, den üblichen wohlwollenden Reden aus Politik und Gesellschaft und vielleicht noch einer hübschen Begleitbroschüre fürs heimische Regal. Schnell auf die Beine gestellt, schneller Glanz fürs eigene Image, schnell vergessen. Stattdessen geht an diesem Abend eine über mehrere Jahre gewachsene Stückentwicklung über die Bühne: „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Produktion, die dort nachbohrt, wo viel zu lange tabuisiert wurde, die Stellung bezieht und auch einfordert: „Was würdest Du tun?“

„Wem dienen wir?“ – „Der Kunst.“ – „Und sonst?“ – „Dem Führer!“ (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Ihre Dienste werden nicht mehr ­benötigt.“

„Die Politik ist unwichtig! In vier Wochen ist Premiere! Das ist wichtig!“ Anfang 1938 sind die Proben zur Revueoperette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ in vollem Gange. Und auch wenn Regisseur Kurt Hesky es nicht wahrhaben will, die bittere Realität draußen spitzt sich immer mehr zu: ­Schuschniggs austrofaschistischer „Ständestaat“ und sein Ringen um Unabhängigkeit von Hitler-Deutschland, eine verzweifelt initiierte und dann doch noch gestoppte Volksabstimmung, der Einmarsch der Nationalsozialisten, die Rede am Heldenplatz. Der „Anschluss“ am 12. März 1938 ändert über Nacht alles – auch für die Volksoper. 1898 zum 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph noch mit deutlich antisemitischer Satzung eröffnet, hatten sich die Vorzeichen am Haus inzwischen umgekehrt: Die Volksoper lebte in der Zwischenkriegszeit ganz wesentlich vom kreativen Input ihrer jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Und jetzt? „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.“ Entlassungen. Vertreibung. Flucht. Verhaftung. Deportation. Ermordung im KZ.

2018 veröffentlichte Historikerin Marie-Theres Arnbom die Ergebnisse einer aufwändigen weltweiten Recherche rund um die letzte Volksopern-Premiere vor dem „Anschluss“, Jara Beneš’ „Gruß und Kuss aus der Wachau“ auf Texte von Hugo ­Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda. Das Ziel: Erinnerungsarbeit für die damaligen Schicksale jüdischer Ensemblemitglieder leisten, ihre Geschichten dem Dunkel der Zeit entreißen, stellvertretend für so viele ausgelöschte oder für immer überschattete Leben. Lotte de Beer wird kurz nach ihrer Berufung 2020 auf die Publikation aufmerksam, die im Zuge von „Lass uns die Welt vergessen“ jetzt in ergänzter Neuauflage erschienen ist. Für die Uraufführung lässt sie Arnboms Erkenntnisse für die Bühne adaptieren: Das Ensemble von heute spielt das Ensemble von damals.


EMPFEHLUNG

Marie-Theres Arnbom:
„‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘: Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“
(Ergänzte Neuausgabe 2023)
206 Seiten, Amalthea

Albtraum und Traumwelt

Eine „Stück im Stück“-Situation mit zwei Extremen, wie man sie sich unvereinbarer kaum vorstellen kann: hier fröhlicher Operettenklamauk in köstlichstem Wiener Schmäh, mit spritzigen Choreos (Florian Hurler) und pastelligen Prospekten; dort eine angespannte Probenatmosphäre, die Angst vor den neuesten Nachrichten, eine vergiftete „Ensemblekultur“, in der die einen blinde Panik ums nackte Überleben haben und die anderen ihre Mitgliedschaft in der „Nationalsozialis­tischen Betriebszellenorganisation“ über eigenmächtig angezogene NS-Uniformen auch auf die Bühne tragen. „Jeder 10. ­Wiener ist Jude, wissen Sie das?“ – „Ein echter Wiener zählt nur bis 9.“

Der niederländische Regisseur und Autor Theu Boermans hat sich des Spagats zwischen den Erzählebenen angenommen. Mit viel Fingerspitzengefühl zeichnet er nach, was damals hinter den Kulissen der Volksoper so oder ähnlich passiert sein muss. Am linken Bühnenrand positioniert er das Regieteam von 1938, in der Mitte werden in schnellen Probendurchläufen und mit zunehmendem Chaos die einzelnen Szenen von „Gruß und Kuss“ abgespult – dazwischen die schwelenden Konflikte zwischen Opfern, Tätern und „Verdrängern“, die wegschauen, still und ohne jedes Anecken an ihrem brüchigen „Alltag“ festhalten wollen. Historische Aufnahmen, darunter Schuschniggs Rundfunkansprache („Gott schütze Österreich!“) und der frenetische Jubel für Hitler bei dessen Rede am Heldenplatz, geben auf beklemmende Weise den fatalen Lauf der Geschichte wieder. Wie dieser den einzelnen Charakteren mehr und mehr den Boden unter den Füßen wegzieht, wird in privaten, abendlichen Momenten greifbar, die Bühnenbildner Bernhard Hammer auf einem kalten Stahlkarussell verortet.

Solidarisch sein oder weiterarbeiten? Die Operettenkünstler Emil Kraus (Sebastian Reinthaller) und Frida Hechy (Ulrike Steinsky) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

In der Realität wurde „Gruß und Kuss aus der Wachau“ am 16. Februar 1938 uraufgeführt und nach dem „Anschluss“ in einer „arisierten“ neuen Textfassung noch einen Monat lang gespielt – die Musik des tschechischen Komponisten Jara Beneš wurde weiterhin verwendet, da er im Gegensatz zu den Librettisten nicht jüdischer Herkunft war. Boermans nimmt sich für seine Dramatisierung die Freiheit, das historisch verbürgte Premierendatum um einige Wochen nach hinten zu verlegen, um so die reale Katastrophe und den Operetteneskapismus diametral zuspitzen und die Haltungen seiner Figuren noch schärfer herausarbeiten zu können. Laufende Umbesetzungen abseits jeglicher menschlichen Würde oder künstlerischen Berechtigung werden dadurch erst recht ad absurdum in ihrer Fratzenhaftigkeit entlarvt.

„Ein heiterer deutscher Theaterabend“

An Kunst um der Kunst willen ist anno 1938 ohnehin längst nicht mehr zu denken. Fritz Löhner-Beda, in der Zwischenkriegszeit einer der erfolgreichsten Librettisten und Schlagertexter, wird unmittelbar nach dem „Anschluss“ verhaftet und 1942 in Auschwitz erschlagen. Regisseur Kurt Hesky flüchtet nach Brasilien und findet sich dort im Edelsteinhandel wieder – über eine Fortsetzung seines künstlerischen Schaffens ist nichts bekannt. Victor Flemming, ein Wiener Sängerstar, wird bei seinem Fluchtversuch verhaftet, nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, 1944 ermordet. Intendant Alexander Kowalewski kann dem antisemitischen Druck von innen und außen nichts mehr ­entgegensetzen, wird seines Amtes enthoben und durch einen „arischen“, regimekonformen Nachfolger ersetzt. Komponist Jara Beneš mit seinen schmissigen Jazz-Rhythmen ist den Nazis ein Dorn im Auge – seine aufstrebende Karriere ist schnell vorbei, er stirbt 1949 völlig verarmt. Dirigent Kurt Herbert Adler flieht in die USA und leitet als einer der einflussreichsten Operndirektoren der Welt über drei Jahrzehnte die San Francisco Opera. Sopranistin Hulda Gerin wird trotz ihrer jüdischen Wurzeln lange protegiert, geht erst nach München und muss dann doch emigrieren – nach dem Krieg gelingt ihr unter dem Namen Hilde Güden eine große Karriere. Nur einige Namen, exemplarisch für unzählige Tragödien. Das Österreich der Nazizeit demontiert sich selbst. Und – Ironie des Schicksals – sorgt dafür, dass all seine erstickte Schaffenskraft von den Überlebenden dieser Gräueltaten in die Welt getragen wird. Ein „Kulturtransfer wider Willen“, wie Marie-Theres Arnbom es in ihrem Buch nennt.

Oben v.l.n.r.: Hugo Wiener (1904 Wien – 1993 Wien), Jara Beneš (1897 Prag – 1949 Wien), Kurt Herbert Adler (1905 Wien – 1988 San Francisco), Alexander Kowalewski (1889 Łódź – 1948 Wien); unten v.l.n.r.: Hulda Gerin (1917 Wien – 1988 Klosterneuburg), Fritz Löhner-Beda (1883 Wildenschwert/Böhmen – 1942 KZ Auschwitz), Kurt Hesky (1904 Lundenburg/Mähren – 1961 Rio de Janeiro), Victor Flemming (1886 Wien – 1944 KZ Auschwitz) (Fotos Archiv Volksoper Wien, Österreichisches Theatermuseum)

„Was würdest Du tun?“, so die zentrale Frage von „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Frage, die uns alle etwas angeht. Für „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ mündet der aufziehende Genozid im programmierten Bühnenchaos. Fast das gesamte Regieteam wird von einem Tag auf den anderen entlassen, Regisseur Kurt Hesky zum Weiterarbeiten gezwungen – er flüchtet sich in den Alkohol. Solistinnen und Solisten verlieren ihre Rollen, andere sind sofort bereit einzuspringen. Solidarität der „arischen“ Kolleginnen und Kollegen? Jeder ist sich selbst am nächsten. Besonders berührt eine fiktive Figur, die Theu Boermans ins Geschehen integriert: der Souffleur Ossip Rosental (­Andreas Patton), ein sensibler, introvertierter Feingeist, der irgendwann sogar seine Kippa gegen eine Hakenkreuzfahne eintauschen muss, um auf dem Nachhauseweg durch die Stadt nicht sein Leben zu riskieren. Er erhängt sich. Und die Volksoper? Propagiert ihre „bereinigte“ Premiere als „heiteren deutschen Theaterabend“. Der von Volksschauspieler Gerhard Ernst als melancholischer Kommentator angelegte Bühnenmeister bringt es auf den Punkt: „Wos soi ma do song? Sperr ma zua …“

Die fiktiven Rollen des Bühnenmeisters (Gerhard Ernst) und des jüdischen Souffleurs Ossip Rosental (Andreas Patton) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Wie bringt man den Albtraum 1938 und die Traumwelt der Revueoperette (beide aufwändig und historiengetreu ausgestattet durch Jorine van Beek) auf einen gemeinsamen musikalischen Nenner? Keren Kagarlitsky, die aus Israel stammende Hausdirigentin der Volksoper, war für die Rekonstruktion der Partitur von „Gruß und Kuss“ verantwortlich – nach langwierigen Recherchen konnte in einer Münchner Bibliothek nur noch ein Klavierauszug mit der „arisierten“ neuen Textfassung und einigen wenigen Hinweisen zur Soloinstrumentierung ausfindig gemacht werden. Was da erstmals seit 85 Jahren wieder am ­Währinger Gürtel erklingt, hat durchaus Ohrwurmcharakter, kleine komödiantische Perlen und einiges an Schwung zu bieten – „catchy und kitschy“, wie Kagarlitsky es nennt. Diesen heilen Schein kontrastiert sie mit „entarteter“ Musik von Arnold Schönberg, Viktor ­Ullmann und Gustav Mahler. Musikalische Brücken hat Kagarlitsky selbst noch während der Proben komponiert, unter dem unmittelbaren Eindruck des Angriffs der Hamas auf ihr Heimatland am 7. Oktober 2023. Militärische Blechrhythmen nisten sich da in Beneš’ streicherselige Operettenkulisse ein, ein hebräisches Gebet für den Frieden wird zitiert und über all dem schwebt die unendliche Trauer in Fritz Löhner-Bedas im Herbst 1938 im KZ entstandenen „Buchenwaldlied“:

„O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Oft genug wird die soziale Sprengkraft von Theater beschworen – oft genug ist ein Vorstellungsbesuch in Rekordzeit wieder vergessen. Nicht diesmal. „Lass uns die Welt ­vergessen – Volksoper 1938“ lässt einen nicht mehr los, die Beklemmung hält noch Tage, noch Wochen später an. „Bis die Vergangenheit mich einholt und es verbietet, spiele ich die Zukunft!“ Welche Zukunft verhandeln wir? Haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt? Was setzen wir gerade jetzt wieder aufs Spiel? Von der süßlichen Idylle von Gasthaus, Ritterschloss und Dampferfahrt bleibt nicht viel übrig, wenn Zeilen wie „Das Schönste ist der Wassersport“ mit Original-Filmdokumenten von Europa den Rücken kehrenden, überfüllten Flüchtlingsbooten bis zur Grenze des Erträglichen pervertiert werden. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, und vielleicht liegt genau hierin die Crux des vielzitierten Operetteneskapismus: „Lass uns die Welt vergessen“ – aber auch die Mitmenschen, mit der wir auf ihr leben? Am Ende sitzt Librettist Hugo Wiener in seinem Zufluchtsort Bogotá an einem verstimmten Klavier und singt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“.

