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Manchmal hatte ich gar kein Zuhause mehr

Sie ist ein Energiebündel. Sie ist rastlos. Sie ist ungeduldig: Katharina Konradi

Sie ist ein Energiebündel. Sie ist rastlos. Sie ist ungeduldig: Katharina Konradi

Aufgewachsen zwischen Feldern und Steppe in Kirgistan, lernte sie erst in Deutschland die Sprache ihrer Vorfahren – und erfuhr von der Existenz klassischer Musik. Mittlerweile klopfen große Opernhäuser bei ihr an sowie Kirill Petrenko. Ein Gespräch mit der Sopranistin über gestern, heute, morgen …

Interview Rüdiger Heinze

Wissen Sie eigentlich, dass Sie laut deutscher Wiki­pedia zu den großen Töchtern ihrer Heimatstadt Bischkek zählen?
Ja, das weiß ich, das hat mir mein Mann neulich gesagt. Ich bin schon stolz, dass ich aus Kirgistan komme und es so weit geschafft habe. Das hätte ich nie gedacht. Aber dass man mich so betitelt! Ich weiß nicht, wer darauf kam. Aber es schmeichelt mir.

Aus Ihrer Familie war es niemand?
(lacht) Nicht, dass ich wüsste! Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus meiner Familie an dem Text dort rumdoktert. Auch nicht mein Mann oder irgendwelche Freunde.

Wie kamen Sie zu einem so urdeutschen Namen wie Katharina Konradi?
Meine Vorfahren stammen aus Sibirien, sind aber Wolga­deutsche, die 1993 bis 1995 auf Einladung in ihre Heimat Deutschland zurückgingen. Und ich hatte das Glück, dass ich ein Teil der Familie bin, die dieses Privileg hatte. Meine ganze Familie väterlicherseits trägt den Namen Konradi; meine Urgroßmutter sprach nur Deutsch, obwohl sie ihr Leben lang in Sibirien verbracht hat. Meine Mutter ist Russin, mein Vater hat einen deutschen Elternteil. Als ich dann 2003, mit 15 Jahren, nach Deutschland kam, hatte ich das erste Mal sehr intensive Begegnungen mit der deutschen Sprache. Es war ziemlich schwer, aber ich habe es geschafft.

Das hört man, Gratulation! Erzählen Sie uns etwas über Bischkek und das zentralasiatische Kirgistan kurz vor der Grenze zu China?
Eigentlich komme ich aus einem kleinen Dorf abseits von Bischkek, mitten im Nirgendwo, drumherum nur Felder und Steppe. Bischkek war für mich eine große, schöne Welt, wohin wir mit meinen Eltern Ausflüge gemacht haben. Ich bin dort auch zur Musikschule gegangen, weil in unserem Dorf fast niemand Musik gemacht hat. Es gab nur eine Klavierlehrerin, bei der ich Unterricht hatte, ansonsten war dort die Beschäftigung mit Musik eher ungewöhnlich. Es gab Viehzucht, Feldarbeit, alles, was man eben auf dem Dorf macht. Bis ich 15 Jahre alt war, habe ich die „Stadt“ nur stundenweise erlebt.

Wie wurde in Bischkek Ihr Interesse an Musik geweckt?
Mit vier Jahren hatte ich zur Jahreswende meinen ersten Auftritt bei einem Dorffest. Mein Großvater spielte Akkordeon und ich sang dazu mit großer Freude am Tannenbaum. Das war der Moment, in dem mein Vater mein Talent erkannte und mich weiter fördern wollte. Das hatte zunächst nichts mit Klassik zu tun, sondern mit Volksliedern auf Russisch und Kirgisisch, später mit populärer Musik. Ich trat sogar auch einmal im regionalen Fernsehen auf. Als ich dann nach Deutschland kam, gab es für mich erstmal gar keine musikalische Perspektive, weil ich klassische Musik einerseits nicht kannte und andererseits nicht wusste, wie ich mit Popmusik den Anschluss finden könnte.

Gerade als Teenager braucht man einen Halt, einen Rückhalt. Dieser Rückhalt wäre für Sie Kirgistan gewesen, aber dann reiste Ihre Familie mit Ihnen als 15-Jährige aus, nach Hamburg. Waren Sie in diesem Alter begeistert, Ihre Freunde zu verlassen?
Ich war schon vor 2003 immer mal wieder zu Besuch bei meinen Großeltern, die bereits 1995 nach Deutschland gekommen waren. Wir haben bei Hamburg die Sommer verbracht, und dort habe ich gespürt, dass Deutschland ein besonderes Land ist – wie ein Traum. Seitdem hatte ich den großen Wunsch, in Deutschland zu leben. Aber es war halt schwierig. Wir hatten Probleme mit den Dokumenten und erhielten zunächst zweimal eine Absage. Mein Vater besaß als junger Mann zwar einen deutschen Pass, aber den tauschte er später gegen einen russischen ein, und es war schwierig, diese Änderung später nachzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eigentlich schon aufgegeben.

Was war für Ihre Eltern der Grund, Kirgistan zu verlassen?
Ich glaube, sie wollten das für uns tun, für meine Schwester und mich. Sie haben an unsere Zukunft gedacht, an unsere Ausbildung. Meine Eltern waren Unternehmer und hatten in Kirgistan eine Nudelfabrik. Ich glaube, meinem Vater fiel es sehr schwer, das Geschäft in Kirgistan aufzugeben, aber er hat es dann trotzdem getan, auch weil er näher bei seinen Eltern sein wollte. Die Einladung aus Deutschland wurde zum Geschenk des Himmels für mich.

Waren Sie seit 2003 wieder einmal in Bischkek?
Nein. Ich hatte es mir zwar vorgenommen und auch 2003 meinen Mitschülern versprochen, dass ich nach zwei Jahren zu Besuch wiederkomme. Aber dann ging ich aufs Gymnasium, hatte neue Freunde, auch meinen ersten Freund, sodass gar nicht mehr das Gefühl auftauchte, ich muss zurück. Ich wollte hier sein und bleiben, um wirklich anzukommen.

In Hamburg wendeten Sie sich dann verstärkt der Musik zu. Wie kam das?
Mit 18 Jahren war ich zum ersten Mal in der Oper in Hamburg und hatte zum ersten Mal so etwas wie eine musikalische Erweckung. Es wurde die „Traviata“ gegeben. Ich war sehr beeindruckt! Und dann habe ich gedacht, das will ich auch machen – ich will irgendwann auch in dieser Oper singen, ich will zur Bühne. Ich dachte, wenn es mit der Popmusik nicht geht, dann ist die Oper der richtige Weg, um auf der Bühne zu stehen.

Adele in der aktuellen „Fledermaus“-Produktion der Bayerischen Staatsoper, 2023 (Foto Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper)

Bis zum Hirten im Bayreuther „Tannhäuser“ 2019, bis zur Sophie in Münchens „Rosenkavalier“ 2021 dauerte es aber noch etwas. Was geschah?
Als ich 21 war, machte ich mein Abitur und ging sofort in die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen in Berlin und Köln. Ich entschied mich für Berlin, um für vier Jahre bei Julie Kaufmann zu studieren. Aber danach war ich noch nicht wirklich zufrieden und beschloss, ein Jahr Pause zu machen. Ich arbeitete beim Münchner TÜV, überprüfte unter anderem technische Unterlagen von Schaustellern, nahm weiter Gesangsunterricht, studierte jedoch nicht offiziell – bis ich schließlich nochmal eine Aufnahmeprüfung absolvierte: für Lied und Konzertgesang in München. Zum Studium sang ich später parallel in Wiesbaden an der Oper – mein erstes Engagement. Ich sang Operette, aber auch meine erste Woglinde, Pamina, Susanna, bestes Repertoire zum Einsteigen. Und dann kam Bayreuth mit dem Hirten, obwohl ich dort für die Woglinde vorgesungen hatte. Sie sagten, meine Stimme sei für die Woglinde zu klein, aber ich könne doch den Hirten im „Tannhäuser“ singen. Damit war ich auch sehr glücklich, der Hirte steht doch mehr im Fokus.

Mittlerweile haben Sie etliche CDs aufgenommen – und dabei fällt ein Faible für Konzept-Programme einerseits, für außergewöhnliche Besetzungen andererseits auf, nicht zuletzt auf „Solitude“ mit romantischen Liedern in Fassungen Aribert Reimanns für Streichquartett. Wie kam es dazu?
Die sechs Schumann-Lieder op. 107 hörte ich bereits vor meiner Entscheidung, Gesang zu studieren. Ich hatte mir eine CD mit Christine Schäfer gekauft – für mich die Göttin im Liedgesang – und hörte die Lieder rauf und runter. Worauf sich der Wunsch entwickelte, sie auch selbst zu singen, was dann tatsächlich während meines Studiums geschah. Und später fand ich die Fragmente op. 20 von György Kurtág, die meiner Meinung nach in der Kombination unfassbar gut zu Schumann passen – was auch immer gut beim Publikum ankam. Über die Jahre hinweg reifte die Vorstellung, Schumann in der Reimann-Bearbeitung zu singen und weitere Stücke rund um Einsamkeit einzubinden.

Es gehen Ihnen sicherlich weitere ähnliche ­Projekte durch den Kopf. Was würden Sie gerne als erstes, liebstes machen?
Es gibt eine Idee: die einer Orchester-CD, und dafür wird es auch Zeit. Das ist mein großer Wunsch. Das Konzept bleibt ähnlich, dass – im Kontrast – mal das Orchester spielt, mal ich alleine singe oder zumindest nur von wenigen Instrumenten begleitet. Über die Komponisten kann ich natürlich noch nichts verraten. Es sind zwei Jahre Arbeit, die ich für solch ein Projekt brauche. Das ist wie ein Kind, das ich austrage. Ich liebe solche Projekte, auch um mein künstlerisches Ego zu befriedigen.

Ihre Konzept-Alben haben Ecken und Kanten – Sie selbst auch?
Ja, viele. Wenn man Ungeduld als Ecke und Kante bezeichnen kann: Ich bin sehr ungeduldig und kann sehr schnell an die Decke gehen, wenn etwas nicht so läuft, wie ich das will. Das kriegt mein Mann oft zu spüren. Zum Glück ist er das Gegenteil von mir; er ist so schwer aus der Ruhe zu bringen. Meine Ungeduld kriegt nicht nur er zu spüren. Auch meine Agenten erfahren das, weil ich sehr viel und gleichzeitig machen möchte, tausend Projekte in einer Woche. Noch eine Ecke und Kante: Ich kann an einem Ort nicht lange sein. Innerhalb von zwei Jahren bin ich schon achtmal umgezogen. Letztes Jahr hatte ich gar kein Zuhause mehr, wir sind nur gereist. Ich bekam solch eine Panik, mich irgendwo festzusetzen, weil ich das Gefühl hatte, wenn ich eine feste Wohnung habe, dann ist das für mich: Schluss, Aus.

In der Rolle der Valencienne in Lehárs „Lustiger Witwe“, Opernhaus Zürich 2024 (Foto Monika Rittershaus)

Sie hatten erklärtermaßen mal ein Burn-out. Nun aber ist Ihr Auftrittskalender wieder ausgesprochen voll. Ein Widerspruch? Könnte sich da etwas wiederholen?
Mein Burn-out im Januar 2020 war ziemlich heftig; dabei wusste ich zuvor gar nichts von der Möglichkeit eines Burn-outs. Ich hatte zwei Jahre lang keinen Urlaub, nur durchgesungen, durchstudiert. Drei Monate zuvor hatte es sich schon angekündigt: Ich konnte nicht mehr schlafen, nur noch eine Stunde pro Nacht. Für mich war Schlafen damals verlorene Zeit. Gleichzeitig entwickelte ich eine Angst vor dem nächsten Auftritt. Ich bin zwar auf die Bühne und habe meine Sachen alle noch ganz gut gemacht, aber der Widerstand in mir war plötzlich so groß. Bei einer Hamburger „Bohème“ dann passierte es, dass ich zwar ein-, aber nicht mehr ausatmen konnte. Es war nur noch schrecklich und ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Dann suchte ich mir schnell psychologische Hilfe in der Musiker-Ambulanz in ­Hamburg. Ich musste auch wieder lernen zu schlafen. Es klingt bescheuert jetzt, aber Corona war für mich die Rettung. Die Veranstalter sagten ab. Nun hatte ich Zeit zu schlafen. Heute jedenfalls habe ich gute Berater: meinen Mann, meine Psychologin, meine Agenten. Ich weiß nicht, was ich mit meiner Ungeduld machen soll, mit diesem Gefühl, ich möchte noch so vieles schaffen an Orten, wo ich noch nicht gewesen bin …

Sie sagten einmal, es gebe noch andere wichtige Aufgaben im Leben – neben dem Singen. Was wären die für Sie?
Eine wichtige Aufgabe ist ein guter Freundeskreis. Ein großes Fest, zu dem wir viele Freunde einladen, nährt mich noch wochenlang. Auch Malen gehört dazu, ich male so gerne. Doch ich komme einfach nicht dazu. Die größte Aufgabe ist aber natürlich unsere kleine Tochter. Ich möchte auch viel mehr Zeit mit ihr verbringen.