STÜCK

Buch von Theu Boermans unter Verwendung von Text und Musik aus „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ (1938), Operette von Jara Beneš, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda
Mit zusätzlicher Musik von Arnold Schönberg, ­Viktor Ullmann und Gustav Mahler sowie neu ­komponierter Musik von Keren Kagarlitsky

Musikalische Leitung Keren Kagarlitsky
Inszenierung Theu Boermans
Choreografie Florian Hurler
Bühnenbild Bernhard Hammer
Kostüme Jorine van Beek
Licht Alex Brok
Video Arjen Klerkx
Sounddesign Martin Lukesch
Dramaturgie Peter te Nuyl
Historische Beratung Marie-Theres Arnbom

Alexander Kowalewski, Intendant Marco Di Sapia
Ossip Rosental, Souffleur Andreas Patton
Hugo Wiener, Autor Florian Carove
Fritz Löhner-Beda, Librettist Carsten Süss
Kurt Herbert Adler, Dirigent Lukas Watzl
Kurt Hesky, Regisseur Jakob Semotan
Leo Asch, Bühne und Kostüm Szymon Komasa
Bühnenmeister Gerhard Ernst
Hulda Gerin (Miss Violet) Johanna Arrouas
Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg) Ben Connor
Fritz Imhoff (Püringer) Karl-Michael Ebner
Trudl Möllnitz (Franzi) Theresa Dax
Olga Zelenka (Resi) Sofia Vinnik
Kathy Treumann (Anni) Julia Koci
Walter Schödel (Werkmeister) Nicolaus Hagg
Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl) Ulrike Steinsky
Emil Kraus (Otto Binder) Sebastian Reinthaller
Franz Hammer (Pepi Marisch, Briefträger) Johannes Deckenbach
Kurt Breuel (Graf Ulrich von Kürenberg) Kurt Schreibmayer
Johanna Kreuzberger (Amalasvintha von Kürenberg) Regula Rosin
Horst Jodl Robert Bartneck
Fritz Köchl Axel Herrig
Hans Frauendienst (Wirt Glöckerl) Thomas Sigwald

Ensemble Kilian Berger, Victoria Demuth, Oliver Floris, ­Michael Konicek, Benjamin Oeser, James Park, Marina ­Petkov, Jennifer Pöll, Philip Ranson, Rebecca Soumagné, Anja Štruc, Anetta Szabo

Orchester der Volksoper Wien

Weitere Termine 3. April 2024, Wiederaufnahme im April und Mai 2025 (Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2024

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Sterben auf der Bühne können alle

Diana Damrau zu Gast in der „orpheus“-Redaktion

Diana Damrau zu Gast in der „orpheus“-Redaktion

„Wo kann ich etwas bewegen, das bewegt werden muss?“ Diese Frage stellt sich Sopranistin Diana Damrau nicht erst seit der Pandemie. Wahrscheinlich hätte sie unter „normalen“ Bedingungen aber kaum Zeit gefunden, ausführlich mit ihrer Studienfreundin Elke Kottmair zu telefonieren.

Neben der gemeinsamen Zeit an der Musikhochschule Würzburg ging es natürlich um die Frage, die alle Kulturschaffenden umtreibt: Wie systemrelevant ist die Kunst, wenn alle Theater geschlossen werden? „Ich hatte überhaupt mal Luft, darüber nachzudenken, was ich will, was zu mir gehört und was nicht mehr“, beschreibt Damrau beim Gespräch in unserer Redaktion die damalige Situation. „Ich bin mit Operette aufgewachsen, es war schon länger mein Herzensprojekt, ein Album in diese Richtung zu machen. Und da war Elke natürlich meine erste Anlaufstelle.“ Dass man in der Operette durch Tanz- und Entertainerqualitäten zusätzlich gefordert ist, weiß Kollegin Elke Kottmair nämlich nur zu gut: 12 Jahre war sie Ensemblemitglied an der Staatsoperette Dresden, kennt Repertoire und „Tücken“ ganz genau.

Gemeinsam haben die beiden angeknüpft an ihre Würzburger Allround-Ausbildungszeiten und bedauern, dass heute in den Hochschulen ihre damalige Ausbildungsbandbreite leider oft zu kurz kommt. „Sängerisch sind das banal gesagt ein paar Koloraturen mehr als in der Oper und ein wenig flotter im Mundwerk, weil die Tempi schneller sind“, meint Damrau. „Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Leute gleichzeitig noch mit Tanz und Spiel auf ebenso hohem Niveau zu unterhalten.“ Kottmair hat noch einen anderen Blick auf das gemeinsame Projekt: „Durch Dianas weltweite Popularität profitiert auch das Genre von dieser Aufnahme. Wir haben mit ‚Wien, Berlin, Paris‘ bewusst ein ganz weites Feld gesteckt, da ist für jeden etwas dabei. Diana ist die perfekte Protagonistin, sie kann singen und spielen gleichermaßen und hat eine riesige Bühnenpräsenz.“

Und es gibt noch etwas anderes, das sie motiviert hat, wie die beiden verraten: Wenn man weiß, dass in Operetten – im Vergleich zu gängigen Opernstoffen mit ihren vielen sterbenden Diven – die Damenwelt am Ende meist die Oberhand behält, ist es vielleicht auch kein Wunder, dass sich für diese musikalische Hommage ausgerechnet zwei Frauen gefunden haben.

Iris Steiner

Das komplette Interview lesen Sie in unserer Ausgabe März/April 2024 (erhältlich ab 1.3.2024).

Wie kann ich stören?

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Zwei Jahrzehnte lang stand sie in über 40 Sopran-Partien selbst auf der Bühne. Dann entschied sich Dr. Rebekah Rota für den Wechsel hinter die Kulissen und erwies sich als Allrounderin: erst Regie, Disposition und Operndirektion – und jetzt, seit vergangenem Herbst, ihre erste Intendanz an der Oper Wuppertal. Arbeiten im Krisenmodus ist der US-Amerikanerin dabei alles andere als fremd

Interview Florian Maier

Opernsängerinnen und -sänger sind eher selten an der Spitze eines Theaterbetriebes anzufinden. Wollen Sie ein Vorbild sein?
Das würde ich mir nie anmaßen. Es gibt den Spruch „Jeder ist austauschbar“. Das stimmt zwar, kann aber schnell dazu führen, dass jeder einzelne Akteur seine eigene Stimme unterschätzt – aus Angst, ersetzt zu werden, wenn man zu laut, zu unangenehm, zu diffizil ist. Wenn ich ein Vorbild für etwas sein könnte, dann wäre ich es gerne im Hinblick auf das Vertrauen, dass jeder Einzelne zählt. Man muss nur den richtigen Rahmen finden und manchmal ist das ein anderer als zunächst gedacht. Ich kann alles ein bisschen und alles ein bisschen schlecht – die beste Voraussetzung für eine Führungskraft. (lacht)

Sie waren 20 Jahre Sopranistin, bevor Sie ins ­Management gewechselt sind. Gab es ein Schlüsselerlebnis für diese Entscheidung?
Mehrere. In meiner Zeit als Sängerin habe ich es leider viel zu oft erlebt, nicht geschätzt zu werden. Ein Regisseur, der eine Oper inszeniert und stolz darauf ist, die Oper nicht zu kennen, lässt keine Frage, nicht den kürzesten Dialog zu. Ein Opernhaus, das sich weigert, weibliche und männliche Sänger gleich zu honorieren und nach vielen Jahren der Zusammenarbeit einen falschen Vertrag schickt, in dem nicht mal mein Name richtig geschrieben wird. Es kann für unsere Branche auf Dauer nicht gut sein, wenn Leitungsebenen kein Verständnis dafür haben, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Und oft schwingt eine gewisse Arroganz dem Publikum gegenüber auch noch mit, gespeist aus einem vermeintlich intellektuell-elitären Ansatz, der sich selbst genug ist.

Sie sind damals als alleinerziehende Mutter auf sich gestellt aus den USA nach Deutschland gekommen. Gab es Raum, über Ihre beruflichen Zweifel und ­Ängste zu sprechen?
Das war eine harte Zeit und ich fühlte mich sehr alleingelassen damit. Ich hatte zeitweilig auch Stimmknötchen und trotz toller Kolleginnen und Kollegen Angst, offen darüber zu reden – in unserem System fühlst Du Dich letzten Endes wie eine Einzelkämpferin. Dementsprechend dankbar war ich, dass ich es, dank einem hervorragenden Chirurgen an der Berlin Charité und entsprechendem Stimmtraining im Anschluss, nach sechs Monaten wieder auf die Bühne geschafft habe und dadurch ein besseres Verständnis für mein eigenes Handwerk gewonnen habe.

Als Violetta in Verdis „La traviata“ am Landestheater ­Neustrelitz, 2015 (Foto Tom Schweers)

Haben Sie das Gefühl, dass in der Branche inzwischen ein spürbarer Wandel einsetzt?
Es wird momentan zumindest sehr viel darüber geredet. In verschiedensten Initiativen wird versucht, mal mehr und mal weniger zu hinterfragen. Aber die Bereitschaft, wirklich große Schritte zu gehen, fehlt. Das würde voraussetzen, die Oper und ihre ursprüngliche Rolle als humanistische Stimme für die Gesellschaft zu betrachten und an diesem Grundsatz Finanzierung, Arbeitsbedingungen und vieles mehr neu auszurichten. In einem riesigen System Grundsätzliches infrage zu stellen, ist immer ein langer Prozess.

Ihre Wuppertaler Intendanz sind Sie mit einer „zukunftweisenden Vision von einem demokratischeren und weltoffenen Theater“ angetreten. Wie darf man sich diese Vision denn konkret vorstellen?
Sie betrifft drei Bereiche: die Prozesse hinter der Bühne; die Kunst, die wir produzieren; und unseren Umgang mit dem Publikum. Es ist klar, dass in den Theaterstrukturen, in denen ich jetzt arbeite, eine klare Entscheidungsstruktur vorgegeben ist. Die Unternehmenskultur, mit der wir diese Struktur jeden Tag beleben, versuche ich demokratischer zu gestalten. Und das heißt, beispielsweise Entscheidungen transparenter zu machen. Vorher wird definiert, welche Beteiligungsgruppen über welche Punkte entscheiden und nach welchen Parametern das geschieht. Beispielsweise wurde vor meiner Zeit am Haus ein sogenannter ­Orchesterüberbau veranlasst, unter dem das Orchester aus verschiedenen Gründen sehr gelitten hat. Ich wurde gleich zu Beginn meiner Intendanz gebeten, ihn entfernen zu lassen, wollte das aber nicht einfach so aus dem Bauch heraus entscheiden, ohne alle Fakten zu kennen. Deshalb habe ich das Orchester, die Musikalische Leitung, aber auch den Chor und die Solisten auf der Bühne und die Technik miteinbezogen. In den Bühnenorchesterproben für „Tristan und Isolde“ wurde einmal mit und einmal ohne den Überbau gespielt, ich saß beide Male im Graben, um mich in die Perspektive des Orchesters hineinzuversetzen. Am Ende haben wir diskutiert und die finale Entscheidung habe zwar ich getroffen, aber im Konsens mit meinen Mitarbeitenden. Inzwischen ist der Überbau entfernt worden.

Passend dazu haben Sie als „erste Amtshandlung“ einen strategischen Opernbeirat ins Leben gerufen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Gewerken und Abteilungen eingeladen, sich darin einzubringen. Wie fielen die Reaktionen aus?
Sehr positiv. Ich hatte allerdings ehrlicherweise erwartet, dass sich am Ende mehr Menschen dafür anmelden würden. Das Interesse ist bis jetzt noch zurückhaltend. Ich bin aber sehr glücklich mit dem Team, mit mir sind wir zu acht in einer super Mischung querbeet durch das ganze Haus, vom Orchester und der Bühnentechnik bis hin zu Maske und Requisite. Wir hatten ein erstes Treffen und werden im Januar wieder zusammenkommen – mal sehen, wohin die Reise geht.

Im Zuge Ihrer Berufung als Opernintendantin sprach der Wuppertaler Kulturdezernent ­Matthias Nocke von einem „inhaltlich und künstlerisch ausgezeichneten Spielplan für gleich fünf Spielzeiten, der nicht nur durchgerechnet war, sondern auch von handwerklich exzellenter Qualität ist“. Was sind denn Ihre großen Leitlinien für die nächsten Jahre?
Ein ganz wesentlicher roter Faden in der Programmatik sind zeitgenössische Opern von internationalen Komponistinnen und Komponisten zu gesellschaftlich relevanten und ja, auch sehr schwierigen Thematiken. „Angel’s Bone“ von Du Yun hat den Auftakt gebildet, es geht darin um moderne Sklaverei und Menschenhandel. Das Werk für die kommende Spielzeit entsteht gerade, die Kammeroper „Suites for Sleeping Children“ als Auftragsarbeit der libanesischen Komponistin Layale Chaker. Wir werden uns darin in Koproduktion mit dem ­Spoleto Festival und der niederländischen Reis­opera den Traumata geflüchteter Kinder stellen. Eine weitere wichtige Leitlinie meiner Programmatik ist es, Opern unbekannter Komponistinnen zur Aufführung zu bringen. Stücke, die einen Bezug zu Wuppertal haben, sind ebenso ein wichtiger Baustein. Zur Vermittlung der Faszination, die von der Oper ausgehen kann, nutzen wir Edutainment-Programme wie beispielsweise „Das ­Universum der menschlichen Stimme“, die regelmäßig an Orten außerhalb des Opernhauses stattfinden.

Missbrauchte Engel in ­Käfighaltung: Du Yuns „Angel’s Bone“ im Herbst 2023 (Foto Oper Wuppertal/Daniel Senzek)

Die Reaktionen zu „Angel’s Bone“ fielen teils sehr emotional aus, weil die Zuschauer „hartem ­Tobak“ zu Problemen unserer Zeit ausgesetzt wurden. Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Woher rühren diese Wider­stände?
Ich glaube, das ist nicht nur ein Problem der Oper, sondern ein Problem unserer Gesellschaft. Natürlich ist es keine schöne Sache, mit schwierigen oder unangenehmen Themen konfrontiert zu werden – vor allem dann, wenn man an diesem Abend eine Erwartung des Konsumierens oder des rein ästhetischen Genusses hat. Aber die Operntradition ist eine sehr lange – historisch gesehen waren nicht wenige Werke immer schon sehr politisch, aktuell und haben für Aufruhr gesorgt. Unser Publikum ist ein sehr breites und ja, es gibt diese eher ablehnenden Stimmen, aber durchaus auch andere, die es sehr begrüßen, solche Stoffe zu sehen. Ich hoffe, in meiner Spielplansetzung einen Platz zu finden für alle diese Stimmen, ich will nicht nur eine bedienen.

Ist die Diskussion darüber schon der halbe Gewinn?
In der Tat, die Diskussion über „Angel’s Bone“ hat ein Scheinwerferlicht auf das problematische Thema Menschenhandel geworfen und zu Diskussionen über Möglichkeiten zur Verbesserung geführt – insbesondere in den begleitenden Nebenprogrammen.

Schlagzeilen gemacht haben Sie erst kürzlich mit dem Slogan „Lego trifft Ikea“. Was steckt ­dahinter?
Unser neues Konzept für ein wiederverwend­bares und damit nachhaltiges Bühnenbildsystem, „­Modular Stage Zero“. Gedanklich ist das eine Erweiterung praktikabler Podeste, die an jedem Theater schon vorhanden sind. Das Grundmaterial ist aber viel filigraner und kann in der Oberfläche schnell und individuell beschichtet werden, sodass das Ergebnis bei jeder Oper wie ein komplett neues Bühnenbild wirkt. Im Prinzip wie Lego­steine auf Rädern, die 360 Grad bespielt werden können. In den nächsten Jahren werden wir für ausgewählte Inszenierungen den Produktionsteams immer wieder die Vorgabe machen, mit „Modular Stage Zero“ zu arbeiten. Und diese können dann auch neue passende Teile anfertigen lassen, die sich in das System einfügen – so, als ob ein Kind zu Weihnachten ein neues Lego-Set bekommt. Über die Jahre wird das Gesamtkonstrukt also immer mehr zu bieten haben.

Ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckt derzeit ein innovatives Pilotprojekt, „Spür zu: Oper zum Fühlen“. Audiodeskription in der Oper kommt inzwischen vermehrt zum Einsatz, Angebote für gehörlose und hörbeeinträchtige ­Menschen waren gerade in dieser Kunstform dagegen lange Zeit kaum vorstellbar. Wie funktioniert das Ganze?
Ich habe einen persönlichen Zugang zur Gebärdensprache, meine Schwägerin ist Lehrerin. Als dann meine Tochter geboren wurde, habe ich ihr von Beginn an die Gebärdensprache beigebracht, weil Kinder auf diese Weise nachgewiesenermaßen schon extrem früh kommunizieren können. Das hat tatsächlich geklappt, mit einem Jahr hatte sie schon einen Wortschatz von 100 Wörtern, lange, bevor sie Englisch und Deutsch sprechen konnte. So ist auch ein Kontakt zur entsprechenden ­Community entstanden. In den USA ist diese viel größer als hier, wodurch auch das Konzertangebot in dieser Hinsicht viel weiter fortgeschritten ist. Als ich dann noch auf einen Bericht zu sogenannten „Sound Shirts“ der Firma CuteCircuit gestoßen bin, ist in mir die Idee entstanden, ein solches Angebot auch für unser Publikum zu entwickeln. Bei „Spür zu“ werden wir mit solchen ausleihbaren Sound Shirts arbeiten. Diese verwandeln die Töne in feine Vibrationen und übertragen sie drahtlos auf den Menschen. Man kann beispielsweise programmieren, dass die tieferen Töne in den Brustbereich übertragen werden, die Trompeten auf den Rücken oder die Geiger auf die Arme. Inzwischen ist die Technologie ausgereift genug, um das nötige Feingefühl für so etwas Komplexes wie Musiktheater zu liefern.

Opernhaus Wuppertal (Foto Andreas Fischer)

Wie weit sind Sie denn damit? Arbeiten Sie wissenschaftlich mit einem Kooperationspartner?
Anfang 2024 sollten wir die Sound Shirts vorliegen haben, um damit zunächst intern zu proben und an den Einstellungen zu feilen. Unser bester Ratgeber ist derzeit die Lyric Opera of Chicago. Das ist bisher das einzige Opernhaus weltweit, das diese Technologie eingesetzt hat – im Konzertbereich gibt es schon mehr Veranstalter mit diesbezüglichen Erfahrungen. Chicago hat in der letzten Spielzeit damit begonnen und viel positives Feedback aus der Stadtgesellschaft erhalten. Wir sind in engem Austausch, um aus den dortigen Erfahrungen zu lernen. Denn letztendlich ist die Oper im Kern ein Gesamterlebnis für alle Sinne, eine unmittelbare Kommunikation von einem Menschenherzen direkt an ein anderes. Und davon sollte keine Gesellschaftsgruppe ausgeschlossen sein.

Was kann das deutschsprachige Musiktheater denn sonst noch von der amerikanischen Szene lernen?
Es gibt im amerikanischen Raum natürlich ebenso konservative Systeme und Stimmen wie hier. Aber was ich sehr schätze ist die Einstellung, dass eine moderne musikalische Sprache nicht automatisch ausschließt, dass sie auch zugänglich sein kann. Musiktheater kann zugleich anspruchsvoll und verständlich, intellektuell und emotional sein. In der deutschen Tradition wird das Ganze in meiner Wahrnehmung allzu oft zu einem „Entweder/oder“ stilisiert und die eine Seite damit verpönt. In den USA ist die Haltung entspannter: „I don’t care where it’s coming from“ – wenn etwas gut ist, dann wird es auch genutzt.

Würden Sie Ihre Arbeitsmentalität auch Ihrer Prägung als US-Amerikanerin zuschreiben?
Ich glaube nicht, dass das an meiner Herkunft liegt. Aber dadurch, dass ich genauso viel zuhause und fremd bin in beiden Ländern, habe ich einen gewissen Outsider-Status, den ich bewusst sehr pflege. Ich halte das jedoch für eine persönliche Eigenschaft, die nichts mit meinem Status als Amerikanerin, als Sängerin oder auch als Frau zu tun hat. Wenn alles ruhig ist, dann überlege ich: Wie kann ich stören? Und wenn alles gestört und aufgewühlt ist, dann ­suche ich die Ruhe. Hauptsache, es ist anders, mit dem Ziel, altvertraute Muster aufzubrechen.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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Singen gegen den Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

Der in Kyiv lebende ukrainische Countertenor Roman Melish ­veranstaltet deutsch-ukrainische Liederabende zur seelischen Stärkung der Bevölkerung. Wie ist die Stimmung im Land nach fast zwei Jahren Krieg? Wie kann Musik im Widerstand helfen?

von Georg Rudiger

Bis Mitte November durfte Roman Melish nicht sprechen. Im Sommer hatte der ukrainische Sänger seine Stimme komplett verloren. Nachdem er noch ein Konzert für Mütter von gefallenen Soldatinnen und Soldaten gegeben hatte, versagte sein „Instrument“, mit dem er im Krieg schon häufig Trost und Hoffnung spendete. „Man hat alles verloren, für das man sein Leben lang gearbeitet hat. Zunächst fühlte ich, dass ich selbst verloren bin. Ich weiß auch nicht, ob die Stimme so wiederkommt, wie sie war“, sagt er beim Videogespräch Ende November in seiner Wohnung in Kyiv, die bisher von Raketen- und Drohnenangriffen verschont blieb. „Das Sprechverbot über mehrere Wochen war hart. Ich konnte meine Gefühle nicht teilen – das war sehr schwierig. Auf der anderen Seite habe ich in dieser stillen Zeit mehr beobachten können: Menschen auf der Straße oder Bäume im Wind. Und mehr Musik gehört.“ In den nächsten Wochen tastet er sich in Absprache mit seinem Arzt langsam an seine Stimme heran. Als Countertenor soll er auf jeden Fall noch warten. Wenn die Heilung nicht auf konventionellem Weg gelingt, steht wohl eine Laser-­Operation an den Stimmbändern an. Aber das könnte nicht in der Ukraine gemacht werden. Warum seine Stimme derart beschädigt wurde, weiß er nicht. Wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung nach 20 Kriegsmonaten im Dauerstress.

Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Melish im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. „Ich war total gelähmt und hatte unglaubliche Angst.“ Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Kyiv zurückkehren. Nun herrschte überall Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. „Mein Bruder und ich haben unsere Dokumente gerichtet und einen Koffer gepackt für den Fall, dass wir fliehen müssen“, berichtete er im Januar 2023 in einem ersten persönlichen Gespräch. Erst am 6. April 2022 kehrt er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kyiv zurück. Und erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-Bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde. Am Anfang habe er sich als Musiker völlig nutzlos gefühlt im Krieg, aber das habe sich geändert. „Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.“

„Wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Roman Melish singt in der Bibliothek von Irpin, einer ehemals ­russisch besetzten Stadt in der Nähe von Kyiv (Foto Yevhen Petrychenko)

Besonders stark empfand er den Trost und die Stärkung durch die Musik bei den beiden Liederabenden, die er mit Kolleginnen und Kollegen im November 2022 in Irpin und Kyiv gab. „Solospivy yednannia. An die Musik“, lautete der Titel. Das von Franz Schubert vertonte Gedicht Franz von Schobers stand im Mittelpunkt. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden, hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ lauten die Verse, die im Kriegskontext nochmals an Tiefe und Bedeutung gewannen. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge konnten sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Dass diese beiden deutsch-ukrainischen Liederabende stattgefunden haben, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von „LIEDBasel“ hat mit Roman ­Melish zusammen in Basel studiert. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Melishs Instagram-Profil furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf. „Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Silke Gäng hat mit ihrem Team von „LIEDBasel“ Spenden gesammelt für dieses außergewöhnliche Projekt und gemeinsam mit Roman Melish das Programm zusammengestellt. Es gelang ihr sogar, im April 2023 den befreundeten Sänger mit der Sopranistin Ivanna Plish und dem Pianisten Andrii Vasin für ein Sonderkonzert zum Festival von Kyiv nach Basel zu holen. Taras Stoliar, der bei den Liederabenden in der Ukraine noch die Lautenzither Bandura – das ukrainische Nationalinstrument – spielte, erhielt kurzfristig keine Ausreisegenehmigung, weil die Frühjahrsoffensive der Ukraine anstand und er dafür als Soldat zur Verfügung stehen musste. Heute ist Stoliar mit seiner Musik an der Front und spielt für seine Kameradinnen und Kameraden Metallica-Songs auf dem zart klingenden Instrument. Für das Basler Konzert sprang die in der Schweiz lebende Dirigentin und Banduraspielerin ­Sviatoslava Luchenko ein und rettete den Abend, den Silke Gäng als sehr emotional in Erinnerung behielt. „Viele ukrainische Freunde von Roman waren da. Und auch unserem Publikum ging das Konzert nahe.“