Zurzeit singen Sie viel geistliche Musik. Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin aufgewachsen, ohne jemals eine Kirche von innen gesehen zu haben – bis ich nach Deutschland kam. Hier wurden wir bei der Anmeldung der evangelischen Kirche zugeordnet, da unsere Vorfahren evangelisch waren. Aber mittlerweile bin ich aus der Kirche ausgetreten, auch weil ich ihr nie freiwillig beigetreten bin. Aber: Ich singe wahnsinnig gerne geistliche Musik. Davon kann ich nicht genug kriegen. Die Musik beseelt mich; sie erweitert meinen Geist. Ich möchte nicht darauf verzichten.

Es steht ja wohl demnächst ein Konzert mit einem Weltklasse-Orchester unter einem Weltklasse-Dirigenten an. Darf darüber Genaues schon vermeldet werden? Wie kam es dazu?
Ja, das darf man jetzt schon schreiben, dass ich in Baden-­Baden bei Beethovens Neunter mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko singe; das findet doch in der laufenden Spielzeit statt. Es stand zur Auswahl, ob ich in der „Missa solemnis“ oder in der Neunten singe. Ich sollte dann eine Aufnahme schicken, weil Herr Petrenko gerne hören wollte, wie meine Stimme piano in der Höhe klingt. Er erhielt meine Münchner ­Sophie. Dann kam die Antwort, er habe mich gerne.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2024

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Zur rechten Zeit am rechten Ort

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Interview Rüdiger Heinze

München, Theatinerstraße, Sommer 2024. Tenor Daniel Johannsen steht Rede und Antwort, eloquent und ­reflektiert. Dass er am Abend noch einen Auftritt in Bachs h-Moll-Messe haben wird, ficht ihn nicht an – eher die Gleichzeitigkeit von Wohlstand und Gewalt in den unterschiedlichen Teilen der Erde. Sie aber haben von dem Sänger, 1978 in Wien geboren und in einem Pfarrhaus des Burgenlands aufgewachsen, noch nichts ­gehört? Dann wird es höchste Zeit. Großartiges entgeht dem, der es nicht tut.

Der ersten Frage sei eine Behauptung vorangestellt: Unter Kennern sind Sie ein hochverehrter Oratorien- und Liedsänger, eigentlich aber müssten Sie aufgrund der Schönheit Ihrer Stimme und Ihrer künstlerischen Ernsthaftigkeit weitaus bekannter, ja geradezu populär sein. Tragen Sie für diesen Umstand auch selbst eine Verantwortung – zum Beispiel, weil Sie restriktiv auswählen, welche Engagements Sie annehmen?
Ich glaube, ich werde mit 50 noch ein Geheimtipp sein, weil ich mich für ein Feld entschieden habe, dem die Welt nicht so hinterherrennt. Wir sind hier in ­München nur einen Steinwurf von einer der größten Bühnen Deutschlands, der Bayerischen Staatsoper, entfernt, die ich vielleicht niemals betrete. Ich werde vielleicht auch deswegen kein österreichischer Kammersänger, weil ich mich bisher mit der Wiener Staatsoper nicht im Entferntesten versucht habe zu assoziieren. Ich bin stolz genug zu sagen: Wenn man mich nicht fragt, gehe ich da nicht hin. Es gibt einen Dirigenten auf der Welt, für den würde ich noch ein Vorsingen im Sinne einer Arbeitsprobe machen, das ist Christian Thielemann. Alle anderen müssen sich schon um mich bemühen, wenn Sie mich haben wollen. Natürlich, es ist auch das Repertoire: Jemand, der Bach liebt, wird relativ schnell im Internet auf meine Spur kommen. Ich kann gar nicht sagen, was das für Sieben-Lichtjahr-Stiefel sind, dass man mich auf allen fünf Kontinenten, wo man Bach hört, kennt. Ich komme gerade vom Bachfest in Leipzig, und da hat man mich alle 200 Meter auf der Straße angesprochen und in der Kirche gar nicht gehen lassen nach den Motetten und Kantaten. Wenn mein Singen für die Hörer so eine Offenbarung ist und so etwas Schönes, dann bin ich doch dort angekommen, wo ich hin möchte. Ich glaube, das beantwortet, warum ich mich in der zweiten Reihe, in der ich stehe, so wohl fühle.

Betrachten wir Ihre künstlerische Ernsthaftigkeit näher, zumal diese im Verbund mit weiteren Einordnungen Ihres Musizierens steht – als da wären: Sorgfalt, Akribie, Reifung, Respekt, Uneitelkeit, Verinnerlichung. Zusammen genommen umreißen diese Begriffe ein hohes Arbeitsethos, das vor allem Bach und Schubert zugutekommt. Woher kommt’s?
Ich bin ein Lutheraner und uns Lutheranern sagt man immer den Fleiß nach. Ich glaube, heutzutage würden zwei solcher Pfarrstellen wegen Burn-out-Syndrom ausfallen, wie sie mein Vater in den 32 Jahren seiner Arbeitszeit alleine ausgefüllt hat. Das ist die Vorlage von zu Hause, ob ich will oder nicht. Mir hat auch meine hochverehrte Lehrerin Margit Klaushofer immer gesagt: „Daniel, Ihnen hat der liebe Gott in den Hals gespuckt, aber das wird leider nicht reichen.“ Und da hat sie recht gehabt. Ich sehe andere Kollegen um mich herum, die ein herrliches Timbre haben, bei denen ich aber denke, wenn Deine Bach-Arien immer so sind, dass Du einen halben Schmiss in der Probe und einen Viertel-Schmiss im Konzert hast, dann wird das nicht für ganz oben reichen. Man muss an seinen Stücken einfach dran sein. Ich bin ein Mittvierziger, die nächste Generation glüht schon empor. Man muss was tun. Ich glaube, ich komme jetzt in die Jahre, wo ich so viel, wie ich investiert habe, um das zu sein, was ich bin, noch einmal investieren muss, um es auch zu bleiben.

Beim George Enescu Festival Bukarest 2021 (umgeben von Mitgliedern des Münchener Bach-Orchesters) (Foto Catalina Filip)

Schätzen Sie bitte mal: Wie viel Prozent bei Ihrer Stimme sind Gottesgabe, wie viel Prozent an Können sind durch Lehrer vermittelt worden und wie viel ist Fleiß?
Da muss ich noch eine vierte Komponente nennen. Und zwar: zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Das ist in meinem Leben ganz oft so. Wenn ich alles zusammen rechne, werden es dann fast 100 Prozent. 30 Prozent ­Naturtalent und jeweils 23 Prozent an Vermittlung, Fleiß und eben der Punkt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Noch eine Behauptung, die einer Frage voraus geht: So verinnerlicht wie Sie als Oratoriensänger auftreten, dürften Sie überzeugter Christ sein – zumal Sie durch Ihr Elternhaus vorbelastet sind. Ist dem tatsächlich so?
Also ich möchte jetzt hier nicht wie der amerikanische Fernsehprediger klingen, aber: You get what you see, you get what you hear. Das gilt für mich, für mein Singen über Jesus Christus und fast alle Glaubensinhalte. Der Glaube ist aber ein tägliches Ringen und ein tägliches Fassungsloswerden über das, was man sieht. Jetzt sitzen wir hier in der westlichen Welt am Kaffeetisch, fast immer noch 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, viele tausend Kilometer von Gaza und Israel entfernt und vom täglichen Wahnsinn in Afrika und in Teilen Asiens. Und angesichts der Bilder, die kommen, stoßen wir immer wieder auf die Frage: Wie passt das denn der liebende Gott zusammen? Wie passt zusammen, dass Bach zehn seiner 20 Kinder begraben musste und dennoch in seine Werke unverbrüchliche Zuversicht hinein komponierte? Ja, der Glaube ist eine Zumutung. Er ist die erste und größte Zumutung, die der Mensch vielleicht haben muss. Ich glaube, was ich singe.

Sie bekennen öffentlich, dass Sie vor Jahren einmal in eine existenzielle Verzweiflung, in ein schwarzes Loch gefallen waren, erklären sich aber nicht näher. Können, möchten Sie heute, da womöglich alles verarbeitet ist, nüchtern, sachlich darlegen, worum es ging – und wie Sie herausfanden?
Mein musikalisches Leben ist munter und fröhlich losgegangen, und es ist instinktgetrieben gewesen. Wenn man bedenkt, dass meine Gesangslehrerin mir gleich „Die schöne Müllerin“ und das Weihnachtsoratorium zu singen gegeben hat, können manch andere Stimmpäda­gogen sagen: Na ja, da wird es dann halt irgendwann an etwas mangeln, an irgendeiner technischen Kenntnis – wenn man eben gleich so ganz auf Musik und Interpretation geht, was ich ja getan habe. Man konnte damals nur hoffen, dass die technischen Lücken anderweitig schließen. Diese Lücken haben sich – nachdem ich doch schon einige Jahre gesungen hatte, auch Solist war bei Harnoncourt – nicht nur nicht geschlossen, sondern so weit aufgetan, dass sich mein sonniger Sängertraum von heute auf morgen ins Gegenteil verkehrte. Ich hatte im Spätherbst 2012 den Zugriff auf meine Stimme und auf meine Aussage komplett verloren. Ich bin zu meiner Lehrerin und musste fragen: „Wie geht ­singen?“ Jetzt kürze ich ein bisschen ab: Ich habe versucht, mir Hilfe zu holen bei allen möglichen technischen, menschlichen Ansätzen. Ein großer Teil meiner Ratgeber sagte mir: „Ich fürchte, Du musst noch einmal von vorne anfangen.“ Das hört man nicht gerne mit 35 Jahren, nachdem man schon erfolgreich etwas gesungen hat. Aber mir war klar, cum grano salis ist da was dran. Ich habe Zeit gebraucht, um mich und meinen Körper zu finden, um – nur ein Detail – eine vollkommen entspannte tiefe Kehle zu gewinnen. Der liebe Alois Aichhorn hat mir Übungen und Vertrauen gegeben, hat mein Ohr auf einen anderen Klang der Stimme hingeführt – von der reinen hellen Lieblichkeit hin zur tiefen Erdung.

Als Graf Almaviva in Rossinis „Il ­barbiere di Siviglia“ bei der Grazer Styriarte 2015 (mit Bibiana Nwobilo als Berta und ­Miljenko Turk als Figaro) (Foto Werner Kmetitsch)

Heute sagen Sie: „Ich darf ein sehr glückliches Leben führen!“ Was ist die Ursache für dieses Empfinden? Die Musik wird eine Rolle spielen, natürlich, aber dann …?
Es ist die menschliche Verbindung. Und ich glaube, es gibt keine andere Art, sein Geld zu verdienen, die mit so viel Altruismus verbunden ist, so viel Austausch von Emotionen, so viel Dankbarkeit, wie das in der Musik der Fall ist. Am Ende jeden Jahres sind 40 bis 50 Menschen in mein Leben getreten, die ich vielleicht gar nicht mehr wiedersehe, mit denen ich aber sofort, wenn ich es nur könnte, einen Abend verbringen würde, bei dem wir uns bestens verstehen und unsere Lieben teilen und potenzieren können. Das ist Ursache unendlichen Glücks. Wer kann das so sagen?

Haben sie jemals einen saftigen oder auch höflich verbrämten Verriss erhalten?
Oh ja, immer wieder. In früheren Jahren öfter. Mein Timbre ist halt manchmal an der Counter-Ecke, ist manchem zu hell, zu wenig italienisch. Der italienische Melomane wird mit meiner voce tedesca niemals glücklich werden. Eine tiefe Kehle in Ehren, aber … [Anm. d. Red.: Johannsen fängt an, mit tiefer Kehle zu singen.] Es darf nicht immer alles danach klingen. Das ist nicht meines, so kann man keinen Evangelisten singen.

Wann erhielten Sie Ihren jüngsten Verriss?
Da muss ich nachdenken. Also im letzten Jahrzehnt erhielt ich, glaube ich, keinen.

Damit es so bleibt: Lassen Sie Ihre Stimme regelmäßig kontrollieren?
Also meine letzte Gesangsstunde bei Alois Aichhorn ist demnächst acht Jahre her. Aber ich lasse mich insofern kontrollieren, als einer meiner Agenten, der selbst mal Gesang studiert hat, mir besonders genau zuhört und der mir manchmal auf die Finger klopft, indem er von mir mehr Bodenhaftung fordert.

Was haben Sie in Sachen Lied-Interpretation von ­Robert Holl, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Christa Ludwig, mit denen Sie auch zusammenarbeiteten, mitgenommen? Pro Koryphäe bitte nur einen Punkt.
Von Robert Holl, dem Niederländer, nahm ich mit, wie deutsche Sprache in ihrer Schönheit und Lieblichkeit und all ihren Finessen wirklich funktioniert, von Fischer-­Dieskau die Kompromisslosigkeit, in ein Stück einzutauchen. Von Gedda habe ich sehr viele Einsing-Übungen erhalten, die ich bis heute ausführe. Und von Christa Ludwig habe ich ihren Frohsinn mitgenommen, dieses „Ach, ich bin ein Kriegskind, aber ich habe es trotzdem schön gehabt“.