Liederabend in der St.-Andreas-Kirche in Kyiv. Taras Stoliar, der als Frontsoldat seinen Dienst leistet, spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument (Foto Yevhen Petrychenko)

„Werden wir noch leben im Februar?“

Auch für Roman Melish war dieses Konzert ein Lichtblick in dunkler Zeit. „Russland möchte mit den Angriffen auf die Zivilbevölkerung unsere Moral brechen. Die Aufmerksamkeit und Unterstützung aus Basel helfen dabei, sich nicht alleine zu fühlen. Natürlich sind wir manchmal völlig erschöpft und hoffnungslos. Aber von unserem Konzert in Basel konnten wir noch lange zehren. Das war ein Licht in der Dunkelheit. Und wir brauchen weiterhin dieses Licht, um es anderen weitergeben zu können, die es dringend benötigen.“ Natürlich habe er geglaubt, dass der Krieg früher enden würde. Aber er könne den Kriegsverlauf nicht beeinflussen, sagt er mit ruhiger Stimme. Er unterstützt die Armee mit Spenden. Und berichtet seinen Freunden im Ausland vom Schicksal seines Landes, das durch den Krieg in Israel an Aufmerksamkeit verloren hat. Vom persönlichen Militärdienst ist Melish bislang freigestellt. „Ich habe Angst davor, dass ich selbst mal an die Front muss. Aber wir brauchen Leute dort. Unser Feind Russland hat mehr Soldaten. Für Putin sind Menschenleben nicht wichtig. In der ­Ukraine zählt jedes einzelne Leben. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir so lange Widerstand leisten. Wir haben eine starke Armee. Vor allem aber haben wir eine starke Moral und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.“

Und wie kann Musik in der derzeitigen Situation helfen? Die Ukraine bräuchte mehr Waffen und mehr Soldaten. Aber Musik könne trösten und dabei helfen, erlittenes Leid zu verarbeiten. Roman Melish erzählt von seinem letzten Konzert, vom Weinen einer Mutter um ihren getöteten Sohn, einem ausgezeichneten Piloten. „Sie spürte durch unseren Gesang, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Trauer. Wir vergessen nie, dass Dein Sohn gestorben ist, damit wir immer noch leben.“ Obwohl er nicht weiß, ob sich seine Stimme vollständig regeneriert, plant er nun gemeinsam mit Silke Gäng neue Liederabende, die um den 24. Februar 2024, den zweiten Jahrestag des Krieges, in Kyiv stattfinden sollen. Auf dem Programm stehen dieses Mal Vokalquartette von Johannes Brahms und Hans Huber, eines ­Schweizer Komponisten, und viel ­ukrainische Musik. Sie möchten damit in größeren Sälen wie der Universität und der Philharmonie auftreten. „Es ist schön etwas vorzubereiten, auch wenn wir nie wissen, was morgen sein wird. Werden wir noch leben im Februar? Ich weiß es nicht, aber wir müssen nach vorne schauen. Wir werden das alles organisieren. Und hoffen darauf, dass die Liederabende stattfinden können. Die Konzerte wären wichtig für uns – und natürlich für unser Publikum.“

„An die Musik – Song Recitals in Times of War“
Videomitschnitt des Livekonzerts vom 25. November 2022 in Kyiv auf YouTube

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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Und was macht das jetzt mit Dir?

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

von Dr. Thomas von Steinaecker

Ein Gespenst geht um in den Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen angestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer „echten Kulturoffensive“ im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen „Kahlschlag“ befürchten. Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von „Diwan, das Büchermagazin“ über „Kinokultur“ bis hin zum „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“. Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird – ob nun beim HR, WDR oder eben jüngst beim BR. Im Jargon des dortigen Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es, man wolle „noch mehr Hörerinnen und Hörer“ gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und ­Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein. Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Wie sieht er aus? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet „niedrigschwellig“. Woher jedoch kommt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur? Und woher die Vorstellung, es einem Hörer recht und immer noch rechter zu machen?

Damals: Die kulturell vielfältigste ­Radiolandschaft der Welt

Wirft man einen Blick zurück, auf die 1950er Jahre, die Anfangszeit des heutigen Radios, das in einer Epoche ohne Fernsehen noch Leitmedium war, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den der Begriff „elitär“ noch fast zu schwach erscheint. Der exzentrische Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern und in „Radio-Essays“ baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans ­Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll in „Sprachlaboratorien“ über „geistige Probleme“ nachzudenken. Das „Abendstudio“ des ­Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto „Zumutung höchster Ansprüche“ und der NWDR leistete es sich, ein teures elektronisches Studio mit den modernsten Apparaten auszustatten sowie Karlheinz ­Stockhausen für Avantgarde-­Kompositionen ein ordentliches monatliches Salär zu zahlen. Nicht selten zog das Reaktionen nach sich wie nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs „Träume“, das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte einsperren, so ein Hörer. Und wo man schon dabei sei: dieser Stockhausen (dessen Mutter von den Nazis euthanasiert wurde), der gehöre „vergast“. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Gütesiegel.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den 1950er Jahren nicht nur die kulturell anspruchsvollste und vielfältigste in Europa, sondern auf der Welt war. Deutschland wurde damals zu einem international einzigartigen Radioland. Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde Null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte, vor allem die USA, investierten Unsummen in das, was sie „Reeducation“ nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essentielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dieses analysierende Argumentieren, das so etwas wie das kühle Herz dieser Sendungen ausmacht, oft mit schwer verdaulicher Trockenheit einherging. Und ja: Das alles war, eben zeittypisch, eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Und sicher: An manchen Stellen lief dieses Projekt der Aufklärung Gefahr, zu einem exklusiven Club der Besserwisser zu werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt. Trotzdem: Dieser unschöne Begleitakkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundes­republik und seines Radios ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln hervorrufen würden. Darunter vor allem die Nummer eins auf einer Shitlist des Uncoolen: „intellektuell“. Intellektuell? Kanon? Bildung? Das Radio als kulturelle Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts? Echt jetzt? Kann schon sein, dass manch einem da ein „Ist mir zu deep, Digga!“ auf der Zunge liegt.

Heute: Emotion sticht Analyse

Björn Wilhelm, vorher Programmchef des NDR-Fernsehens, seit März 2022 Programmdirektor Kultur des Bayrischen Rundfunks (Foto BR/Markus Konvalin)

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten „Regal“ bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit Dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen. Im aktuellen Positionspapier des BR, die Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es etwa, dass „ganz neue Formate geplant seien“ und „traditionelle Literatur­kritiken ersetzt“ würden durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen. Ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das bereits seit Jahren im „Tagesgespräch“ auf Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der Hörer aus der Gruppe der legendenumwoben ominösen und von allen Seiten auf anbiedernde Weise umworbenen postmateriellen und neoökologischen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den sogenannten Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? „Zumutung höchster Ansprüche“? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja, höhlenmenschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht.

Aber vielleicht existiert er ja doch – in naher Zukunft. Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Wunsch- oder besser Albtraumhörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Totalverweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. Aber wen juckt schon so ein Vertrag? Bildung, wozu? Am Kipppunkt in der Entwicklung eines trotz Fernsehens und Internet immer noch maßgeblichen Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es geht um viel Grundsätzlicheres und Gefährlicheres: Ohne Not wird hier Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den 1950ern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit Dir?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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Hey, ich bin Antonia!

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Gleich zwei Preise räumte die 25-jährige Musicaldarstellerin am Münchner ­Gärtnerplatztheater beim diesjährigen MUT-Wettbewerb (für Musikalisches ­UnterhaltungsTheater) ab: den 2. Jury- und den Medienpreis, gestiftet von der „orpheus“-Redaktion. Mit eindringlicher Bühnenpräsenz, gekonntem Einsatz verschiedenster Stimmfarben und einer überzeugenden Körpersprache brachte die Studentin der Essener Folkwang Universität der Künste Jury wie Zuschauer auf ihre Seite. Aktuell sammelt sie in der Dortmunder Produktion des Rockmusicals „Rent“ praktische Bühnenerfahrung, ehe im März 2024 ihr Studienabschluss ansteht. Ein vielversprechendes Talent und bereits jetzt eine spannende Künstlerpersönlichkeit.

Interview Matthias Boll

Total überraschende Frage an die Absolventin der Rudolf-Steiner-Schule: Wie oft sind Sie schon gebeten worden, Ihren Namen zu tanzen?
Das kann ich noch an meinen Fingern abzählen. Das Thema ist leider sehr klischeebehaftet, ich weiß. Aber ja, ich kann meinen Namen tanzen und könnte es auch sofort vorführen.

Sie haben bei der MUT-Gala einen Song aus „Anastasia“ präsentiert, darin heißt es: „Denn mein Traum spricht zu mir: Gib deine Hoffnung nicht auf!“ Können Sie sich mit Anastasia identifizieren?
Ich würde es so interpretieren: Eine junge Frau versucht, nach ihrem Herzen zu leben, nach dem Sinn in diesem Leben zu suchen und sich mutig gegen ihre Ängste durchzusetzen.

Das Künstlerdorf Worpswede, in dem Sie aufgewachsen sind, bezeichnete Paula Modersohn-Becker als „Wunderland“. Schwärmt man mit 16 von Worps­wede oder eher vom Bahnticket nach Bremen?
Worpswede ist wirklich sehr schön grün und schnuckelig, die Museen sind toll und eine Inspiration. Das prägte meinen Bezug zur Kunst. Aber Bremen fand ich mit 16 spannender, erst recht nach dem Abitur.

Was war der Lebensmoment, in dem Sie wussten: Ich muss auf die Bühne.
In der Schule habe ich in „Peer Gynt“ mitgespielt und in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Ich habe die Freude gespürt, wie es ist, Geschichten zu erzählen und dies in einer Gruppe zu erarbeiten. Das spüre ich bis heute. Das Rampenlicht war nie ausschlaggebend, eher die Neugier darauf, was eine gute Geschichte mit mir macht.

„Mein Traum spricht zu mir“: Antonia Kalinowski im Finale des MUT-Wettbewerbs 2023 (Foto Marie-Laure Briane)

Nicht alle Eltern sind begeistert, wenn das Kind den Wunsch äußert, als Musicaldarsteller sein Geld zu verdienen. Wie hoch flog der Hut im Hause Kalinowski?
Ich habe das große Glück, dass mich meine Eltern immer unterstützt haben. Meine Schwester und ich sollten etwas machen, das ihnen Schmetterlinge im Bauch beschert. Meine Eltern schneiden alles aus, was über mich in der Zeitung steht. Vor dem MUT-Auftritt sagte meine Mutter: „Antonia, wenn es nicht klappt, machen wir uns einfach eine gute Zeit in München.“ Es hat geklappt, das bayerische Frühstück am nächsten Morgen war wunderbar.

Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff Ruhm?
Ja, aber ich glaube, ich übersetze ihn für mich anders. Ich bin sehr ehrgeizig und diszipliniert, aber nicht geleitet vom Gedanken, dass ich die Nummer eins sein muss. Ich frage mich eher: Was macht mich aus, was macht mir so viel Freude, dass darin eine Herzensqualität steckt?

Hätte aus Ihnen auch eine Opernsängerin werden können?
Ich finde diese Sparte unfassbar beeindruckend, aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Die Erzähl­variationen des Musicals ziehen mich mehr an. Mein erster Musicalbesuch war „König der Löwen“ in ­Hamburg, ich war schwer beeindruckt und bin es geblieben.

Welches Vorurteil über Musicals würden Sie gern hier und jetzt widerlegen?
Ich glaube, das Genre wird von vielen Menschen missverstanden. Du musst alles ein bisschen können, tanzen, singen, spielen. Es ist aber mehr als nur ein bisschen von allem. Man erkennt sofort, wenn das Handwerk fehlt. Wenn du direkt nach einem Monolog singst und nicht mehr weiterspielst, das fällt auf. Man muss alle drei Sparten komplett durchdringen.

Die größte Krise durchlitt die Theaterbranche fraglos in der Pandemie. Was haben Sie gemacht in dieser Zeit?
Das war echt krass. Ich hatte Aufnahmeprüfung in ­Essen, bekam die Zusage – und zwei Tage vor Studienbeginn hieß es, dass es keinen Präsenzunterricht geben könne. Man freut sich dermaßen, und dann ist alles eingefroren. In meinem Jahrgang sind wir zu sechst, es gab viel Online-Unterricht. Immerhin hatten wir genügend Zeit, die Inhalte zu verarbeiten. Ich bin jedenfalls absolut zufrieden, auf der Folkwang zu sein. Hier liegt der Fokus auf dem Künstler und der Persönlichkeit dahinter, also: Wie kann ich mit meiner Farbe diese Rolle bereichern? Das macht einen zu einem sehr autonomen Darsteller. Ich bin froh, dass ich während Corona den Uni-Schutzmantel hatte, statt in der Realität mit roten Fahnen erwartet zu werden.

Stage Entertainment meldet erstmals wieder Besucherzahlen auf Vor-Corona-Niveau. Dennoch steht die Branche vor der Herausforderung, immer wieder ein neues, junges Publikum anzusprechen. Haben vielleicht Sie das Patentrezept?
Es ist eine schwierige Branche. Musicals wie „­Moulin Rouge“ schaffen es, die Leichtigkeit des Genres zu feiern. Und es gibt die Produktionen, die genau diese Erwartung mit Ernsthaftigkeit brechen. Viele glauben, Musical sei eine grelle Welt mit Tanz und Glitzer, dabei ist es so viel mehr. Deutschland hat Staats- und Stadttheater, die die kleineren, ernsthaften Formate bedienen, wie zuletzt Fürth mit „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“. Und in Hamburg gibt es eben die Großformate. Diese Mischung hält das Genre lebendig.

Auftrittspraxis im Studium (Foto Felix Rabas)

Sie beenden Ihr Studium Anfang 2024 – und dann?
Ich bin sehr gespannt. Natürlich guckt man, welche Geschichte man erzählen möchte. Stage oder das ­Ronacher würden mich interessieren, weil ich gern wüsste, wie es ist, pro Woche sieben Shows zu stemmen. Das ist sehr, sehr anstrengend. Für den Sommer 2024 ist etwas in Aussicht, das beruhigt erstmal. Durch den MUT-Preis habe ich schon auch die Möglichkeit zu sagen: Hey, ich bin Antonia!

Zum Job gehört auch die Robustheit, mit Absagen ­leben zu können. Können Sie?
Das Abgelehntwerden ist eine Komponente, die sich nicht leugnen lässt. Heute bist du vielleicht ein Star, morgen auf der Suche. Man muss lernen, sich damit vertraut zu machen. Dafür wird man in unfassbar vielen Momenten belohnt und weiß, weshalb man das macht.

Was muss man gemacht, erlebt, erlitten ­haben, um sich sagen zu können: Ich hab’s geschafft.
Superwichtig ist, sich ein Ziel zu setzen. Du bleibst sehr unglücklich mit dem Anspruch, es nur geschafft zu haben, wenn du bei großen Produktionen bist. Es liegt viel Frieden darin, sich den Druck zu nehmen. Brillieren kann man auch in Nebenrollen. Nichts gegen eine Hauptrolle, doch das muss im Verhältnis stehen zum persönlichen Flow.

Auf wessen Ratschläge vertrauen Sie?
Am allermeisten auf die meiner Familie. Nach einem Abend vor 700 Leuten muss man sich daran erinnern, dass man ein ganz normaler Mensch ist. Dafür habe ich meine Familie und einen guten Kumpel.

Wenn man Ihre Lieblings-Playlist durchforstet, welche Künstler finden wir da?
Auf jeden Fall Enya. Auch Joe Cocker, da sehe ich sofort, wie meine Mutter mit ihren Dance Moves durchs Wohnzimmer hottet. Aber bei mir gibt’s auch Techno, Klassik und ich mag Hörbücher sehr.

Lieber Teufelsmoor und Strand oder Berge?
Teufelsmoor. Mein Vater kommt zwar aus Bayern, aber Strand und Wasser machen das Rennen.

Hund oder Katze?
Hund. Ich liebe Katzen, habe aber eine Katzenhaar-Allergie.

Wagen oder E-Bike?
In Essen zu Fuß. Ein E-Bike hatte ich noch nie, und ich finde Autofahren unfassbar beruhigend.

Knüppel aus dem Sack oder Quinoa-Salat?
(lacht) Auf jeden Fall Quinoa-Salat! Was ist denn bitte Knüppel aus dem Sack?

Eine Bremer Mettwurst.
Nein, ich bin vegan unterwegs.

Wenn wir in zehn Jahren erneut ein Interview führen, wozu würden Sie sich dann gern gratulieren?
Dass ich Menschen getroffen habe, die mir geholfen haben, mich zu verbessern. Dass ich einen Workshop in den USA besucht und in einer Stage-Produktion mitgespielt habe. Dass ich weiß, dass ich nicht alles gemacht haben muss – und wie ich mir meine Energie einteile.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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Auf Bühnen und Bergen

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Ein Gespräch mit dem Wahlschweizer über Sport- und Musikerziehung in der finnischen Heimat, asiatische Orchesterkultur und sein außergewöhnliches Hobby

Interview Iris Steiner

Herr Inkinen, wenn man bedenkt, dass Ihr Land nur 5,5 Millionen Einwohner hat, ist die Anzahl der Musik­stars, die es hervorbringt, schon bemerkenswert. ­Leben Sie dort so entschleunigt, dass man mehr Zeit für Kunst und Kultur hat?
Vielleicht, ja. Das Gleiche könnte man aber auch über unser Nachbarland Schweden sagen oder über England und Schottland. Wir da oben im Norden sind uns in vielen Dingen ähnlich, nicht nur wegen der schönen Natur. Wir Finnen befinden uns rein geostrategisch in einer Art „Zwischenposition“. Vielleicht gibt uns das eine gewisse Charakterstärke und den sportlichen Ehrgeiz, sich mit den Nachbarn zu messen. Vielleicht sind wir dadurch auch besonders mutig und haben weniger Angst vor so unsicheren Berufen wie Formel-1-Fahrer oder Dirigent. (lacht)

Sind Finnen melancholisch? Ich denke an Sibelius oder die berühmte finnische Tangoszene …
Ich denke schon. Sie finden diese ganz besondere „finnische Stimmung“ in unserer Musik – und eben beim finnischen Tango, der ja ein recht merkwürdiges Detail unserer Volkstradition ist.

Wie haben Sie als Kind die Rolle von Musik in Ihrem Leben in Erinnerung? Wurden Sie musikalisch er­zogen?
Durch Sibelius hat Finnland eine starke musikalische Identität erhalten. Ohne ihn gäbe es das, was wir heute haben – ein Musik-Institut-System übers ganze Land verteilt – sicher nicht. Natürlich hatten wir davor auch ein Musikleben, aber Sibelius verstärkte in besonderem Maße durch Musik unsere nationale Identität. In Finnland gibt es in jedem kleinen Dorf quasi kostenlosen Musikunterricht. Das war und ist politisch gewollt.

Liegt das auch an der dünnen Besiedelung des Landes?
Ja, auch das, aber der politische Wille war genauso wichtig. Mein Leben wäre sonst sicher ebenfalls anders verlaufen. Die Stadt Kouvola, in der ich aufgewachsen bin, hat 130.000 Einwohner – und ein Staatsorchester. Auf einer Fläche, die heute größer ist als das Staats­gebiet von Luxemburg! Dort absolvierte ich meine allerersten Profi-Dirigate und habe als Solist Geige gespielt. Im Umkreis von 50 km gab es früher sogar noch ein zweites Orchester, was eigentlich unglaublich ist. Meine musikalische Ausbildung begann schon mit drei oder vier Jahren und einer Aufnahmeprüfung mit Klavier im Musik-Institut, dann ist recht schnell die Geige dazugekommen. Alles war aber wirklich nur ein Hobby unter vielen anderen Hobbys, ohne Druck. Meine Eltern sind keine Musikprofis.

Es ist jetzt aber nicht so, dass Sie nicht auch auf der Geige erfolgreich sind.
Das hat sich erst viel später gezeigt. Als Kind habe ich genauso viel Sport wie Musik gemacht und vieles ausprobiert. Tennis habe ich beispielsweise relativ schnell wieder aufgegeben, weil man da sonntagmorgens um 7 Uhr beim Training sein musste. „Geblieben“ ist der Fußball – und die Geige. Mit ungefähr zwölf Jahren musste ich mich dann entscheiden, womit ich jetzt ernsthaft weitermache. Beides war parallel nicht zu schaffen …

Es hätte also auch ein Fußballer aus Ihnen werden können?
Durchaus. Zwei der erfolgreichsten finnischen Spieler damals stammten aus meiner Gegend: Sami ­Hyypiä war Kapitän von Liverpool und Jari Litmanen mit Ajax ­Amsterdam der erste finnische Champions-League-Sieger. Dessen erster Trainer hat wiederum später auch uns trainiert. Wir schwammen durch ihn in einem gewissen Hype mit und hatten reale Vorbilder, die uns zeigten, dass Erfolg möglich ist.

Ist Ihr professionelles Violinspiel aus Dirigentensicht ein Vorteil, um Ihren Orchestermusikern möglichst klare Signale geben zu können?
Die Basis der Schule unseres Dirigier-Professors Jorma Panula an der Sibelius Academy Helsinki bestand in der Überzeugung, dass man mindestens ein Orchesterinstrument auf hohem Niveau beherrschen und sowohl ein Streich- wie auch ein Blasinstrument lernen musste. ­Panula hat unser finnisches Unterrichtssystem mit aufgebaut, ohne „Instrument-in-der-Hand-Erfahrung“ hatte man keine Chance in seiner Dirigierklasse.

Das Faible fürs Spätromantische ist dem Finnen quasi in die Wiege gelegt, sein Interesse gilt aber auch der Moderne (Foto Andreas Zihler)

Sie dirigieren dieses Jahr in Bayreuth zum ersten Mal den „Ring“. Um Ihr generelles „Ring“-Debüt rankt sich eine recht kuriose Geschichte. Erzählen Sie mal.
Es kam das Angebot aus Palermo, mit Graham Vick den kompletten „Ring“ zu machen. Nicht untypisch in ­Italien, sind wir im Frühjahr 2013 mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ gestartet und begannen parallel schon für den Herbst mit den Proben zu „Siegfried“. Im Juni stellte man leider fest, dass das Budget des Theaters so weit überzogen war, dass wir nicht wie geplant weitermachen konnten. Wir waren schockiert – und ich hatte plötzlich zweieinhalb Monate Lücke in meinem Kalender. Während einer Neuseeland-Tournee mit dem Verdi-Requiem erhielt ich von Lyndon Terracini, dem damaligen Intendanten der Opera Australia, eine überraschende Einladung zum Abendessen. An seinem Haus war genau zu dieser Zeit der Dirigent ihrer neuen „Ring“-Produktion plötzlich ausgefallen. So wurde mein italienisches „Ring“-Debüt ein australisches.

Sie sind ausnehmend viel „auf der anderen Seite der Welt“ unterwegs und arbeiten in Ländern, bei denen man nicht vorrangig an klassische Musik denkt. Ist das Zufall?
So etwas ergibt sich meistens – die Orte, an denen man arbeitet, kann man nicht auf dem Reißbrett planen. Gerade das Orchester in Neuseeland ist ein richtig tolles, modernes Orchester mit sehr viel Neugierde und ohne Vorbehalte. Ich durfte schon während meiner Ausbildung mit 25 bei den Helsinki Philharmonic einspringen. Und während eines Engagements beim New Zealand Symphony Orchestra hat es zwischen dem Orchester und mir so „gefunkt“, dass sie mich direkt gefragt haben, ob ich nicht der nächste Musikdirektor sein ­könnte.

Sie arbeiten viel mit asiatischen Orchestern, momentan als Chefdirigent in Seoul. Worin unterscheiden sich asiatische von europäischen Orchestern?
Die kann man gar nicht vergleichen. Schon zwischen ­Japan und Korea gibt es große Unterschiede – und ­China ist wieder völlig anders. Ich war bis vor Kurzem und 15 Jahre lang erster Gast- und später Chefdirigent der Japan Philharmonic. Interessant ist vielleicht, dass dort 98 Prozent Japaner im Orchester spielen, während man in europäischen Orchestern überhaupt nicht mehr auf einheitliche Nationalitäten oder kulturelle Backgrounds achtet. Das wirkt sich sehr auf die Ästhetik eines Orchesters aus. In Japan stellt man eine sehr feine Sensitivität für (Klang-)Farben fest, die vielleicht „typisch japanisch“ ist und funktioniert wie die DNA des ganzen Landes: keine allzu großen Einflüsse des Individualstils, sensible Antennen für das Ensemble und große Rücksichtnahme untereinander. Es geht immer um das Wohl der Gruppe, weniger ein Individualprinzip wie im Westen.

Das klingt im Ergebnis nach einem sehr homogenen Orchesterklang.
Ein bisschen schon. In Korea ist es wieder anders, da spürt man deutlich die starke Hierarchie der Gesellschaft, die schon in der Schule verankert wird. Die ­Koreaner arbeiten unter großem Stress, aber trotzdem voller Feuer. Sie würden immer alles geben für ihre „Mannschaft“.