Jephtha im gleichnamigen Oratorium von Händel, Festival Retz 2016 (Foto Claudia Prieler)

Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie mehr Oper und Operette gesungen. Was sind die Gründe, dass dies in den Hintergrund trat?
Das hängt halt damit zusammen, dass ich mich für längere Zeit einem Opernhaus nicht ausliefern möchte. Ein Tenor meinesgleichen ist an jedem Haus vorrätig. Ich bin der lyrische Wald- und Wiesen­tenor. Nicht der ­Ritter vom hohen C, damit gehe ich nicht hausieren, aber für das, was man von Händel über Belcanto bis hin zu ­Britten braucht, bin ich der Sechzehnerschlüssel, wie man auf Wienerisch sagt. Und den gibt es an jedem deutschen Haus.

Einspruch, Eurer Ehren. Den mag es geben an jedem Haus, aber nicht in Ihrer Qualität. Und da wir gerade beim Thema Verwechslung sind, gleich die Frage: Hatte eigentlich der Umstand, dass auch ein schwedischer Kollege namens Daniel ­Johansson singend Erfolg hat, für Sie schon einmal Folgen?
Ganz aktuell hat mich, vollkommen richtig geschrieben, die englische Musikzeitung „The Tatler“ in einem reißerischen Artikel als den nächsten Tristan für Glyndebourne vorgestellt. Aber ich werde ihn nicht singen. Und nun habe ich endlich mal Daniel Johansson kontaktiert und ihn gefragt, ob ihm mittlerweile nicht auch diese ständigen Anfragen reichten, warum er so viele Evangelisten singt – so, wie es mich anödet, mich ständig erklären zu müssen, dass ich nicht als Helden­tenor auftrete. Nein, ich singe keinen ­Siegmund und keinen Canio. Johansson hat sehr geseufzt und erklärt, das passiere auch ihm immer wieder. In meinem Fall war es auch mal so, dass in einem schönen Matthäus-­Passion-Programmheft fürs Madrider Auditorio ­Nacional de ­Música neben meiner wunderbar ins Spanische übersetzten Vita ein schönes Foto von Daniel Johansson prangte, knusprig, rothaarig wie er ist – und eindeutig nicht ich.

Sie sind christlich erzogen und sozial, Sie arbeiten ernsthaft und fühlen hohe Verantwortung für Ihre Schüler. Sagen Sie mal, haben Sie auch charakterliche Schwächen?
Meine Güte! Sie haben sich vorhin als mich uneitel präsentierend geäußert. Aber ich glaube, ein gewisser Stolz und ein gewisser Ehrgeiz ist in mir sehr stark angelegt. Ich kann mich zwar nach außen hin unter Kontrolle halten, aber manchmal, wenn ich mich irgendwo übergangen fühle, wenn ich frage „Warum er und nicht ich?“, dann merke ich, da kommt doch eine Art Stolz heraus und vielleicht auch eine kleine Überheblichkeit, die ich mir schon ankreide. Vor Hybris müssen wir, die wir Erfolg haben – da schließe ich viele Kolleginnen und Kollegen ein –, bewahrt werden, denn die hat ganz viele Sängerleben gekostet. Ein bisschen öfter „Nein“ zu sagen, das muss ich auch noch lernen.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2024

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Ein provokanter Utopist

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

von Karlheinz Roschitz

All jene, die fordern, dass man Oper, Musik- und Sprechtheater oder Performance heute eigentlich als „Ort politischer und gesellschaftskritischer Selbstbefragung und künstlerischen Widerstandes“ verstehen sollte, bewundern Milo Rau wie einen Messias, weil er immer wieder selbstkritisch hinterfragt: Kann politische Kunst die Welt verändern? Und wie? Oder zementiert sie nicht eher die bestehenden Verhältnisse? Die New York Times nennt ihn den „kontroversesten Künstler unserer Zeit“, Amsterdams „De Standaard“ sprach vom „interessantesten Künstler“. Deutsche Kritiker feiern ihn als Künstler, dem es nicht mehr darum geht, die Welt darzustellen, sondern sie zu verändern, die Darstellung der Welt Realität werden zu lassen. Die „Zeit“ spricht vom „einflussreichsten, innovativsten Regisseur“, an dem man heute nicht „vorbei kann“. Und der Zürcher Tages-Anzeiger lobt: „Der Milometer ist inzwischen so etwas wie der Goldstandard der Postdramatik.“

Der Politisierung des Theaters ablehnend gegenüberstehende Kritiker und ein eher konservatives Publikum verdammen Raus konsequent analytische Inszenierungen allerdings als „modische Dekonstruktion“, ja als Zerstörung. So löste erst kürzlich Raus Inszenierung von Mozarts Dramma serio „La clemenza di Tito“, seine erste Opernregie, die 2021 am Grand Théâtre de ­Genève Premiere hatte und im Mittelpunkt der soeben zu Ende gegangenen Wiener Festwochen stand, bei Publikum und manchen Kritikern einen Sturm der Empörung aus. Blendete er doch in seiner „eingewienerten“ „Clemenza“-­Version 18 Immigranten-Interviews ein: Vertriebene, die in einem Trailerpark-Ghetto ihr Dasein fristen, berichten über ihre Erfahrungen mit repressiven Systemen. Das Programm verkündete, dass hier „die wohlwollend engagierte Haltung des Herrschers Tito zu einer Strategie bloßer Selbsterhaltung, zur leeren Revolutionsfloskel verkommt“ und die umstrittene Mozart-Interpretation des Festwochen-Intendanten Rau eine „Kritik am bequemen Engagement […] der Menschen Wiens“ sei. Dass Wiens Opernfans das hören wollten, ist zu bezweifeln.

Globale Kunst

Milo Rau, 1977 geboren in Bern, ist ein prominenter, international vielgefragter Schweizer Theater-, Film- und nun auch Opernregisseur und war seit 2018 Intendant des NTGent. Ein ruheloser Erneuerer und Tausend­sassa, der an mehreren Universitäten Kulturtheorie, soziale Plastik und Regie unterrichtet und 2017 die Saarbrückener Poetikdozentur für Dramatik innehatte. Er ist mit Rüdiger Safranski Star des „Literaturclubs“ des Schweizer Fernsehens. Seit 2002 veröffentlichte er etwa 50 Theaterstücke, Filme, Bücher, Aktionen, Tribunale, Schauprozesse, die beim Berliner Theatertreffen, beim Festival von Avignon, der Biennale von Venedig, bei den Wiener Festwochen und dem Brüsseler Kunstenfestival­desarts großen Erfolg hatten. Neben Frank Castorf und Pina Bausch erhielt er den ITI-Preis des Welttheater­tages, 2018 für sein Lebenswerk den Europäischen Theater­preis, 2019 wurde er als erster Künstler Asso­ciated Artist der European Association of Theatre and Performance (EASTAP). 2023 wurde er künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen und Nachfolger des in Wien zu Unrecht nie voll akzeptierten und jetzt nach Brüssel zurückgekehrten Christophe Slagmuylder.

Milo Rau im Gespräch: ein charmanter, verheirateter Endvierziger, sprühend vor Energie, immer „am Sprung“, ein kritischer Analytiker, der zu allem humorvolle Einwürfe parat hat, ein „Agitator und linksradikaler Demokrat“, wie er selbst mit eher ironisch-süffisantem Lachen sagt; Rau: „Lenin hing an der Wand meines Jugendzimmers. Damit konnte man damals für richtig schlechte Laune sorgen. Mit 12 ließ ich eine Visitenkarte drucken, auf der Kommunist als Beruf stand.“

(Foto Magdalena Blaszczuk)

In seinen Ideen-Kombinationen ist er von großer Wendigkeit, ja Brillanz, egal ob er über antike Dramen und ihre Aktualisierung in seinen eigenen Übersetzungen, über gesellschaftliche Eliten und Bourgeoisie, Veränderung der Welt durch politische Kunst spricht oder sich über postkoloniale Ausbeutung alteriert. Er habe „PR-Strategien wie ein Spitzenpolitiker“, schrieb einmal ein Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über ihn und seine brillanten Krisen- und Kriegsreportagen aus Lateinamerika, Ruanda, dem Kongo, Syrien und Irak – und von der IS-Kriegsfront! Diese Reisen haben in seinen Theaterstücken ihren Niederschlag in einer „globalen Kunst“ gefunden – wie in „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda (2011/12), den „Moskauer Prozessen“ (2013/14) „Kongo Tribunal“ (2015), „Orest in Mossul“ (2019), „Antigone im Amazonas“ (2023). Oder dem 2023 in Genf uraufgeführten Musiktheaterwerk „Justice“ über einen grauenvollen Unfall in der kongolesischen Provinz Katanga, einem Requiem, das er vor kurzem beim erfolgreichen St. Pöltener Festival ­Tangente zeigte.

Kontroversen und Unvereinbares

Seit Herbst 2023 bastelt Rau an seinem spektakulären Fünf-Jahreskonzept für Wiens „Festival der Zukunft“ – und sorgte damit sofort für Widerstand und heftige Diskussionen bis hinauf in die Politiker-Etage. Aber nichts anderes hatte man vom Polit- und Regie-Enfant-­terrible Milo Rau erwartet. Schon Monate vor dem Festivalstart kam es wegen eines Projekts zum Stellungskrieg zwischen der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und dem in Wien beliebten griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis. Rau wollte Jevhen Stankovychs ukrainisches Kaddish-Requiem „Babyn Jar“ über die Ermordung von 30.000 Juden in der Schlucht von ­Babyn unter Lyniv dem „War Requiem“ Benjamin Brittens unter Currentzis gegenüberstellen. Was die Ukrainerin Lyniv empörte: Sie wollte partout nicht gegen den – wie sie fand – Putin-Freund Currentzis antreten. Rau im Rückblick: „Es waren unvereinbare Positionen! Die Festwochen sollten aber ein Ort der Begegnung sein. Totalboykott halte ich für falsch, auch gegen russische Kunstschaffende. Currentzis hätte da seine Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausdrücken können.“

Danach wurde Rau wegen „israelfeindlicher Propa­ganda“ heftig angegriffen, wollte er doch zwei umstrittene Persönlichkeiten in seinen Festwochen-„Rat der Republik“ holen: die französische Literatur-Nobel­preisträgerin Annie Ernaux, die der möglicherweise antisemitischen BDS-Bewegung nahesteht, und den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der im Zank mit Deutschland wegen Antisemitismus mit Einreiseverbot belegt wurde. Und eine Woche vor der „­Eröffnungsrede an Europa“ musste sogar der israelische Philosoph Omri Boehm in Interviews und im Fernsehen zu Verteidigungsreden antreten, etwa gegen den ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kulturgemeinde Österreichs, Ariel Muzicant, dem der versöhnliche Ton Boehms, der von der Utopie einer Aussöhnung zwischen Israeli und Palästinensern in einem Einheitsstaat träumt, zu provokant war. Muzicant meinte, er würde Eier gegen den Vortragenden werfen, wäre er jünger. Eine prominente Bank stieg als Sponsor aus.

Revolutionäre Übung vor dem Rathaus: Eröffnung der Wiener Festwochen 2024 (Foto Franzi Kreis)

Die Zweite Moderne

Milo Rau ist angetreten, um die Wiener Festwochen zu „aktualisieren“. Er attestiert dem Kulturbetrieb von heute „Diskurslähmung“ und fordert eine „Utopie des Handelns“. In einer Open-Air-Monsterveranstaltung vor dem Wiener Rathaus rief der „Wokeness-König und Moral-Apostel“ Rau die „Freie Republik der Wiener Festwochen“ aus. Er erklärte einen 100-köpfigen Rat der Republik zum Souverän und proklamierte Wien als wichtigste Experimentalstätte einer Zweiten Moderne: Musiktheater und Theater sollte „global, entgrenzt, utopisch, radikal politisch und radikal ästhetisch“ sein. In einer Wiener Erklärung stellt er Fragen zur Zukunft – so nach Erarbeitung einer Verfassung für das „Festival der Zukunft“ mit der Frage, wie viel Innovation und Tradition ein Festival heute brauche.

In den Mittelpunkt des Festivals stellte er „Wiener Prozesse“, nach den Muster-Gerichtsformaten seiner spektakulären Zürcher und Moskauer Prozesse und seinem Kongo Tribunal, vom Theater inspirierten Gerichtsprozessen, „Bühnenereignissen als Einübung in demokratische Praktiken“, wie er meint, bei denen in Veranstaltungen wie „Die ­korrupte Republik“, „Anschläge auf die Demokratie“ und „Die Heuchelei der Gutmeinenden“ Politiker, politisch-ökonomisch-mediale Komplexe, Klimafragen, die Freiheitliche Partei Österreichs usw. auf die Anklagebank kamen. „Ganz Österreich – vors Tribunal der Republik zitiert!“ „Wo Politik versagt, wo sie hinter lokalen Diskursgewinnen herjagt und die Worte entwertet, kann vielleicht die Kunst Abhilfe schaffen …“, findet Rau. „Wir KünstlerInnen leben, heute und vielleicht schon immer, am Hof des blinden König Ödipus. Wir müssen umso hellsich­tiger sein, auch wenn die Explosionen der zahllosen globalen Konflikte blenden ­mögen.“

Ständige Erneuerung

Über seine künstlerische Arbeit, bei der Operninszenierungen in Zukunft mehr Platz bekommen werden, sagte Milo Rau in der Neuen Zürcher Zeitung: „Am glücklichsten bin ich, das zu tun, was ich nicht vorhatte. Ich selbst als Person bin im Zentrum des Ganzen nur panisch. Je größer die Sache, umso kleiner komme ich mir vor. Im Grunde besteht meine Kunst darin, das alles irgendwie zu überleben.“ Ein Künstler, der sich in ständiger Erneuerung befindet, der mit „dokumentarischen Theatersprengungen die Häuser füllt“. Ihm ist es gelungen, seine Kunst „aus dem Elfenbeinturm zu werfen“.