Sprechen wir über Bayreuth. Ihr erster „Ring“ hier ist nicht nur ein generell umstrittener, sondern auch Ihre ganz persönliche Odyssee. Erst jetzt, 2023, sind Sie nach drei Jahren endlich am Pult angekommen. Ist das noch eine Freude – oder langsam nervig, weil es sich schon zu lange hinzieht?
Es ist gut, dass wir nun endlich den Arbeitsprozess zu Ende bringen konnten, nachdem ich im letzten Jahr kurz vor der Premiere krankheitsbedingt absagen ­musste. Darüber freue ich mich sehr. Es gab, wie Sie wissen, relativ viele Umbesetzungen und nicht nur der Dirigent hat gewechselt. Daher spielt das letzte Jahr eigentlich keine Rolle mehr. Es ist eine neue Arbeit.

Die Inszenierung von Valentin Schwarz wurde sehr kontrovers diskutiert. Ist die musikalische Leitung schwieriger, wenn eine Handlung so „gegen den Strich“ gebürstet wird wie in diesem Fall? Tun Sie sich schwerer oder spielt es keine Rolle – zumindest solange die schauspielerischen Anforderungen an die Sänger nicht zu physischen Beeinträchtigungen führen?
Es ist natürlich nicht egal, was auf der Bühne passiert, aber wir realisieren die Musik so fein wie wir können. Und wenn auf der Bühne etwas richtig stört, dann muss man reagieren. Valentin Schwarz hat übrigens eine musikalische Ausbildung auf der Geige, er kann sich gut einfühlen in das, was geht und was nicht. Das ist nicht immer der Fall, unsere Zusammenarbeit ist auch deshalb eine sehr gute.

Die vielen Buhs für die Regie lassen sicher auch die Sänger nicht kalt. Beeinträchtigt so etwas eigentlich die Motivation und die musikalische Gesamtleistung der Mitwirkenden?
Es ist schon extrem hier, ja. Aber es passiert nicht zum ersten Mal und wenn man sieht, dass es erstmals ein paar Plätze im freien Verkauf gibt, freut sich vielleicht auch ein neues Klientel über eine Karte und genießt einen „Ring“, der von viel Traditionalismus befreit wurde. Sehen wir es doch positiv!

Im November werden Sie an der Deutschen Oper ­Berlin zum ersten Mal den „­Tannhäuser“ dirigieren. Ist Wagner Ihr Lieblingsrepertoire oder sehen Sie sich als Generalist?
Die spätromantische Richtung war schon immer mein Bereich, diesbezüglich bin ich ein typischer Finne. Aber ich finde auch Weltpremieren und moderne Musik spannend und bin generell neugierig. Was ich vor allem nicht mag, ist immer das Gleiche zu machen.

Ein rasantes Hobby sorgt für die beste Balance: Pietari Inkinen ist leidenschaftlicher Skifahrer – am liebsten Downhill (Foto privat)

Sie leben seit über zehn Jahren in der Schweiz und sind begeisterter Downhill-Skifahrer. Eine ­waghalsige Sportart, die nicht gerade dem Mainstream folgt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin ein finnisch-schweizerischer Dirigent, seit Kurzem „stolzer Besitzer“ eines Schweizer Passes. Es war immer mein Traum, an einem Ort zu leben, wo mein Beruf und mein Lieblingshobby zusammenpassen. In der Schweiz kann ich diesen Sport vor der Haustüre ausüben und gleichzeitig meinen Körper durch eine komplett andere Belastung mit anderer Art von Adrenalinschub ausgleichen. Eine Woche nur am Strand zu liegen, wäre nichts für mich.

Man sagt nicht von ungefähr, dass auch das Dirigieren eine sehr sportliche Angelegenheit ist …
… und wenn man eine Geige zwölf Stunden lang am Kinn hält, bekommt man auch davon Schulterschmerzen. Es ist egal, was man intensiv macht, man braucht einen Ausgleich. Sonst geht es nicht sehr lange gut.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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Zum 125. Geburtstag von George Gershwin

von Roland H. Dippel

Keine Frage, dass George Gershwin seiner Zeit weit voraus war und die europäische Musikwissenschaft mit ihren engen Gattungs- und Genrekategorien quasi „sprengte“. Den heute als progressiv geltenden „spirit“ seines kooperierend-synergetischen Schaffens verwirklichte er in als revolutionär geltenden Werken. Geboren am 26. September 1898 in Brooklyn als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, jung (an einem Hirntumor) verstorben am 11. Juli 1937 in Hollywood, gilt ­Gershwin als „Frühvollender“. Genannt und gespielt werden (leider) allerdings die immer gleichen Haupt­titel: Die (Volks-)Oper „Porgy and Bess“, die Orchesterstücke „An ­American in Paris“ und die „Rhapsody in Blue“, das (­Piano-)Concerto in F.

Im Schatten dieser Showbiz-Blockbuster stehen bis heute seine Musicals: „Lady, Be Good!“, „Funny Face“ oder „Pardon My English“, die übrigens auch mit Songs anderer Komponisten bestückt wurden. Fast immer stammen die Songtexte von Georges Bruder Ira (Israel Gershowitz, 1896-1983). Leider hat aber dessen weitaus längere Lebenszeit keine kontinuierliche Aufführungsgeschichte für Gershwins Musicals bewirkt, weder am Broadway noch anderswo. Immerhin: „Crazy For You“ läuft seit Juni 2023 am Gillian Theatre London. Bei aller musikalischen Brillanz ereilten Gershwins Musicals das gleiche Schicksal wie Titel von Cole Porter und ­Richard Rodgers, die ebenfalls zahlreiche Welthits komponierten, ohne dass man die dahinterstehenden Bühnenwerke auch nur dem Namen nach kennt. Bis heute gibt es auch kaum eine Show oder Gala, in der nicht „­Summertime“ intoniert, gesungen oder gesummt wird, allerdings erlangte hier beinahe schon ausnahmsweise auch die komplette Oper „Porgy and Bess“ große Berühmtheit. Auch die „Rhapsody in Blue“ hat „als ­Ganzes“ überlebt, Gershwins einleitendes Klarinettenthema zur Orchesterversion ist als weltweiter Ohrwurm wahrscheinlich sogar bekannter als Mozarts „Kleine Nachtmusik“.

Brüder und künstlerische Partner: Ira und George Gershwin in Beverly Hills 1937 – nur wenige Monate vor Georges frühem Tod (Foto Rex Hardy Jr.)

Alleinstellungsmerkmal: Musikalische Universalität

Gershwins Musik zu beschreiben, sprengt die Klaviatur sprachlicher Formulierungen, enthusiastische und enthusiasmierende Floskeln würden der melodischen und rhythmischen Energie seiner Werke nicht gerecht. Eigentlich ist auch schon alles gesagt über den Beginn der „Rhapsody in Blue“ und die „vibes“ von „Summertime“. Vielleicht spürt man deshalb im Jubiläumsjahr 2023 trotz Gershwins Präsenz auf Bühnen und Podien eine gewisse Ratlosigkeit der Veranstalter, die seine berühmten Stücke seltener spielen, als man es vermuten würde. Eine andere Facette des Œuvres ist das schwer vollständig zu listende Eigenleben vieler von ­Gershwins Melodien. Unzählige Arrangements und Improvisationen gelangen mit Vorliebe auch in Programme mit Brüchen und vorsätzlichen Stilkontrasten. So setzte der Pianist Yojo Christen Gershwin in sein Album mit Klavierstücken von Franz Schubert und Franz ­Hummel – eine echt wilde ­Mischung. Das Jewish Chamber ­Orchestra ­Munich (JCOM) überraschte unter der Leitung von Daniel ­Grossmann in den Münchner Kammerspielen im Februar 2023 mit Gershwin-Songs als Programmbestandteil von „ernster“ Kammermusik mit Einflüssen des „jüdischen“ Jazz.

Der Welthit „Rhapsody in Blue“ entstand übrigens zuerst in einer Fassung für zwei Klaviere. Keineswegs hatte der berühmte Klarinettenlauf 1924 bereits die heute vom Beginn der Orchesterfassung bekannte Hörform, sondern durchlief unter Mitwirkung des Klarinettisten Ross Gorman eine Wandlung von Gershwins Ureinfall zu einer optimierten Klangrealität. Uraufgeführt wurde dieses „Experiment in Musik“ durch Paul Whitemans 23-köpfiges Ensemble in der parallel mit Gershwins Klavierfassung entstandenen Instrumentation von Ferde Grofé. Gershwins zweiter großer Konzerthit „An ­American in Paris“ wurde durch den gleichnamigen Spielfilm von 1951 bekannt, in dem das Orchesterstück als musikalischer Motor der Revue-Szenen mit ins Surreale spielenden Trick-­Effekten diente. Den ei­nen alleingültigen puristischen Gershwin-­Zugriff gibt es demzufolge nicht. Und „Porgy and Bess“ brachte für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts einen ähnlich aufrüttelnden Vorstoß wie 60 Jahre zuvor Bizets „Carmen“.

Volksoper und Identität

Das Sujet nach dem Roman von DuBose Heyward spielt „unter Afroamerikanern“ – eine Zuschreibung aus Sicht der Anfang der 1930er Jahre in den USA dominierenden weißen Bevölkerung, die pauschal „alle Menschen mit einem Tropfen schwarzen Blutes“ ungeachtet ihres äußeren Erscheinungsbilds als solche bezeichnete. ­Gershwin selbst hatte verfügt, dass seine Volksoper nur von Schwarzen gespielt werden sollte, er lehnte bereits damals das Schminken weißer Darsteller mit dunkler Farbe ab, das mittlerweile als „rassistisch“ kritisiert wird und immer wieder zu heftigen Diskussionen führt.

Eine Negierung von Gershwins Willen fand beispielsweise als deutschsprachige Erstaufführung mit der Übersetzung von Ralph Benatzky am 9. Juni 1945 im Stadttheater Zürich statt. Die Partie der Clara und deren Solo „Summertime“ sang damals die Strauss- und Mozart-Sopranistin Lisa della Casa. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte: „Das Werk ist ja für ein Negerensemble gedacht und völlig auf dessen gesangliche und darstellerische Eigentümlichkeiten zugeschnitten […] Stilisierung (die Besetzung mit weißen Darstellern, Anm.d.Red.) bedeutet in dieser echten Volksoper fraglos einen Notbehelf. Es soll damit keineswegs angedeutet sein, man habe bei uns den Grundcharakter der Oper verkannt, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, vor die sich Regisseur und Kostümgestalter gestellt sehen.“ Auch die Kritik damals hielt das von Gershwin geforderte Ideal-Ensemble für unbedingt notwendig, um die Anforderung des Werks zu „stilistisch angemessenem Spiel und Tanz“ überhaupt bewältigen zu können.

Fast 75 Jahre später – am 27. Januar 2018 – hatte „Porgy and Bess“ an der Ungarischen Staatsoper Budapest Premiere. Als die internationalen Rechteinhaber des Werks gerichtlich gegen die nicht-afroamerikanische Besetzung und ihren Intendanten Szilveszter Ókovács – bezeichnenderweise ein enger Freund Viktor Orbáns – vorgehen wollten, erklärten sich 15 der 28 weißen Ensemblemitglieder kurzerhand in einem Schreiben zu Afroamerikanern und erklärten, dass „afroamerikanische Herkunft und Bewusstsein einen untrennbaren Teil ihrer Identität“ bilden würde.

Die Drogen­kontrolle des Porgy-­Darstellers Morris Robinson im Umfeld des Schleswig-­Holstein Musik Festivals machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen – er warf dem Zoll Racial Profiling vor (Foto Felix König/Agentur 54°)

Dass die Stoffentscheidung für „Porgy and Bess“ des jüdisch-­russischen Komponisten Gershwin äußerst mutig war, kann man auch daran ablesen, dass die Erstaufführung an der New Yorker Met erst 1985, 50 Jahre nach der Uraufführung, erfolgte – die Verfilmung von Otto Preminger entstand dagegen immerhin bereits 1959. Fragen von Rassenungleichheit werden am Rande von Produktionen dieser Oper bis heute diskutiert. Als Porgy-Darsteller Morris ­Robinson zu einer Aufführung im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2022 reiste, wurde er auf Drogen kontrolliert und warf dem Zoll deshalb Racial Profiling vor. In ihrem Dokumentarfilm „Porgy and Me“ zeigte Susanna Boehm 2009 das Ensemble des New York ­Harlem Theatre auf Gastspielreise ihrer „Porgy and Bess“-Tournee. Indirekt fängt der Film auch ein, wie sich die Auseinandersetzung mit den Partien „ihres“ Stücks auf die interne und kollegiale Kommunikation des Ensembles auswirkt. Anlässlich einer Vorstellungsserie der Kapstädter Oper in Berlin 2008 resümierte Gerhard R. Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Vielleicht war die historische Situation dieser ‚American Folk Opera‘ der aktuellen Lage des Kapstädter Hauses vergleichbar: Schwarze Unterschicht und weiße Hochkultur, an sich kaum kompatibel, sollten ­zumindest ästhetisch vereint werden.“

Besetzungsstrategien in „Porgy and Bess“ sind offensichtlich auch heute noch ein befeuernder Anlass für die gesellschaftliche Debatte über künstlerische Schwellenphänomene bei Fragestellungen zu Rassismus und rassistischer Aneignung. Noch 125 Jahre nach seiner Geburt erhitzt Gershwins Forderung nach einer spezifischen afroamerikanischen Besetzung die Gemüter: Sein Genie ist so unbestreitbar wie der ästhetisch-praktikable Zündstoff seiner Oper. Möglicherweise nicht ganz von ungefähr spielen die ­Berliner Symphoniker „Porgy and Bess“ in ihrem Silvesterkonzert 2023 und würdigen das revolutionäre Werk hiermit als nicht minder humane Alternative zu dem klassischen Silvesterstück schlechthin – ­Beethovens Neunter.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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Bayreuth 4.0

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Viel Wirbel um ein paar Brillen: Der ameri­kanische Regisseur Jay Scheib erweitert die Bayreuther „Parsifal“-Realität um eine AR-Dimension

Interview Iris Steiner

(dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer März/April-Ausgabe 2023)

Zweifellos mutig, was Katharina Wagner sich da vorgenommen hat – und wahrscheinlich hätte es Urgroßvater Richard gefallen: 2.000 Zuschauer mit Hightech-Sonnenbrillen im dunklen Saal versinken in seiner Musik – und in digitalen Phantasiewelten. Leider war damals wie heute die politische Klasse wenig experimentierfreudig und degradiert die von der Intendantin ausgerufene „Werkstatt Bayreuth“ gerne und unbefugt zum Marketing-Gag. 300 Zuschauer kommen in diesem Jahr in den Genuss des virtuellen Spektakels, 1.700 gehen leer aus. „Es ist ein Anfang“, mein Regisseur Scheib und ist optimistisch, dass die technische Weltpremiere in Bayreuth genau am richtigen Ort stattfindet. 

Jay Scheib (Foto Helen Duras)

Wer hatte eigentlich die Idee, bei einer Neuproduktion in Bayreuth AR-Technologie zu verwenden – und warum haben Sie sich für den „Parsifal“ entschieden?
Grundsätzlich kam der Anstoß von Katharina Wagner. Wir haben uns schon vor Jahren, noch vor der Covid-Zeit übrigens, viel darüber ausgetauscht und überlegt, welches Werk geeignet sein könnte. Der „Parsifal“-Stoff hat eine tolle Beziehung zur Realität und zum Irrealen. Genau richtig für einen Wandel zwischen einer realen und einer virtuellen Welt. 

Es geht also um eine Darstellung dieser beiden Welten: der realistischen und dem, was Sie „magisch“ nennen. Sie möchten beide Aspekte auf der Bühne und technisch „unter einen Hut bekommen“?
Ja – obwohl es eigentlich gar nicht „magisch“ ist oder eben „virtuell“, sondern eine Mischung. Wir erhoffen uns, das Virtuelle nutzen zu können, um das Reale zu konfrontieren und umgekehrt. Aber falls wir dabei eine magische Wirkung erfahren … umso besser. (lacht)

Ist so eine Avantgarde für technisch gestützte Bühnenästhetiken denn ausgerechnet auf dem „Grünen Hügel“ am richtigen Platz? Verändert sich durch virtuelle Welten etwas Grundlegendes in der Wahrnehmung von Wagners Werk? 
Ich denke, man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass Augmented Reality und ähnliche Technologien sehr bald ein zentraler Teil unseres Alltags sein werden. Wir sollten deshalb auch in der Kunst neugierig und spielerisch mit diesen Möglichkeiten umgehen und sie als das nutzen, was sie sind: heutige Ausdrucksmittel für Geschichten, die unsere Kultur geprägt haben und die wir auch 2023 noch erzählen möchten. Nicht mehr und nicht weniger. Entweder wir nutzen diese Technologien im positiven und kreativen Sinn für uns – oder sie werden irgendwann uns benutzen. So einfach ist das.

Was bedeutet das konkret für die Kunstform Oper? 
Für mich persönlich bedeutet es, dass wir uns allgemeingültigem technischem Fortschritt nicht verschließen dürfen, weil er unsere Gesellschaft und unsere Zeit abbildet. Technik ist schon längst im Alltag angekommen, wir bedienen uns ihrer ganz selbstverständlich. Ich halte es für absolut überfällig, sie auch in Theater- oder Opernproduktionen einzusetzen.

Wie zeitgemäß darf Richard Wagners Werk interpretiert werden? Rund um das Bayreuther Festspielhaus eine immer wiederkehrende Fragestellung, die auch aktuell die Gemüter erhitzt (Foto Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath)

Haben Sie keine Angst vor dem als sehr konservativ geltenden Bayreuther Publikum?
Ich finde, es ist eine großartige Idee, und ich bewundere Katharina Wagners Mut und ihre Vision, die ­Bayreuther Festspiele auf diese Art weiterzudenken. Ich bin sicher, dass diese Entwicklung Richard Wagner gefallen hätte – er war ja durchaus dafür bekannt, Neues und Unbekanntes gerne als Erster „haben“ zu wollen. Davon abgesehen: Augmented Reality ist sehr kompliziert und fordert uns technisch wirklich heraus. Wir gehen tatsächlich einen ganz neuen Weg.

Warum sind Sie persönlich der Richtige für dieses Projekt – in Bayreuth, an einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt?
Ich bin ein großer Traditionalist – und ein großer Fan von Wagners Werk. Aus meiner Sicht war Bayreuth ­immer ein guter Ort für neue Inspirationen und dafür, Neues auszuprobieren. Ganz im Sinne des „Werkstatt Bayreuth“-Gedankens. Es ist eine großartige Erfahrung, hier mit den Besten ihres Fachs arbeiten zu dürfen – und ich meine jetzt sowohl die Spezialisten hinter der Bühne als auch alle Künstler vor dem Vorhang. Natürlich ist Bayreuth auch ein sehr traditioneller Ort. Aber das ist für mich kein Widerspruch, sondern eine Herausforderung. Es geht darum, den perfekten „Weg der Verschmelzung“ zu finden und die Technologie in der Komposition und im Klang dieses einzigartigen Saals quasi aufzulösen. 

Sie konnten bereits 2021 Erfahrungen in Bayreuth sammeln. „Sei Siegfried“ war ein multimediales Projekt mit Zuschauerbeteiligung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Zuerst war das Publikum natürlich skeptisch. Aber dann setzte einer nach dem anderen das Headset auf, fuchtelte wild mit den Armen und versank in der virtuellen Welt. Ein großer Spaß!

Ich habe den Eindruck, dass in der aktuellen Diskussion nicht immer ganz klar zwischen „Virtual Reality“ – wie im „Siegfried“-Projekt 2021 – und „Augmented Reality“ unterschieden wird. Würden Sie uns das erklären?
Ganz grundsätzlich ist man mit der „Virtual Reality“ in einer Welt eingeschlossen und bekommt von der Außenwelt überhaupt nichts mit. Bei der „Augmented Reality“ schaut man durch eine ganz normale Brille im ganz normalen Sichtfeld hindurch – es werden lediglich zusätzliche Elemente hinzugefügt. Da es im Theatersaal dunkel und nur die Bühne beleuchtet ist, kann man die Umgebung gewissermaßen technisch „überschreiben“. Ich kann problemlos einen Wald in den Zuschauerraum projizieren oder die Aufführung aus einem Baum heraus beobachten. Man kann die Bühne optisch meilenweit verlängern oder einen riesigen Felsen mit reflektierenden Partikeln direkt über Ihrem Kopf schweben lassen. Nichts davon schmälert die Aussagekraft der Geschichte – und schon gar nicht die der Musik. Im Gegenteil: Man kreiert zusätzliche Elemente, die das Erlebnis im besten Fall noch intensiver machen.

Virtuelle Welten auf dem Grünen Hügel (Bild Jay Scheib, interactive design Joshua Higgason)

Ist diese „Parsifal“-Produktion eigentlich eine Art „Weltpremiere“ für diese Form der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie?  
Meines Wissens hat noch niemand versucht, eine abendfüllende Oper damit auszustatten. Es gab experimentelle Versuche in der Art einer „Pass-Through-AR“, so wie wenn Sie mit Ihrem Handy eine Speisekarte scannen. Aber in unserer Größenordnung ist mir nichts bekannt. Ich arbeite jetzt seit fast zwei Jahren mit meinem Team und mehreren Kollegen an der Entwicklung. Und es ist zugegebenermaßen sehr kompliziert …

Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie also Regisseur und technischer Entwickler in Personalunion?
Ja, allerdings arbeiten wir zu mehreren an der Umsetzung. Unser Entwicklungschef ist der interaktive Designer und Videodesigner Joshua Higgason. Die Hardware – die Brille für jeden einzelnen Zuschauer – wird durch das chinesische Unternehmen „Nreal“ eigens für diese Anwendung hergestellt. Man kann sie sich vorstellen wie eine normale, sehr hell getönte Sonnenbrille, die unter dem Sitz mit einer kleiner Steuerungseinheit verbunden ist. Der Zuschauer muss nichts weiter tun, als zu Beginn der Vorstellung die Brille wie eine Sonnenbrille aufzusetzen. Für Brillenträger gibt es sogar passende Linsen.

Können Sie uns bereits jetzt ein paar Einblicke in Ihre Arbeit am „Parsifal“ geben? 
Gerne! Gleich während der Ouvertüre haben wir beispielsweise einen riesigen Baum aufgestellt. Sie sehen die Wurzeln, die Zweige und Sie können sehen, dass sich im Inneren des Baums eine Art Titan-Silberkern befindet. Er ist 20 Meter lang und zehn Meter breit – etwa die Größe des Saales – und dreht sich ganz langsam. Wenn Sie vorne im Theater sitzen, ist er über Ihnen, wenn Sie hinten sitzen, sehen Sie ihn im Ganzen.

Wie man hört, stehen lediglich gut 300 Brillen pro Vorstellung zur Verfügung. Nicht gerade üppig bei 2.000 Plätzen. Eine Art „Zweiklassen-Gesellschaft“? Was sehen die vielen Besucher im Publikum ohne Brille?
Wir behelfen uns mangels vollständiger Ausrüstung für alle Zuschauer mit einem sogenannten Echtzeit-3D-­Erstellungstool (insbesondere aus der Videospiel-Entwicklung) und andere Arten der Echtzeit-Videoverarbeitung auf einem riesigen Rundum-Bildschirm. Das alles sieht man dann auch ohne Brille zusätzlich zur Handlung auf der Bühne.

Können Sie also ausschließen, dass Zuschauer „ohne Brille“ etwas Wesentliches verpassen?
Ich würde es anders formulieren. Mit Brille sehen Sie eine andere Vorstellung als ohne. Ich zitiere dazu gerne den surrealistischen Dichter Paul Éluard: „Es gibt eine andere Welt. Und die befindet sich in dieser einen …“

(Screenshot Bayreuth Festival AR introduction video)

Schade für den großen „Rest“ des Publikums, der also nur die eine Welt sieht.
Ja schade, aber es ist ein Anfang. Wenn es funktioniert und dem Publikum gefällt, werden wir sicher bald auch eine größere Anzahl Brillen bekommen. „Werkstatt ­Bayreuth“ eben. Ein bisschen ist auch der Weg schon das Ziel.