In seinem soeben erschienenen neuen, brillanten Essayband „Die Rückeroberung der Zukunft“ schreibt er sein ganz persönliches Bekenntnis, eine Liebeserklärung an die ständige Erneuerung, an das fortwährende Infragestellen von sich etablierender Kunst: „Wenn sich eine der Institutionen, die wir gründen, zu verfestigen beginnt, wenn ich spüre, dass der Moment des Aufstands in eine Ideologie der Sicherheit und Wiederholbarkeit übergeht, wenn aus Freundschaft Liebe wird, aus einer Situation ein Zustand, aus einer Besetzung Besitz – dann ist für mich der Zeitpunkt gekommen zu gehen.“ Doch er ist auch voll Optimismus, wenn er in seinen Texten über Kunst und Gesellschaft, „Grundsätzlich unvorbereitet“, ergänzt: „Dies ist was ich am Theater so liebe. Dass alle Irrtümer der Welt korrigiert werden können, wenn auch nur für einen Abend.“

Empfehlungen

Milo Rau:
„Grundsätzlich unvorbereitet.
99 Texte über Kunst und Gesellschaft“
224 Seiten, Verbrecher Verlag

Milo Rau:
„Die Rückeroberung der Zukunft:
Ein Essay“
176 Seiten, Rowohlt Buchverlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2024

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Mit Jonas Kaufmann im Internet

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

von Sophie Emilie Beha

Konsumieren Opernsängerinnen und -sänger Cannabis? Wie teuer ist der Beruf? Und wie rassistisch? Diese Fragen klärt Babatunde Akinboboye kurz und knackig. In seinen einminütigen Videos trägt er gern Smoking und hält eine verschnörkelte Jugendstil-Tasse mit Schwarztee in den Händen. Gelegentlich nimmt er davon einen winzigen Schluck, meistens rührt er ihn aber nur vielsagend um. Auf TikTok schauen fast eine Million Fans seine lustigen Videos an. Aber eigentlich wollte Akinboboye gar kein Internet-Star werden: „Ich habe das nur gepostet, um die Leute zu unterhalten. Doch dann hat sich gezeigt, dass das offenbar für viele sehr wertvoll war. Zufällig gingen einige Videos durch die Decke, dabei war das gar nicht meine Absicht.“

Denn eigentlich wollte Bariton Babatunde Akinboboye nur seine Follower bei Stange halten – bis 2019 sein erstes Album „Della Citta“ herauskam. Um die Wartezeit zu überbrücken, hat er Videos auf TikTok und Instagram gepostet. Videos, in denen er den Opernbetrieb auf den Arm nimmt, kritisch und immer mit einer Prise Humor. Etwas, das seine Videos auszeichnet. Die heikle Frage nach dem Cannabis-Konsum kommentiert Akinboboye beispielsweise mit einem bedeutungsvollen Lächeln. Für ihn gilt: „Der beste Humor kommt immer von einer überraschenden Wahrheit.“ Deshalb zählt er beispielsweise all die Kosten auf, die angehende Opernsänger für Gesangsstunden, Bewerbungsverfahren und Noten aufbringen müssen. Oder er erklärt, warum er keine Einladungen von Förderern wahrnimmt: „Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, werde ich benutzt. Wenn ich mal nicht gefragt werde, wie ich es geschafft habe, aus Afrika zu kommen, um Opernsänger zu werden, dann werde ich viel zu oft von derselben Person umarmt und berührt.“

Vom Hip-Hop zur Oper – und zurück

Babatunde Akinboboye wurde in den USA geboren und ist in Nigeria aufgewachsen. Genauso zufällig wie er Internet-Star wird, ist auch sein Weg in die Oper: Denn als sein Gesangslehrer ihm vorschlägt, mal Arien zu singen, kennt Babatunde keine. Er hört lieber Hip-Hop. „Irgendwann habe ich mit der Idee gespielt, beide Elemente zu kombinieren. Ich hatte in der Probe Oper gesungen und kurz danach im Auto Hip-Hop gehört. Dabei hatte ich aber noch die Probe im Kopf und habe dann einfach die Arie über den Hip-Hop-Beat gesungen.“ Das Resultat: Das „Largo“ aus Mozarts „Le nozze di Figaro“ passt erstaunlich gut zu einem Beat von Rapper Kendrick ­Lamar. Banatunde nennt diese Mischung „Hip Hopera“. Das dazugehörige Video filmt er ganz simpel von sich selbst im Auto. Es geht sofort viral und hat mittlerweile über eine Million Klicks auf YouTube. „Das war, als würde man fast versehentlich eine Superkraft von sich entdecken.“

Daran knüpft auch Akinboboyes aktuelle Videoreihe an: eine Zusammenarbeit mit Jonas Kaufmann. Auch der weiß, dass er das Internet braucht, und ­Babatunde ­Akinboboye ist das Internetphänomen schlechthin: Im „Jonas Kaufmann Karaoke“-Video nimmt Kaufmann Akinboboye in seinem Auto mit durch Berlin. Gemeinsam schmettern sie die Hits aus seinem Album „The Sound of Movies“ und erzählen sich nebenbei ein paar nette Anekdoten. Dass der kleine Jonas eigentlich lieber Klavierspielen als singen wollte und wie kaputt wohl die Stimmbänder von Louis Armstrong aussehen. Ein anderes Video zeigt die beiden mit ihrer liebsten Aufwärmübung: Man stopfe sich zum Singen ein Handtuch in den Mund. Jonas und Babatunde schwören darauf!

Neben seiner eigenen Musik postet Akinboboye auch jeden Tag kurze Videos, in denen er schwarze Komponisten und Sängerinnen vorstellt: Jessye Norman, Mahalia Jackson, Marian Anderson, John Holiday, Paul Robeson oder Leontyne Price, für die er persönlich schwärmt: „Sie ist wahrscheinlich eine der besten Sopranistinnen jemals! Und bemerkt mal bitte, dass ich nicht ‚Schwarze Sopranistinnen‘ gesagt habe!“ Bemerkenswert, wie flink Akinboboye mal so eben Rassismuskritik in einem Video unterbringt, das kürzer als eine Minute ist. Sowieso schert er sich nicht um die ungeschriebenen Regeln der Opernszene, denn er weiß, dass sie im Internet kein Gewicht haben. Er macht Späße über einen Betrieb, von dem er selbst Teil ist und auch profitiert. Ganz unverblümt macht er sich lustig über cholerische Intendanten, die sich nicht für Diversity einsetzen, oder Mäzene, die verhindern wollen, dass schwarze Menschen an Opernproduktionen teilnehmen.

Am liebsten genauso verrückt wie ­unsere Welt

Seine Munition: Reichweite. Seine Währung: Aufmerksamkeit. Akinboboye bekommt viel Resonanz, nicht nur von der Gen Z, sondern auch von anderen Kollegen oder Managern: Sie nehmen den Betrieb ähnlich wahr, trauen sich allerdings nicht, Kritik zu äußern, wie es Akinboboye tut. Während der Corona-Pandemie legte der nochmal eine Schippe drauf: „Es ist einfacher, die Schwierigkeiten in der Branche offen anzusprechen, wenn man sich keine Sorgen machen muss, nicht eingestellt oder gefeuert zu werden, weil in der Pandemie niemand eingestellt wurde. Deswegen habe ich angefangen, noch ein wenig lauter über die Dinge zu sprechen, die mir in der Oper aufgefallen sind und die meiner Meinung nach anders laufen könnten.“

Babatunde Akinboboye kritisiert Rassismus, Sexismus und Hierarchien im Opernbetrieb – und das stets mit einem Augenzwinkern. Er zeigt eine Insider-Perspektive und witzelt über all die kleinen Dinge, die merkwürdig sind. So macht er Oper zugänglich und vor allem verständlich für ein neues, junges Publikum: „Der Grund, warum ich in der Lage war, all diese Sachen den Leuten so effektiv zu vermitteln, ist, dass ich erst so spät im Leben selbst zur Oper gekommen bin. Weil ich nicht mit Oper aufgewachsen bin, habe ich eine andere Perspektive auf die Kultur und sehe Oper immer noch oft so wie diejenigen, die keinen Bezug dazu haben.“ Regelmäßig kommentieren Leute seine Videos damit, dass sie wegen ihm angefangen hätten, in die Oper zu gehen und das seitdem nicht mehr missen wollen. Auf seinem Kanal hätten sie gelernt, dass man auch „ohne Anzug“ in die Oper gehen darf, welche Rollen oft mit Mezzosopranistinnen besetzt sind und woraus der gängige Werks­kanon besteht. Außerdem demonstriert ­Babatunde auch, was in der Klassikwelt oft verpönt ist: große, emotionale Reaktionen auf Musik. Etwas, das zwar viele Leute fühlen, aber nur wenige offen zeigen.

Mit seinen Videos will er den Opernbetrieb nicht mehr und nicht weniger als verändern: Oper soll raus aus der verstaubten Ecke mit den immergleichen Hits. Viel schöner wäre es, wenn das Genre genauso vielfältig, bunt und verrückt wäre wie die Welt, in der wir heute leben. „Ich bin nicht besorgt über die Zukunft der Oper. Ich bin viel eher gespannt auf das, was als nächstes kommt. Oper ist eine tolle Kunstform. Sie hat nicht ohne Grund die Barockzeit überlebt. Aber es bricht mir das Herz, dass sie zu einem Fossil geworden ist, das im Regal steht und verstaubt. Dabei ist sie doch wie eine Blume: Sie will wachsen.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2024

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Sperr ma zua …

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

von Florian Maier

Sie haben sich gefunden, allen Turbulenzen und Tränchen, allen Verwirrungen und Verwechslungen zum Trotz. Einer Fünffach-Hochzeit steht also endlich nichts mehr im Wege, die Operettenseligkeit schwingt sich auf zum großen Finale – und geht über in einen martialischen Marsch, während im Hintergrund historische Aufnahmen ausgemergelter KZ-Insassen projiziert werden und braungewandete Statisten mit Hakenkreuzbinden die Bühne beherrschen …

„Es blüht die süße Rebe,
Der Himmel ist so blau,
Viel tausend Jahre lebe
Der Zauber der Wachau!“

Am 14. Dezember 2023 begeht die Volksoper Wien ­ihren 125. Geburtstag. Direktorin Lotte de Beer und ihr Team hätten es sich einfach machen können: mit einer glamourösen Jubiläumsgala, einem gefälligen künstlerischen Potpourri, den üblichen wohlwollenden Reden aus Politik und Gesellschaft und vielleicht noch einer hübschen Begleitbroschüre fürs heimische Regal. Schnell auf die Beine gestellt, schneller Glanz fürs eigene Image, schnell vergessen. Stattdessen geht an diesem Abend eine über mehrere Jahre gewachsene Stückentwicklung über die Bühne: „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Produktion, die dort nachbohrt, wo viel zu lange tabuisiert wurde, die Stellung bezieht und auch einfordert: „Was würdest Du tun?“

„Wem dienen wir?“ – „Der Kunst.“ – „Und sonst?“ – „Dem Führer!“ (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Ihre Dienste werden nicht mehr ­benötigt.“

„Die Politik ist unwichtig! In vier Wochen ist Premiere! Das ist wichtig!“ Anfang 1938 sind die Proben zur Revueoperette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ in vollem Gange. Und auch wenn Regisseur Kurt Hesky es nicht wahrhaben will, die bittere Realität draußen spitzt sich immer mehr zu: ­Schuschniggs austrofaschistischer „Ständestaat“ und sein Ringen um Unabhängigkeit von Hitler-Deutschland, eine verzweifelt initiierte und dann doch noch gestoppte Volksabstimmung, der Einmarsch der Nationalsozialisten, die Rede am Heldenplatz. Der „Anschluss“ am 12. März 1938 ändert über Nacht alles – auch für die Volksoper. 1898 zum 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph noch mit deutlich antisemitischer Satzung eröffnet, hatten sich die Vorzeichen am Haus inzwischen umgekehrt: Die Volksoper lebte in der Zwischenkriegszeit ganz wesentlich vom kreativen Input ihrer jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Und jetzt? „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.“ Entlassungen. Vertreibung. Flucht. Verhaftung. Deportation. Ermordung im KZ.

2018 veröffentlichte Historikerin Marie-Theres Arnbom die Ergebnisse einer aufwändigen weltweiten Recherche rund um die letzte Volksopern-Premiere vor dem „Anschluss“, Jara Beneš’ „Gruß und Kuss aus der Wachau“ auf Texte von Hugo ­Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda. Das Ziel: Erinnerungsarbeit für die damaligen Schicksale jüdischer Ensemblemitglieder leisten, ihre Geschichten dem Dunkel der Zeit entreißen, stellvertretend für so viele ausgelöschte oder für immer überschattete Leben. Lotte de Beer wird kurz nach ihrer Berufung 2020 auf die Publikation aufmerksam, die im Zuge von „Lass uns die Welt vergessen“ jetzt in ergänzter Neuauflage erschienen ist. Für die Uraufführung lässt sie Arnboms Erkenntnisse für die Bühne adaptieren: Das Ensemble von heute spielt das Ensemble von damals.


EMPFEHLUNG

Marie-Theres Arnbom:
„‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘: Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“
(Ergänzte Neuausgabe 2023)
206 Seiten, Amalthea

Albtraum und Traumwelt

Eine „Stück im Stück“-Situation mit zwei Extremen, wie man sie sich unvereinbarer kaum vorstellen kann: hier fröhlicher Operettenklamauk in köstlichstem Wiener Schmäh, mit spritzigen Choreos (Florian Hurler) und pastelligen Prospekten; dort eine angespannte Probenatmosphäre, die Angst vor den neuesten Nachrichten, eine vergiftete „Ensemblekultur“, in der die einen blinde Panik ums nackte Überleben haben und die anderen ihre Mitgliedschaft in der „Nationalsozialis­tischen Betriebszellenorganisation“ über eigenmächtig angezogene NS-Uniformen auch auf die Bühne tragen. „Jeder 10. ­Wiener ist Jude, wissen Sie das?“ – „Ein echter Wiener zählt nur bis 9.“

Der niederländische Regisseur und Autor Theu Boermans hat sich des Spagats zwischen den Erzählebenen angenommen. Mit viel Fingerspitzengefühl zeichnet er nach, was damals hinter den Kulissen der Volksoper so oder ähnlich passiert sein muss. Am linken Bühnenrand positioniert er das Regieteam von 1938, in der Mitte werden in schnellen Probendurchläufen und mit zunehmendem Chaos die einzelnen Szenen von „Gruß und Kuss“ abgespult – dazwischen die schwelenden Konflikte zwischen Opfern, Tätern und „Verdrängern“, die wegschauen, still und ohne jedes Anecken an ihrem brüchigen „Alltag“ festhalten wollen. Historische Aufnahmen, darunter Schuschniggs Rundfunkansprache („Gott schütze Österreich!“) und der frenetische Jubel für Hitler bei dessen Rede am Heldenplatz, geben auf beklemmende Weise den fatalen Lauf der Geschichte wieder. Wie dieser den einzelnen Charakteren mehr und mehr den Boden unter den Füßen wegzieht, wird in privaten, abendlichen Momenten greifbar, die Bühnenbildner Bernhard Hammer auf einem kalten Stahlkarussell verortet.

Solidarisch sein oder weiterarbeiten? Die Operettenkünstler Emil Kraus (Sebastian Reinthaller) und Frida Hechy (Ulrike Steinsky) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

In der Realität wurde „Gruß und Kuss aus der Wachau“ am 16. Februar 1938 uraufgeführt und nach dem „Anschluss“ in einer „arisierten“ neuen Textfassung noch einen Monat lang gespielt – die Musik des tschechischen Komponisten Jara Beneš wurde weiterhin verwendet, da er im Gegensatz zu den Librettisten nicht jüdischer Herkunft war. Boermans nimmt sich für seine Dramatisierung die Freiheit, das historisch verbürgte Premierendatum um einige Wochen nach hinten zu verlegen, um so die reale Katastrophe und den Operetteneskapismus diametral zuspitzen und die Haltungen seiner Figuren noch schärfer herausarbeiten zu können. Laufende Umbesetzungen abseits jeglicher menschlichen Würde oder künstlerischen Berechtigung werden dadurch erst recht ad absurdum in ihrer Fratzenhaftigkeit entlarvt.

„Ein heiterer deutscher Theaterabend“

An Kunst um der Kunst willen ist anno 1938 ohnehin längst nicht mehr zu denken. Fritz Löhner-Beda, in der Zwischenkriegszeit einer der erfolgreichsten Librettisten und Schlagertexter, wird unmittelbar nach dem „Anschluss“ verhaftet und 1942 in Auschwitz erschlagen. Regisseur Kurt Hesky flüchtet nach Brasilien und findet sich dort im Edelsteinhandel wieder – über eine Fortsetzung seines künstlerischen Schaffens ist nichts bekannt. Victor Flemming, ein Wiener Sängerstar, wird bei seinem Fluchtversuch verhaftet, nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, 1944 ermordet. Intendant Alexander Kowalewski kann dem antisemitischen Druck von innen und außen nichts mehr ­entgegensetzen, wird seines Amtes enthoben und durch einen „arischen“, regimekonformen Nachfolger ersetzt. Komponist Jara Beneš mit seinen schmissigen Jazz-Rhythmen ist den Nazis ein Dorn im Auge – seine aufstrebende Karriere ist schnell vorbei, er stirbt 1949 völlig verarmt. Dirigent Kurt Herbert Adler flieht in die USA und leitet als einer der einflussreichsten Operndirektoren der Welt über drei Jahrzehnte die San Francisco Opera. Sopranistin Hulda Gerin wird trotz ihrer jüdischen Wurzeln lange protegiert, geht erst nach München und muss dann doch emigrieren – nach dem Krieg gelingt ihr unter dem Namen Hilde Güden eine große Karriere. Nur einige Namen, exemplarisch für unzählige Tragödien. Das Österreich der Nazizeit demontiert sich selbst. Und – Ironie des Schicksals – sorgt dafür, dass all seine erstickte Schaffenskraft von den Überlebenden dieser Gräueltaten in die Welt getragen wird. Ein „Kulturtransfer wider Willen“, wie Marie-Theres Arnbom es in ihrem Buch nennt.

Oben v.l.n.r.: Hugo Wiener (1904 Wien – 1993 Wien), Jara Beneš (1897 Prag – 1949 Wien), Kurt Herbert Adler (1905 Wien – 1988 San Francisco), Alexander Kowalewski (1889 Łódź – 1948 Wien); unten v.l.n.r.: Hulda Gerin (1917 Wien – 1988 Klosterneuburg), Fritz Löhner-Beda (1883 Wildenschwert/Böhmen – 1942 KZ Auschwitz), Kurt Hesky (1904 Lundenburg/Mähren – 1961 Rio de Janeiro), Victor Flemming (1886 Wien – 1944 KZ Auschwitz) (Fotos Archiv Volksoper Wien, Österreichisches Theatermuseum)

„Was würdest Du tun?“, so die zentrale Frage von „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Frage, die uns alle etwas angeht. Für „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ mündet der aufziehende Genozid im programmierten Bühnenchaos. Fast das gesamte Regieteam wird von einem Tag auf den anderen entlassen, Regisseur Kurt Hesky zum Weiterarbeiten gezwungen – er flüchtet sich in den Alkohol. Solistinnen und Solisten verlieren ihre Rollen, andere sind sofort bereit einzuspringen. Solidarität der „arischen“ Kolleginnen und Kollegen? Jeder ist sich selbst am nächsten. Besonders berührt eine fiktive Figur, die Theu Boermans ins Geschehen integriert: der Souffleur Ossip Rosental (­Andreas Patton), ein sensibler, introvertierter Feingeist, der irgendwann sogar seine Kippa gegen eine Hakenkreuzfahne eintauschen muss, um auf dem Nachhauseweg durch die Stadt nicht sein Leben zu riskieren. Er erhängt sich. Und die Volksoper? Propagiert ihre „bereinigte“ Premiere als „heiteren deutschen Theaterabend“. Der von Volksschauspieler Gerhard Ernst als melancholischer Kommentator angelegte Bühnenmeister bringt es auf den Punkt: „Wos soi ma do song? Sperr ma zua …“

Die fiktiven Rollen des Bühnenmeisters (Gerhard Ernst) und des jüdischen Souffleurs Ossip Rosental (Andreas Patton) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Wie bringt man den Albtraum 1938 und die Traumwelt der Revueoperette (beide aufwändig und historiengetreu ausgestattet durch Jorine van Beek) auf einen gemeinsamen musikalischen Nenner? Keren Kagarlitsky, die aus Israel stammende Hausdirigentin der Volksoper, war für die Rekonstruktion der Partitur von „Gruß und Kuss“ verantwortlich – nach langwierigen Recherchen konnte in einer Münchner Bibliothek nur noch ein Klavierauszug mit der „arisierten“ neuen Textfassung und einigen wenigen Hinweisen zur Soloinstrumentierung ausfindig gemacht werden. Was da erstmals seit 85 Jahren wieder am ­Währinger Gürtel erklingt, hat durchaus Ohrwurmcharakter, kleine komödiantische Perlen und einiges an Schwung zu bieten – „catchy und kitschy“, wie Kagarlitsky es nennt. Diesen heilen Schein kontrastiert sie mit „entarteter“ Musik von Arnold Schönberg, Viktor ­Ullmann und Gustav Mahler. Musikalische Brücken hat Kagarlitsky selbst noch während der Proben komponiert, unter dem unmittelbaren Eindruck des Angriffs der Hamas auf ihr Heimatland am 7. Oktober 2023. Militärische Blechrhythmen nisten sich da in Beneš’ streicherselige Operettenkulisse ein, ein hebräisches Gebet für den Frieden wird zitiert und über all dem schwebt die unendliche Trauer in Fritz Löhner-Bedas im Herbst 1938 im KZ entstandenen „Buchenwaldlied“:

„O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Oft genug wird die soziale Sprengkraft von Theater beschworen – oft genug ist ein Vorstellungsbesuch in Rekordzeit wieder vergessen. Nicht diesmal. „Lass uns die Welt ­vergessen – Volksoper 1938“ lässt einen nicht mehr los, die Beklemmung hält noch Tage, noch Wochen später an. „Bis die Vergangenheit mich einholt und es verbietet, spiele ich die Zukunft!“ Welche Zukunft verhandeln wir? Haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt? Was setzen wir gerade jetzt wieder aufs Spiel? Von der süßlichen Idylle von Gasthaus, Ritterschloss und Dampferfahrt bleibt nicht viel übrig, wenn Zeilen wie „Das Schönste ist der Wassersport“ mit Original-Filmdokumenten von Europa den Rücken kehrenden, überfüllten Flüchtlingsbooten bis zur Grenze des Erträglichen pervertiert werden. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, und vielleicht liegt genau hierin die Crux des vielzitierten Operetteneskapismus: „Lass uns die Welt vergessen“ – aber auch die Mitmenschen, mit der wir auf ihr leben? Am Ende sitzt Librettist Hugo Wiener in seinem Zufluchtsort Bogotá an einem verstimmten Klavier und singt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“.

STÜCK

Buch von Theu Boermans unter Verwendung von Text und Musik aus „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ (1938), Operette von Jara Beneš, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda
Mit zusätzlicher Musik von Arnold Schönberg, ­Viktor Ullmann und Gustav Mahler sowie neu ­komponierter Musik von Keren Kagarlitsky

Musikalische Leitung Keren Kagarlitsky
Inszenierung Theu Boermans
Choreografie Florian Hurler
Bühnenbild Bernhard Hammer
Kostüme Jorine van Beek
Licht Alex Brok
Video Arjen Klerkx
Sounddesign Martin Lukesch
Dramaturgie Peter te Nuyl
Historische Beratung Marie-Theres Arnbom

Alexander Kowalewski, Intendant Marco Di Sapia
Ossip Rosental, Souffleur Andreas Patton
Hugo Wiener, Autor Florian Carove
Fritz Löhner-Beda, Librettist Carsten Süss
Kurt Herbert Adler, Dirigent Lukas Watzl
Kurt Hesky, Regisseur Jakob Semotan
Leo Asch, Bühne und Kostüm Szymon Komasa
Bühnenmeister Gerhard Ernst
Hulda Gerin (Miss Violet) Johanna Arrouas
Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg) Ben Connor
Fritz Imhoff (Püringer) Karl-Michael Ebner
Trudl Möllnitz (Franzi) Theresa Dax
Olga Zelenka (Resi) Sofia Vinnik
Kathy Treumann (Anni) Julia Koci
Walter Schödel (Werkmeister) Nicolaus Hagg
Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl) Ulrike Steinsky
Emil Kraus (Otto Binder) Sebastian Reinthaller
Franz Hammer (Pepi Marisch, Briefträger) Johannes Deckenbach
Kurt Breuel (Graf Ulrich von Kürenberg) Kurt Schreibmayer
Johanna Kreuzberger (Amalasvintha von Kürenberg) Regula Rosin
Horst Jodl Robert Bartneck
Fritz Köchl Axel Herrig
Hans Frauendienst (Wirt Glöckerl) Thomas Sigwald

Ensemble Kilian Berger, Victoria Demuth, Oliver Floris, ­Michael Konicek, Benjamin Oeser, James Park, Marina ­Petkov, Jennifer Pöll, Philip Ranson, Rebecca Soumagné, Anja Štruc, Anetta Szabo

Orchester der Volksoper Wien

Weitere Termine 3. April 2024, Wiederaufnahme im April und Mai 2025 (Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2024

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Sterben auf der Bühne können alle

Diana Damrau zu Gast in der „orpheus“-Redaktion

Diana Damrau zu Gast in der „orpheus“-Redaktion

„Wo kann ich etwas bewegen, das bewegt werden muss?“ Diese Frage stellt sich Sopranistin Diana Damrau nicht erst seit der Pandemie. Wahrscheinlich hätte sie unter „normalen“ Bedingungen aber kaum Zeit gefunden, ausführlich mit ihrer Studienfreundin Elke Kottmair zu telefonieren.