Wie gehen Sie mit Ihren lautstarken Kritikern um, die es ja auch gibt?
Ich denke, es bringt nichts, wenn man sich ärgert. Es ist nichts Neues, dass Menschen auf Veränderungen zuerst einmal mit Abwehr reagieren – bis es dann plötzlich „Tradition“ ist. Ich versuche, mich dem Werk so ehrlich und tiefgehend wie möglich zu nähern. Als Wagner damals das Orchester in einem Graben „versteckte“, verloren die Leute auch den Verstand. Und dann hat diese Innovation und das ganz spezielle Klangerlebnis hier am Haus letztendlich zu einer ganz anderen Arbeitsweise der Dirigenten geführt. Was die öffentliche Diskussion betrifft, auf die Sie anspielen: Mit mir hat niemand persönlich gesprochen, und ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe, irgendetwas zu verteidigen. Es wird immer Leute geben, die ein Konzert jeder Inszenierung vorziehen würden. Meine Arbeit dreht sich um die Musik, die Geschichte und die Art und Weise, wie ein Bild zum nächsten und dann zu noch einem wird. Was ich in dieser Form allerdings tatsächlich nicht erwartet habe, ist die hohe politische Relevanz, die wir mit unserer Arbeit ganz offensichtlich auslösen …

Sind wir Deutschen fortschritts- und technikfeindlich? Oder woher kommt diese Ablehnung ihrer Meinung nach? 
Nein, ich glaube nicht, dass es an mangelndem technischen Interesse liegt. Ganz im Gegenteil, ich halte die deutschen Theaterhäuser für die besten der Welt, weil es immer geradezu einen Spaß an Innovationen gibt und daran, etwas auszuprobieren. Viel mehr als in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich. In meinen 20 Jahren, die ich hier bereits arbeiten darf, habe ich die deutsche Theatertradition immer als eine Tradition der permanenten Revolution empfunden. Und Revolution ist manchmal chaotisch. Aber es ist ein großes Privileg, daran teilhaben zu dürfen.

Sie haben lange vorgearbeitet und entwickelt. Wann beginnen nun wirklich die Proben vor Ort?
Mitte Mai startet die Einrichtung, zuvor machen wir im März und April größere technische Tests. Mein Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) besteht aus sieben Kollegen, die mit mir alles vorbereiten, was wir dann in Bayreuth einbauen werden. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sofort alle 2.000 Plätze mit Brillen ausgestattet. Aber ich gehe ohnehin davon aus, dass in ein paar Jahren jeder sein eigenes Headset mitbringen wird. Meine Aufgabe als Regisseur ist und bleibt immer die, eine neue Welt zu kreieren. Die Mittel passen sich ganz einfach der Zeit an. 

Als Regisseur und Technikexperte in einer Person arbeiten Sie in zwei eigentlich sehr unterschiedlichen Berufen. Wie haben Sie es geschafft, beides zu perfektionieren? 
Ich arbeite in vielen Disziplinen, habe klassisches Ballett gemacht, vor Kurzem eine Rock’n’Roll-Arena-Tournee in Neuseeland, dazu Musicals, experimentelle Theaterstücke und Opern. Und ich hatte schon immer ein starkes persönliches Interesse an neuen Technologien. 

Trotz allem ist es ein großer Unterschied, „Spaß“ an technischen Entwicklungen zu haben und sie professionell zu verstehen und einzusetzen. Das klingt eigentlich nach zwei Berufen.
Einiges von dem, was ich mir vorstelle, kann ich selbst realisieren und besitze eine Art professionellen Überblick darüber, was machbar ist und was nicht. Dann suche ich mir die passenden Spezialisten. Letztendlich bin ich in erster Linie verantwortlich für das Ergebnis und dafür, dass jeder Abend ein unvergesslicher wird. 

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2023

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Verflochtene Welt

Das Staatstheater Darmstadt setzt der Komponistin Ethel Smyth mit „The Prison“ ein tönendes Denkmal

Das Staatstheater Darmstadt setzt der Komponistin Ethel Smyth mit „The Prison“ ein tönendes Denkmal

von Dr. Michael Demel

Vor dem verschlossenen Zuschauerraum des Staatstheaters Darmstadt haben sich die Premierenbesucher eingefunden und warten auf Einlass. Die Anfangszeit der angekündigten Aufführung ist bereits verstrichen und eine Mischung aus gespannter Erwartung und Ratlosigkeit ist auf den Gesichtern der Gäste zu lesen. Da ertönt aus dem Foyer von ferne der Gesang von hohen Stimmen. Er wird lauter, und es nähert sich den Wartenden eine kleine Prozession von vier Sängerinnen des hauseigenen Kinderchores. Nun sind auch die Worte zu verstehen: „Shout, shout, up with your song! Cry with the wind for the dawn is breaking! March, march, swing you along! Wide blows our banner and hope is ­waking.“ Es ist der „March of the Women“, eine Hymne der Frauen­bewegung, welche die Komponistin Ethel Smyth im Jahr 1910 nach einem Volkslied aus den Abruzzen komponiert und auch selbst mit einem kämpferischen Text versehen hat. Die Sängerinnen tragen eine Büste der Komponistin feierlich vor sich her, die schließlich auf einem Sockel vor dem Eingang des Zuschauerraums postiert wird. Mit dieser Eröffnungsaktion ehrt das Produktionsteam eine schillernde Persönlichkeit.

Eine Kämpfernatur

Die einschlägigen Nachschlagewerke kennen Ethel Smyth auch als Schriftstellerin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Seit einigen Jahren hat zudem die LGBTQIA+-Bewegung sie als eine der ihren entdeckt. Vor allem aber war sie eine zu Lebzeiten weit über ihr Geburtsland Großbritannien hinaus geachtete Musikerin.

Ethel Smyth, Kreidezeichnung von 1901 (John Singer Sargent, National Portrait Gallery London) (Wikimedia Commons)

Am 23. April 1858 kam sie als viertes von acht Kindern eines britischen Offiziers zur Welt. Ein Musikstudium am Konservatorium in Leipzig erkämpfte sie sich im Alter von 19 Jahren gegen den entschiedenen Widerstand ihres Vaters. Dort kam sie in Kontakt mit wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens, darunter Clara Schumann, ­Edvard Grieg und Johannes Brahms. Der Brahms-Epigone Heinrich von Herzogenberg wurde in Leipzig ihr wichtigster Lehrer. Zu seiner Frau Elisabeth entwickelte sie ein Liebesverhältnis. Bis 1887 schrieb sie ausschließlich Kammermusik. Kein geringerer als Pjotr I. ­Tschaikowski gab ihr schließlich den Impuls, sich der Komposition von Orchesterwerken zuzuwenden. Einen ersten öffentlichen Erfolg erlebte sie 1893 mit der Uraufführung ihrer „Messe in D“ in der Londoner Royal Albert Hall. In den folgenden Jahren wandte sie sich dem Musiktheater zu. Damit ihre Opern überhaupt zur Aufführung gelangen konnten, musste sie zeit- und kraftraubende Reisen unternehmen, um mit ihrer Hartnäckigkeit einflussreiche Persönlichkeiten von ihren Werken zu überzeugen. Bedeutende Fürsprecher hatte sie in den Dirigenten Bruno Walter und ­Thomas ­Beecham. Einer größeren Verbreitung standen aber insbesondere zeitbedingte Vorurteile gegenüber einer komponierenden Frau entgegen. So ist von ­Hermann Levy, dem ­Bayreuther Uraufführungsdirigenten von Wagners „Parsifal“, die Bemerkung überliefert „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau so etwas geschrieben hat“, woraufhin die Komponistin ­erwiderte: „Nein, und mehr noch: Sie werden es auch in einer ­Woche noch nicht glauben.“

Trotz ihres Kampfes um Anerkennung als eigenständige Künstlerin in einer männerdominierten Gesellschaft hielt sie lange Abstand zu der gerade in Großbritannien erstarkenden Frauenbewegung. Erst im Alter von 52 Jahren wurde sie Mitglied der „Women’s Social and Political Union“ und schloss sich als Suffragette dem Kampf um das Frauenwahlrecht an. Für ihre Beteiligung an einer Protestaktion, bei welcher am 12. März 1912 rund um die Londoner Oxford Street zahlreiche Fensterscheiben eingeschlagen worden waren, musste sie eine Gefängnisstrafe verbüßen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ethel Smyth einer größeren Öffentlichkeit als Autorin erfolgreicher autobiografischer Schriften bekannt, was auch ihrer Anerkennung als Komponistin förderlich war. So erfuhr sie in den 1920er Jahren späte Achtung mit der Verleihung mehrerer Ehrendoktorwürden und der Ernennung zu einer „Dame Commander“ des „Order of the British Empire“. Bei der Uraufführung ihres letzten großen Werkes, der Chorsymphonie „The Prison“ im Jahr 1930, war sie bereits vollständig ertaubt. Danach widmete sie sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1944 nur noch ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin.

Starke Musik und rätselhafte Bilder

Zu dieser letzten großen Komposition hat sich das Darmstädter Produktionsteam um Regisseurin ­Franziska ­Angerer nun an einer szenischen Belebung versucht. Das ist heikel, denn das etwa einstündige Werk enthält keine äußere Handlung. Ein namenloser Gefangener sitzt in seiner Zelle und wartet auf seine Hinrichtung. Er reflektiert seine Situation und tritt in ein Zwiegespräch mit seiner Seele über die menschliche Existenz, die Vergänglichkeit und den Übergang in ein ewiges Leben ein. Die Musik dazu bleibt der spätromantischen Tradition verhaftet und ist von herber Schönheit. In Chorpassagen und einem einmontierten Choralvorspiel erkennt man die Leipziger Tradition von Bach bis Mendelssohn, mit impressionistischer Instrumentationskunst werden daneben stimmungsvolle Naturbilder heraufbeschworen. Die Verwendung von zwei altgriechischen Modalmelodien sorgt für einen Moment von Archaik. Das Staatsorchester Darmstadt entfaltet die abwechslungsreiche Partitur unter der Leitung von Johannes Zahn mit großer Sorgfalt und bringt ihr breites Spektrum an Klangfarben gut zur Geltung.

Georg Festl als Prisoner (Foto Eike Walkenhorst)

Szenisch stehen zunächst die Orchestermusiker auf der Hauptbühne im Mittelpunkt der Aufführung. Der Zuschauerraum hinter ihnen bleibt leer. Die Besucherplätze wurden auf der Hinterbühne errichtet. Zwischen Orchester und Publikum sitzt Georg Festl und knüpft ohne Unterlass Fäden zusammen, schon Minuten bevor die Musik mit einem Orgelpunkt auf dem tiefen C einsetzt. Dazu erhebt er dann mit kernigem Bassbariton und klarer Diktion die Stimme, um vom Zerrinnen seines Lebens und der Sehnsucht nach Freiheit zu singen. Von Ferne antwortet mit hellem Sopran Jana ­Baumeister als die Stimme seiner Seele, dann auch ein Chor, der den Übergang in die Unsterblichkeit verheißt. Das ist in der szenischen Konzentration und der Nutzung des Raumklanges ein starker Beginn, nicht zuletzt wegen der enormen Bühnenpräsenz von Georg Festl. Die Musik entfaltet auf diese Weise schnell eine große Sogkraft.

Der Fokus verschiebt sich im Laufe der Aufführung aber immer stärker zugunsten rätselhafter Bühnenaktionen und schemenhafter Projektionen auf einem semitransparenten Zwischenvorhang. So entfalten Bühnenarbeiter gewaltige rote Stoffbahnen, die im Schnürboden aufgehängt werden, bis herunter zur Bühne reichen, mit Knoten versehen werden und allmählich ein immer dichteres Netz bilden. Das hat als abstraktes Kunstwerk durchaus einen ästhetischen Reiz. Den Sinn dahinter erschließt jedoch erst die Lektüre des Programmhefts. Dort gibt es zunächst allgemeine Hinweise auf ein „Verflochtensein“ der modernen Welt, neuronale und soziale Netzwerke. Genannt werden bildende Künstler als Referenzpunkte für Rauminstallationen zur Visualisierung von Vernetzungen, aber auch von „dreidimensionaler Lyrik“ in Anknüpfung an eine präkolumbianische Knotenschrift. Schließlich wird auch ein Bezug zum Feminismus der Komponistin hergestellt mit dem Verweis auf das Weben als „weibliche Kulturpraxis“. Reichlich verkopft, das Ganze. Auch dass die Zuschauer ornithologisch so versiert sind, den immer wieder als Videoprojektion auftauchenden Umriss eines Vogels konkret einem Uhu zuzuordnen und dann auch noch über das Wissen verfügen, dass es sich dabei um den mythologischen „Trauer- und Totenvogel“ der Antike handelt, dürfte reines Wunschdenken des Produktionsteams sein.

Um im zentralen Bild der Aufführung zu bleiben: Die Verknüpfung der unterschiedlichen Stränge von Symphonie und Live-Installation misslingt. Auch der Versuch, dem zugrundeliegenden metaphysischen Text von Henry Bennet Brewster einen szenisch plausiblen Bezug zum politischen Engagement der Komponistin oder zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen abzugewinnen, ist nicht geglückt. Der starke musikalische Eindruck aber, den dieser Abend hinterlässt, macht neugierig auf die genuinen Bühnenwerke von Ethel Smyth.

„The Prison“ (1930)
Symphony for Soprano and Bass-­Baritone Soli, Chorus and Orchestra von Ethel Smyth
Weiterer Termin: 13. Juli
www.staatstheater-darmstadt.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2023

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