Neben der gemeinsamen Zeit an der Musikhochschule Würzburg ging es natürlich um die Frage, die alle Kulturschaffenden umtreibt: Wie systemrelevant ist die Kunst, wenn alle Theater geschlossen werden? „Ich hatte überhaupt mal Luft, darüber nachzudenken, was ich will, was zu mir gehört und was nicht mehr“, beschreibt Damrau beim Gespräch in unserer Redaktion die damalige Situation. „Ich bin mit Operette aufgewachsen, es war schon länger mein Herzensprojekt, ein Album in diese Richtung zu machen. Und da war Elke natürlich meine erste Anlaufstelle.“ Dass man in der Operette durch Tanz- und Entertainerqualitäten zusätzlich gefordert ist, weiß Kollegin Elke Kottmair nämlich nur zu gut: 12 Jahre war sie Ensemblemitglied an der Staatsoperette Dresden, kennt Repertoire und „Tücken“ ganz genau.

Gemeinsam haben die beiden angeknüpft an ihre Würzburger Allround-Ausbildungszeiten und bedauern, dass heute in den Hochschulen ihre damalige Ausbildungsbandbreite leider oft zu kurz kommt. „Sängerisch sind das banal gesagt ein paar Koloraturen mehr als in der Oper und ein wenig flotter im Mundwerk, weil die Tempi schneller sind“, meint Damrau. „Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Leute gleichzeitig noch mit Tanz und Spiel auf ebenso hohem Niveau zu unterhalten.“ Kottmair hat noch einen anderen Blick auf das gemeinsame Projekt: „Durch Dianas weltweite Popularität profitiert auch das Genre von dieser Aufnahme. Wir haben mit ‚Wien, Berlin, Paris‘ bewusst ein ganz weites Feld gesteckt, da ist für jeden etwas dabei. Diana ist die perfekte Protagonistin, sie kann singen und spielen gleichermaßen und hat eine riesige Bühnenpräsenz.“

Und es gibt noch etwas anderes, das sie motiviert hat, wie die beiden verraten: Wenn man weiß, dass in Operetten – im Vergleich zu gängigen Opernstoffen mit ihren vielen sterbenden Diven – die Damenwelt am Ende meist die Oberhand behält, ist es vielleicht auch kein Wunder, dass sich für diese musikalische Hommage ausgerechnet zwei Frauen gefunden haben.

Iris Steiner

Das komplette Interview lesen Sie in unserer Ausgabe März/April 2024 (erhältlich ab 1.3.2024).

Wie kann ich stören?

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Dr. Rebekah Rota: Allrounderin mit Outsider-Status

Zwei Jahrzehnte lang stand sie in über 40 Sopran-Partien selbst auf der Bühne. Dann entschied sich Dr. Rebekah Rota für den Wechsel hinter die Kulissen und erwies sich als Allrounderin: erst Regie, Disposition und Operndirektion – und jetzt, seit vergangenem Herbst, ihre erste Intendanz an der Oper Wuppertal. Arbeiten im Krisenmodus ist der US-Amerikanerin dabei alles andere als fremd

Interview Florian Maier

Opernsängerinnen und -sänger sind eher selten an der Spitze eines Theaterbetriebes anzufinden. Wollen Sie ein Vorbild sein?
Das würde ich mir nie anmaßen. Es gibt den Spruch „Jeder ist austauschbar“. Das stimmt zwar, kann aber schnell dazu führen, dass jeder einzelne Akteur seine eigene Stimme unterschätzt – aus Angst, ersetzt zu werden, wenn man zu laut, zu unangenehm, zu diffizil ist. Wenn ich ein Vorbild für etwas sein könnte, dann wäre ich es gerne im Hinblick auf das Vertrauen, dass jeder Einzelne zählt. Man muss nur den richtigen Rahmen finden und manchmal ist das ein anderer als zunächst gedacht. Ich kann alles ein bisschen und alles ein bisschen schlecht – die beste Voraussetzung für eine Führungskraft. (lacht)

Sie waren 20 Jahre Sopranistin, bevor Sie ins ­Management gewechselt sind. Gab es ein Schlüsselerlebnis für diese Entscheidung?
Mehrere. In meiner Zeit als Sängerin habe ich es leider viel zu oft erlebt, nicht geschätzt zu werden. Ein Regisseur, der eine Oper inszeniert und stolz darauf ist, die Oper nicht zu kennen, lässt keine Frage, nicht den kürzesten Dialog zu. Ein Opernhaus, das sich weigert, weibliche und männliche Sänger gleich zu honorieren und nach vielen Jahren der Zusammenarbeit einen falschen Vertrag schickt, in dem nicht mal mein Name richtig geschrieben wird. Es kann für unsere Branche auf Dauer nicht gut sein, wenn Leitungsebenen kein Verständnis dafür haben, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Und oft schwingt eine gewisse Arroganz dem Publikum gegenüber auch noch mit, gespeist aus einem vermeintlich intellektuell-elitären Ansatz, der sich selbst genug ist.

Sie sind damals als alleinerziehende Mutter auf sich gestellt aus den USA nach Deutschland gekommen. Gab es Raum, über Ihre beruflichen Zweifel und ­Ängste zu sprechen?
Das war eine harte Zeit und ich fühlte mich sehr alleingelassen damit. Ich hatte zeitweilig auch Stimmknötchen und trotz toller Kolleginnen und Kollegen Angst, offen darüber zu reden – in unserem System fühlst Du Dich letzten Endes wie eine Einzelkämpferin. Dementsprechend dankbar war ich, dass ich es, dank einem hervorragenden Chirurgen an der Berlin Charité und entsprechendem Stimmtraining im Anschluss, nach sechs Monaten wieder auf die Bühne geschafft habe und dadurch ein besseres Verständnis für mein eigenes Handwerk gewonnen habe.

Als Violetta in Verdis „La traviata“ am Landestheater ­Neustrelitz, 2015 (Foto Tom Schweers)

Haben Sie das Gefühl, dass in der Branche inzwischen ein spürbarer Wandel einsetzt?
Es wird momentan zumindest sehr viel darüber geredet. In verschiedensten Initiativen wird versucht, mal mehr und mal weniger zu hinterfragen. Aber die Bereitschaft, wirklich große Schritte zu gehen, fehlt. Das würde voraussetzen, die Oper und ihre ursprüngliche Rolle als humanistische Stimme für die Gesellschaft zu betrachten und an diesem Grundsatz Finanzierung, Arbeitsbedingungen und vieles mehr neu auszurichten. In einem riesigen System Grundsätzliches infrage zu stellen, ist immer ein langer Prozess.

Ihre Wuppertaler Intendanz sind Sie mit einer „zukunftweisenden Vision von einem demokratischeren und weltoffenen Theater“ angetreten. Wie darf man sich diese Vision denn konkret vorstellen?
Sie betrifft drei Bereiche: die Prozesse hinter der Bühne; die Kunst, die wir produzieren; und unseren Umgang mit dem Publikum. Es ist klar, dass in den Theaterstrukturen, in denen ich jetzt arbeite, eine klare Entscheidungsstruktur vorgegeben ist. Die Unternehmenskultur, mit der wir diese Struktur jeden Tag beleben, versuche ich demokratischer zu gestalten. Und das heißt, beispielsweise Entscheidungen transparenter zu machen. Vorher wird definiert, welche Beteiligungsgruppen über welche Punkte entscheiden und nach welchen Parametern das geschieht. Beispielsweise wurde vor meiner Zeit am Haus ein sogenannter ­Orchesterüberbau veranlasst, unter dem das Orchester aus verschiedenen Gründen sehr gelitten hat. Ich wurde gleich zu Beginn meiner Intendanz gebeten, ihn entfernen zu lassen, wollte das aber nicht einfach so aus dem Bauch heraus entscheiden, ohne alle Fakten zu kennen. Deshalb habe ich das Orchester, die Musikalische Leitung, aber auch den Chor und die Solisten auf der Bühne und die Technik miteinbezogen. In den Bühnenorchesterproben für „Tristan und Isolde“ wurde einmal mit und einmal ohne den Überbau gespielt, ich saß beide Male im Graben, um mich in die Perspektive des Orchesters hineinzuversetzen. Am Ende haben wir diskutiert und die finale Entscheidung habe zwar ich getroffen, aber im Konsens mit meinen Mitarbeitenden. Inzwischen ist der Überbau entfernt worden.

Passend dazu haben Sie als „erste Amtshandlung“ einen strategischen Opernbeirat ins Leben gerufen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Gewerken und Abteilungen eingeladen, sich darin einzubringen. Wie fielen die Reaktionen aus?
Sehr positiv. Ich hatte allerdings ehrlicherweise erwartet, dass sich am Ende mehr Menschen dafür anmelden würden. Das Interesse ist bis jetzt noch zurückhaltend. Ich bin aber sehr glücklich mit dem Team, mit mir sind wir zu acht in einer super Mischung querbeet durch das ganze Haus, vom Orchester und der Bühnentechnik bis hin zu Maske und Requisite. Wir hatten ein erstes Treffen und werden im Januar wieder zusammenkommen – mal sehen, wohin die Reise geht.

Im Zuge Ihrer Berufung als Opernintendantin sprach der Wuppertaler Kulturdezernent ­Matthias Nocke von einem „inhaltlich und künstlerisch ausgezeichneten Spielplan für gleich fünf Spielzeiten, der nicht nur durchgerechnet war, sondern auch von handwerklich exzellenter Qualität ist“. Was sind denn Ihre großen Leitlinien für die nächsten Jahre?
Ein ganz wesentlicher roter Faden in der Programmatik sind zeitgenössische Opern von internationalen Komponistinnen und Komponisten zu gesellschaftlich relevanten und ja, auch sehr schwierigen Thematiken. „Angel’s Bone“ von Du Yun hat den Auftakt gebildet, es geht darin um moderne Sklaverei und Menschenhandel. Das Werk für die kommende Spielzeit entsteht gerade, die Kammeroper „Suites for Sleeping Children“ als Auftragsarbeit der libanesischen Komponistin Layale Chaker. Wir werden uns darin in Koproduktion mit dem ­Spoleto Festival und der niederländischen Reis­opera den Traumata geflüchteter Kinder stellen. Eine weitere wichtige Leitlinie meiner Programmatik ist es, Opern unbekannter Komponistinnen zur Aufführung zu bringen. Stücke, die einen Bezug zu Wuppertal haben, sind ebenso ein wichtiger Baustein. Zur Vermittlung der Faszination, die von der Oper ausgehen kann, nutzen wir Edutainment-Programme wie beispielsweise „Das ­Universum der menschlichen Stimme“, die regelmäßig an Orten außerhalb des Opernhauses stattfinden.

Missbrauchte Engel in ­Käfighaltung: Du Yuns „Angel’s Bone“ im Herbst 2023 (Foto Oper Wuppertal/Daniel Senzek)

Die Reaktionen zu „Angel’s Bone“ fielen teils sehr emotional aus, weil die Zuschauer „hartem ­Tobak“ zu Problemen unserer Zeit ausgesetzt wurden. Das stieß nicht immer auf Gegenliebe. Woher rühren diese Wider­stände?
Ich glaube, das ist nicht nur ein Problem der Oper, sondern ein Problem unserer Gesellschaft. Natürlich ist es keine schöne Sache, mit schwierigen oder unangenehmen Themen konfrontiert zu werden – vor allem dann, wenn man an diesem Abend eine Erwartung des Konsumierens oder des rein ästhetischen Genusses hat. Aber die Operntradition ist eine sehr lange – historisch gesehen waren nicht wenige Werke immer schon sehr politisch, aktuell und haben für Aufruhr gesorgt. Unser Publikum ist ein sehr breites und ja, es gibt diese eher ablehnenden Stimmen, aber durchaus auch andere, die es sehr begrüßen, solche Stoffe zu sehen. Ich hoffe, in meiner Spielplansetzung einen Platz zu finden für alle diese Stimmen, ich will nicht nur eine bedienen.

Ist die Diskussion darüber schon der halbe Gewinn?
In der Tat, die Diskussion über „Angel’s Bone“ hat ein Scheinwerferlicht auf das problematische Thema Menschenhandel geworfen und zu Diskussionen über Möglichkeiten zur Verbesserung geführt – insbesondere in den begleitenden Nebenprogrammen.

Schlagzeilen gemacht haben Sie erst kürzlich mit dem Slogan „Lego trifft Ikea“. Was steckt ­dahinter?
Unser neues Konzept für ein wiederverwend­bares und damit nachhaltiges Bühnenbildsystem, „­Modular Stage Zero“. Gedanklich ist das eine Erweiterung praktikabler Podeste, die an jedem Theater schon vorhanden sind. Das Grundmaterial ist aber viel filigraner und kann in der Oberfläche schnell und individuell beschichtet werden, sodass das Ergebnis bei jeder Oper wie ein komplett neues Bühnenbild wirkt. Im Prinzip wie Lego­steine auf Rädern, die 360 Grad bespielt werden können. In den nächsten Jahren werden wir für ausgewählte Inszenierungen den Produktionsteams immer wieder die Vorgabe machen, mit „Modular Stage Zero“ zu arbeiten. Und diese können dann auch neue passende Teile anfertigen lassen, die sich in das System einfügen – so, als ob ein Kind zu Weihnachten ein neues Lego-Set bekommt. Über die Jahre wird das Gesamtkonstrukt also immer mehr zu bieten haben.

Ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckt derzeit ein innovatives Pilotprojekt, „Spür zu: Oper zum Fühlen“. Audiodeskription in der Oper kommt inzwischen vermehrt zum Einsatz, Angebote für gehörlose und hörbeeinträchtige ­Menschen waren gerade in dieser Kunstform dagegen lange Zeit kaum vorstellbar. Wie funktioniert das Ganze?
Ich habe einen persönlichen Zugang zur Gebärdensprache, meine Schwägerin ist Lehrerin. Als dann meine Tochter geboren wurde, habe ich ihr von Beginn an die Gebärdensprache beigebracht, weil Kinder auf diese Weise nachgewiesenermaßen schon extrem früh kommunizieren können. Das hat tatsächlich geklappt, mit einem Jahr hatte sie schon einen Wortschatz von 100 Wörtern, lange, bevor sie Englisch und Deutsch sprechen konnte. So ist auch ein Kontakt zur entsprechenden ­Community entstanden. In den USA ist diese viel größer als hier, wodurch auch das Konzertangebot in dieser Hinsicht viel weiter fortgeschritten ist. Als ich dann noch auf einen Bericht zu sogenannten „Sound Shirts“ der Firma CuteCircuit gestoßen bin, ist in mir die Idee entstanden, ein solches Angebot auch für unser Publikum zu entwickeln. Bei „Spür zu“ werden wir mit solchen ausleihbaren Sound Shirts arbeiten. Diese verwandeln die Töne in feine Vibrationen und übertragen sie drahtlos auf den Menschen. Man kann beispielsweise programmieren, dass die tieferen Töne in den Brustbereich übertragen werden, die Trompeten auf den Rücken oder die Geiger auf die Arme. Inzwischen ist die Technologie ausgereift genug, um das nötige Feingefühl für so etwas Komplexes wie Musiktheater zu liefern.

Opernhaus Wuppertal (Foto Andreas Fischer)

Wie weit sind Sie denn damit? Arbeiten Sie wissenschaftlich mit einem Kooperationspartner?
Anfang 2024 sollten wir die Sound Shirts vorliegen haben, um damit zunächst intern zu proben und an den Einstellungen zu feilen. Unser bester Ratgeber ist derzeit die Lyric Opera of Chicago. Das ist bisher das einzige Opernhaus weltweit, das diese Technologie eingesetzt hat – im Konzertbereich gibt es schon mehr Veranstalter mit diesbezüglichen Erfahrungen. Chicago hat in der letzten Spielzeit damit begonnen und viel positives Feedback aus der Stadtgesellschaft erhalten. Wir sind in engem Austausch, um aus den dortigen Erfahrungen zu lernen. Denn letztendlich ist die Oper im Kern ein Gesamterlebnis für alle Sinne, eine unmittelbare Kommunikation von einem Menschenherzen direkt an ein anderes. Und davon sollte keine Gesellschaftsgruppe ausgeschlossen sein.

Was kann das deutschsprachige Musiktheater denn sonst noch von der amerikanischen Szene lernen?
Es gibt im amerikanischen Raum natürlich ebenso konservative Systeme und Stimmen wie hier. Aber was ich sehr schätze ist die Einstellung, dass eine moderne musikalische Sprache nicht automatisch ausschließt, dass sie auch zugänglich sein kann. Musiktheater kann zugleich anspruchsvoll und verständlich, intellektuell und emotional sein. In der deutschen Tradition wird das Ganze in meiner Wahrnehmung allzu oft zu einem „Entweder/oder“ stilisiert und die eine Seite damit verpönt. In den USA ist die Haltung entspannter: „I don’t care where it’s coming from“ – wenn etwas gut ist, dann wird es auch genutzt.

Würden Sie Ihre Arbeitsmentalität auch Ihrer Prägung als US-Amerikanerin zuschreiben?
Ich glaube nicht, dass das an meiner Herkunft liegt. Aber dadurch, dass ich genauso viel zuhause und fremd bin in beiden Ländern, habe ich einen gewissen Outsider-Status, den ich bewusst sehr pflege. Ich halte das jedoch für eine persönliche Eigenschaft, die nichts mit meinem Status als Amerikanerin, als Sängerin oder auch als Frau zu tun hat. Wenn alles ruhig ist, dann überlege ich: Wie kann ich stören? Und wenn alles gestört und aufgewühlt ist, dann ­suche ich die Ruhe. Hauptsache, es ist anders, mit dem Ziel, altvertraute Muster aufzubrechen.

Dieses Interview ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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Singen gegen den Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

„Die Menschen möchten etwas fühlen“: Liederabende im Ukraine-Krieg

Der in Kyiv lebende ukrainische Countertenor Roman Melish ­veranstaltet deutsch-ukrainische Liederabende zur seelischen Stärkung der Bevölkerung. Wie ist die Stimmung im Land nach fast zwei Jahren Krieg? Wie kann Musik im Widerstand helfen?

von Georg Rudiger

Bis Mitte November durfte Roman Melish nicht sprechen. Im Sommer hatte der ukrainische Sänger seine Stimme komplett verloren. Nachdem er noch ein Konzert für Mütter von gefallenen Soldatinnen und Soldaten gegeben hatte, versagte sein „Instrument“, mit dem er im Krieg schon häufig Trost und Hoffnung spendete. „Man hat alles verloren, für das man sein Leben lang gearbeitet hat. Zunächst fühlte ich, dass ich selbst verloren bin. Ich weiß auch nicht, ob die Stimme so wiederkommt, wie sie war“, sagt er beim Videogespräch Ende November in seiner Wohnung in Kyiv, die bisher von Raketen- und Drohnenangriffen verschont blieb. „Das Sprechverbot über mehrere Wochen war hart. Ich konnte meine Gefühle nicht teilen – das war sehr schwierig. Auf der anderen Seite habe ich in dieser stillen Zeit mehr beobachten können: Menschen auf der Straße oder Bäume im Wind. Und mehr Musik gehört.“ In den nächsten Wochen tastet er sich in Absprache mit seinem Arzt langsam an seine Stimme heran. Als Countertenor soll er auf jeden Fall noch warten. Wenn die Heilung nicht auf konventionellem Weg gelingt, steht wohl eine Laser-­Operation an den Stimmbändern an. Aber das könnte nicht in der Ukraine gemacht werden. Warum seine Stimme derart beschädigt wurde, weiß er nicht. Wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung nach 20 Kriegsmonaten im Dauerstress.

Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Melish im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. „Ich war total gelähmt und hatte unglaubliche Angst.“ Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Kyiv zurückkehren. Nun herrschte überall Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. „Mein Bruder und ich haben unsere Dokumente gerichtet und einen Koffer gepackt für den Fall, dass wir fliehen müssen“, berichtete er im Januar 2023 in einem ersten persönlichen Gespräch. Erst am 6. April 2022 kehrt er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kyiv zurück. Und erlebt eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-Bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde. Am Anfang habe er sich als Musiker völlig nutzlos gefühlt im Krieg, aber das habe sich geändert. „Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.“

„Wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Roman Melish singt in der Bibliothek von Irpin, einer ehemals ­russisch besetzten Stadt in der Nähe von Kyiv (Foto Yevhen Petrychenko)

Besonders stark empfand er den Trost und die Stärkung durch die Musik bei den beiden Liederabenden, die er mit Kolleginnen und Kollegen im November 2022 in Irpin und Kyiv gab. „Solospivy yednannia. An die Musik“, lautete der Titel. Das von Franz Schubert vertonte Gedicht Franz von Schobers stand im Mittelpunkt. „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden, hast mich in eine beßre Welt entrückt!“ lauten die Verse, die im Kriegskontext nochmals an Tiefe und Bedeutung gewannen. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge konnten sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Dass diese beiden deutsch-ukrainischen Liederabende stattgefunden haben, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von „LIEDBasel“ hat mit Roman ­Melish zusammen in Basel studiert. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Melishs Instagram-Profil furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf. „Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?“

Silke Gäng hat mit ihrem Team von „LIEDBasel“ Spenden gesammelt für dieses außergewöhnliche Projekt und gemeinsam mit Roman Melish das Programm zusammengestellt. Es gelang ihr sogar, im April 2023 den befreundeten Sänger mit der Sopranistin Ivanna Plish und dem Pianisten Andrii Vasin für ein Sonderkonzert zum Festival von Kyiv nach Basel zu holen. Taras Stoliar, der bei den Liederabenden in der Ukraine noch die Lautenzither Bandura – das ukrainische Nationalinstrument – spielte, erhielt kurzfristig keine Ausreisegenehmigung, weil die Frühjahrsoffensive der Ukraine anstand und er dafür als Soldat zur Verfügung stehen musste. Heute ist Stoliar mit seiner Musik an der Front und spielt für seine Kameradinnen und Kameraden Metallica-Songs auf dem zart klingenden Instrument. Für das Basler Konzert sprang die in der Schweiz lebende Dirigentin und Banduraspielerin ­Sviatoslava Luchenko ein und rettete den Abend, den Silke Gäng als sehr emotional in Erinnerung behielt. „Viele ukrainische Freunde von Roman waren da. Und auch unserem Publikum ging das Konzert nahe.“

Liederabend in der St.-Andreas-Kirche in Kyiv. Taras Stoliar, der als Frontsoldat seinen Dienst leistet, spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument (Foto Yevhen Petrychenko)

„Werden wir noch leben im Februar?“

Auch für Roman Melish war dieses Konzert ein Lichtblick in dunkler Zeit. „Russland möchte mit den Angriffen auf die Zivilbevölkerung unsere Moral brechen. Die Aufmerksamkeit und Unterstützung aus Basel helfen dabei, sich nicht alleine zu fühlen. Natürlich sind wir manchmal völlig erschöpft und hoffnungslos. Aber von unserem Konzert in Basel konnten wir noch lange zehren. Das war ein Licht in der Dunkelheit. Und wir brauchen weiterhin dieses Licht, um es anderen weitergeben zu können, die es dringend benötigen.“ Natürlich habe er geglaubt, dass der Krieg früher enden würde. Aber er könne den Kriegsverlauf nicht beeinflussen, sagt er mit ruhiger Stimme. Er unterstützt die Armee mit Spenden. Und berichtet seinen Freunden im Ausland vom Schicksal seines Landes, das durch den Krieg in Israel an Aufmerksamkeit verloren hat. Vom persönlichen Militärdienst ist Melish bislang freigestellt. „Ich habe Angst davor, dass ich selbst mal an die Front muss. Aber wir brauchen Leute dort. Unser Feind Russland hat mehr Soldaten. Für Putin sind Menschenleben nicht wichtig. In der ­Ukraine zählt jedes einzelne Leben. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir so lange Widerstand leisten. Wir haben eine starke Armee. Vor allem aber haben wir eine starke Moral und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.“

Und wie kann Musik in der derzeitigen Situation helfen? Die Ukraine bräuchte mehr Waffen und mehr Soldaten. Aber Musik könne trösten und dabei helfen, erlittenes Leid zu verarbeiten. Roman Melish erzählt von seinem letzten Konzert, vom Weinen einer Mutter um ihren getöteten Sohn, einem ausgezeichneten Piloten. „Sie spürte durch unseren Gesang, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Trauer. Wir vergessen nie, dass Dein Sohn gestorben ist, damit wir immer noch leben.“ Obwohl er nicht weiß, ob sich seine Stimme vollständig regeneriert, plant er nun gemeinsam mit Silke Gäng neue Liederabende, die um den 24. Februar 2024, den zweiten Jahrestag des Krieges, in Kyiv stattfinden sollen. Auf dem Programm stehen dieses Mal Vokalquartette von Johannes Brahms und Hans Huber, eines ­Schweizer Komponisten, und viel ­ukrainische Musik. Sie möchten damit in größeren Sälen wie der Universität und der Philharmonie auftreten. „Es ist schön etwas vorzubereiten, auch wenn wir nie wissen, was morgen sein wird. Werden wir noch leben im Februar? Ich weiß es nicht, aber wir müssen nach vorne schauen. Wir werden das alles organisieren. Und hoffen darauf, dass die Liederabende stattfinden können. Die Konzerte wären wichtig für uns – und natürlich für unser Publikum.“

„An die Musik – Song Recitals in Times of War“
Videomitschnitt des Livekonzerts vom 25. November 2022 in Kyiv auf YouTube

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2024

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Und was macht das jetzt mit Dir?

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

Zum Niedergang der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio

von Dr. Thomas von Steinaecker

Ein Gespenst geht um in den Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen angestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer „echten Kulturoffensive“ im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen „Kahlschlag“ befürchten. Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von „Diwan, das Büchermagazin“ über „Kinokultur“ bis hin zum „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“. Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird – ob nun beim HR, WDR oder eben jüngst beim BR. Im Jargon des dortigen Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es, man wolle „noch mehr Hörerinnen und Hörer“ gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und ­Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein. Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Wie sieht er aus? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet „niedrigschwellig“. Woher jedoch kommt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur? Und woher die Vorstellung, es einem Hörer recht und immer noch rechter zu machen?

Damals: Die kulturell vielfältigste ­Radiolandschaft der Welt

Wirft man einen Blick zurück, auf die 1950er Jahre, die Anfangszeit des heutigen Radios, das in einer Epoche ohne Fernsehen noch Leitmedium war, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den der Begriff „elitär“ noch fast zu schwach erscheint. Der exzentrische Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern und in „Radio-Essays“ baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans ­Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll in „Sprachlaboratorien“ über „geistige Probleme“ nachzudenken. Das „Abendstudio“ des ­Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto „Zumutung höchster Ansprüche“ und der NWDR leistete es sich, ein teures elektronisches Studio mit den modernsten Apparaten auszustatten sowie Karlheinz ­Stockhausen für Avantgarde-­Kompositionen ein ordentliches monatliches Salär zu zahlen. Nicht selten zog das Reaktionen nach sich wie nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs „Träume“, das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte einsperren, so ein Hörer. Und wo man schon dabei sei: dieser Stockhausen (dessen Mutter von den Nazis euthanasiert wurde), der gehöre „vergast“. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Gütesiegel.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den 1950er Jahren nicht nur die kulturell anspruchsvollste und vielfältigste in Europa, sondern auf der Welt war. Deutschland wurde damals zu einem international einzigartigen Radioland. Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde Null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte, vor allem die USA, investierten Unsummen in das, was sie „Reeducation“ nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essentielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dieses analysierende Argumentieren, das so etwas wie das kühle Herz dieser Sendungen ausmacht, oft mit schwer verdaulicher Trockenheit einherging. Und ja: Das alles war, eben zeittypisch, eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Und sicher: An manchen Stellen lief dieses Projekt der Aufklärung Gefahr, zu einem exklusiven Club der Besserwisser zu werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt. Trotzdem: Dieser unschöne Begleitakkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundes­republik und seines Radios ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln hervorrufen würden. Darunter vor allem die Nummer eins auf einer Shitlist des Uncoolen: „intellektuell“. Intellektuell? Kanon? Bildung? Das Radio als kulturelle Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts? Echt jetzt? Kann schon sein, dass manch einem da ein „Ist mir zu deep, Digga!“ auf der Zunge liegt.

Heute: Emotion sticht Analyse

Björn Wilhelm, vorher Programmchef des NDR-Fernsehens, seit März 2022 Programmdirektor Kultur des Bayrischen Rundfunks (Foto BR/Markus Konvalin)

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten „Regal“ bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit Dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen. Im aktuellen Positionspapier des BR, die Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es etwa, dass „ganz neue Formate geplant seien“ und „traditionelle Literatur­kritiken ersetzt“ würden durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen. Ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das bereits seit Jahren im „Tagesgespräch“ auf Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der Hörer aus der Gruppe der legendenumwoben ominösen und von allen Seiten auf anbiedernde Weise umworbenen postmateriellen und neoökologischen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den sogenannten Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? „Zumutung höchster Ansprüche“? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja, höhlenmenschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht.

Aber vielleicht existiert er ja doch – in naher Zukunft. Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Wunsch- oder besser Albtraumhörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Totalverweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. Aber wen juckt schon so ein Vertrag? Bildung, wozu? Am Kipppunkt in der Entwicklung eines trotz Fernsehens und Internet immer noch maßgeblichen Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es geht um viel Grundsätzlicheres und Gefährlicheres: Ohne Not wird hier Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den 1950ern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit Dir?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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Hey, ich bin Antonia!

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Unsere MUT-Medienpreisträgerin Antonia Kalinowski

Gleich zwei Preise räumte die 25-jährige Musicaldarstellerin am Münchner ­Gärtnerplatztheater beim diesjährigen MUT-Wettbewerb (für Musikalisches ­UnterhaltungsTheater) ab: den 2. Jury- und den Medienpreis, gestiftet von der „orpheus“-Redaktion. Mit eindringlicher Bühnenpräsenz, gekonntem Einsatz verschiedenster Stimmfarben und einer überzeugenden Körpersprache brachte die Studentin der Essener Folkwang Universität der Künste Jury wie Zuschauer auf ihre Seite. Aktuell sammelt sie in der Dortmunder Produktion des Rockmusicals „Rent“ praktische Bühnenerfahrung, ehe im März 2024 ihr Studienabschluss ansteht. Ein vielversprechendes Talent und bereits jetzt eine spannende Künstlerpersönlichkeit.

Interview Matthias Boll

Total überraschende Frage an die Absolventin der Rudolf-Steiner-Schule: Wie oft sind Sie schon gebeten worden, Ihren Namen zu tanzen?
Das kann ich noch an meinen Fingern abzählen. Das Thema ist leider sehr klischeebehaftet, ich weiß. Aber ja, ich kann meinen Namen tanzen und könnte es auch sofort vorführen.

Sie haben bei der MUT-Gala einen Song aus „Anastasia“ präsentiert, darin heißt es: „Denn mein Traum spricht zu mir: Gib deine Hoffnung nicht auf!“ Können Sie sich mit Anastasia identifizieren?
Ich würde es so interpretieren: Eine junge Frau versucht, nach ihrem Herzen zu leben, nach dem Sinn in diesem Leben zu suchen und sich mutig gegen ihre Ängste durchzusetzen.

Das Künstlerdorf Worpswede, in dem Sie aufgewachsen sind, bezeichnete Paula Modersohn-Becker als „Wunderland“. Schwärmt man mit 16 von Worps­wede oder eher vom Bahnticket nach Bremen?
Worpswede ist wirklich sehr schön grün und schnuckelig, die Museen sind toll und eine Inspiration. Das prägte meinen Bezug zur Kunst. Aber Bremen fand ich mit 16 spannender, erst recht nach dem Abitur.

Was war der Lebensmoment, in dem Sie wussten: Ich muss auf die Bühne.
In der Schule habe ich in „Peer Gynt“ mitgespielt und in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Ich habe die Freude gespürt, wie es ist, Geschichten zu erzählen und dies in einer Gruppe zu erarbeiten. Das spüre ich bis heute. Das Rampenlicht war nie ausschlaggebend, eher die Neugier darauf, was eine gute Geschichte mit mir macht.

„Mein Traum spricht zu mir“: Antonia Kalinowski im Finale des MUT-Wettbewerbs 2023 (Foto Marie-Laure Briane)

Nicht alle Eltern sind begeistert, wenn das Kind den Wunsch äußert, als Musicaldarsteller sein Geld zu verdienen. Wie hoch flog der Hut im Hause Kalinowski?
Ich habe das große Glück, dass mich meine Eltern immer unterstützt haben. Meine Schwester und ich sollten etwas machen, das ihnen Schmetterlinge im Bauch beschert. Meine Eltern schneiden alles aus, was über mich in der Zeitung steht. Vor dem MUT-Auftritt sagte meine Mutter: „Antonia, wenn es nicht klappt, machen wir uns einfach eine gute Zeit in München.“ Es hat geklappt, das bayerische Frühstück am nächsten Morgen war wunderbar.

Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff Ruhm?
Ja, aber ich glaube, ich übersetze ihn für mich anders. Ich bin sehr ehrgeizig und diszipliniert, aber nicht geleitet vom Gedanken, dass ich die Nummer eins sein muss. Ich frage mich eher: Was macht mich aus, was macht mir so viel Freude, dass darin eine Herzensqualität steckt?

Hätte aus Ihnen auch eine Opernsängerin werden können?
Ich finde diese Sparte unfassbar beeindruckend, aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Die Erzähl­variationen des Musicals ziehen mich mehr an. Mein erster Musicalbesuch war „König der Löwen“ in ­Hamburg, ich war schwer beeindruckt und bin es geblieben.

Welches Vorurteil über Musicals würden Sie gern hier und jetzt widerlegen?
Ich glaube, das Genre wird von vielen Menschen missverstanden. Du musst alles ein bisschen können, tanzen, singen, spielen. Es ist aber mehr als nur ein bisschen von allem. Man erkennt sofort, wenn das Handwerk fehlt. Wenn du direkt nach einem Monolog singst und nicht mehr weiterspielst, das fällt auf. Man muss alle drei Sparten komplett durchdringen.

Die größte Krise durchlitt die Theaterbranche fraglos in der Pandemie. Was haben Sie gemacht in dieser Zeit?
Das war echt krass. Ich hatte Aufnahmeprüfung in ­Essen, bekam die Zusage – und zwei Tage vor Studienbeginn hieß es, dass es keinen Präsenzunterricht geben könne. Man freut sich dermaßen, und dann ist alles eingefroren. In meinem Jahrgang sind wir zu sechst, es gab viel Online-Unterricht. Immerhin hatten wir genügend Zeit, die Inhalte zu verarbeiten. Ich bin jedenfalls absolut zufrieden, auf der Folkwang zu sein. Hier liegt der Fokus auf dem Künstler und der Persönlichkeit dahinter, also: Wie kann ich mit meiner Farbe diese Rolle bereichern? Das macht einen zu einem sehr autonomen Darsteller. Ich bin froh, dass ich während Corona den Uni-Schutzmantel hatte, statt in der Realität mit roten Fahnen erwartet zu werden.

Stage Entertainment meldet erstmals wieder Besucherzahlen auf Vor-Corona-Niveau. Dennoch steht die Branche vor der Herausforderung, immer wieder ein neues, junges Publikum anzusprechen. Haben vielleicht Sie das Patentrezept?
Es ist eine schwierige Branche. Musicals wie „­Moulin Rouge“ schaffen es, die Leichtigkeit des Genres zu feiern. Und es gibt die Produktionen, die genau diese Erwartung mit Ernsthaftigkeit brechen. Viele glauben, Musical sei eine grelle Welt mit Tanz und Glitzer, dabei ist es so viel mehr. Deutschland hat Staats- und Stadttheater, die die kleineren, ernsthaften Formate bedienen, wie zuletzt Fürth mit „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“. Und in Hamburg gibt es eben die Großformate. Diese Mischung hält das Genre lebendig.

Auftrittspraxis im Studium (Foto Felix Rabas)

Sie beenden Ihr Studium Anfang 2024 – und dann?
Ich bin sehr gespannt. Natürlich guckt man, welche Geschichte man erzählen möchte. Stage oder das ­Ronacher würden mich interessieren, weil ich gern wüsste, wie es ist, pro Woche sieben Shows zu stemmen. Das ist sehr, sehr anstrengend. Für den Sommer 2024 ist etwas in Aussicht, das beruhigt erstmal. Durch den MUT-Preis habe ich schon auch die Möglichkeit zu sagen: Hey, ich bin Antonia!

Zum Job gehört auch die Robustheit, mit Absagen ­leben zu können. Können Sie?
Das Abgelehntwerden ist eine Komponente, die sich nicht leugnen lässt. Heute bist du vielleicht ein Star, morgen auf der Suche. Man muss lernen, sich damit vertraut zu machen. Dafür wird man in unfassbar vielen Momenten belohnt und weiß, weshalb man das macht.

Was muss man gemacht, erlebt, erlitten ­haben, um sich sagen zu können: Ich hab’s geschafft.
Superwichtig ist, sich ein Ziel zu setzen. Du bleibst sehr unglücklich mit dem Anspruch, es nur geschafft zu haben, wenn du bei großen Produktionen bist. Es liegt viel Frieden darin, sich den Druck zu nehmen. Brillieren kann man auch in Nebenrollen. Nichts gegen eine Hauptrolle, doch das muss im Verhältnis stehen zum persönlichen Flow.

Auf wessen Ratschläge vertrauen Sie?
Am allermeisten auf die meiner Familie. Nach einem Abend vor 700 Leuten muss man sich daran erinnern, dass man ein ganz normaler Mensch ist. Dafür habe ich meine Familie und einen guten Kumpel.

Wenn man Ihre Lieblings-Playlist durchforstet, welche Künstler finden wir da?
Auf jeden Fall Enya. Auch Joe Cocker, da sehe ich sofort, wie meine Mutter mit ihren Dance Moves durchs Wohnzimmer hottet. Aber bei mir gibt’s auch Techno, Klassik und ich mag Hörbücher sehr.

Lieber Teufelsmoor und Strand oder Berge?
Teufelsmoor. Mein Vater kommt zwar aus Bayern, aber Strand und Wasser machen das Rennen.

Hund oder Katze?
Hund. Ich liebe Katzen, habe aber eine Katzenhaar-Allergie.

Wagen oder E-Bike?
In Essen zu Fuß. Ein E-Bike hatte ich noch nie, und ich finde Autofahren unfassbar beruhigend.

Knüppel aus dem Sack oder Quinoa-Salat?
(lacht) Auf jeden Fall Quinoa-Salat! Was ist denn bitte Knüppel aus dem Sack?

Eine Bremer Mettwurst.
Nein, ich bin vegan unterwegs.

Wenn wir in zehn Jahren erneut ein Interview führen, wozu würden Sie sich dann gern gratulieren?
Dass ich Menschen getroffen habe, die mir geholfen haben, mich zu verbessern. Dass ich einen Workshop in den USA besucht und in einer Stage-Produktion mitgespielt habe. Dass ich weiß, dass ich nicht alles gemacht haben muss – und wie ich mir meine Energie einteile.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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