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„Ich habe eine neue Freiheit gewonnen“

Ein Gespräch mit Thomas Quasthoff

Ein Gespräch mit Thomas Quasthoff

von Claus-Ulrich Heinke

„Lass uns in den Garten gehen. Da ist es heute so schön“, begrüßt mich Thomas Quasthoff an der Tür. Wir sind in seinem Haus in Berlin verabredet. Es ist einer dieser wunderbar sonnigen Herbsttage, die das Gemüt beruhigen und in leicht melancholischer Weise anrühren. In dieser Atmosphäre sitzen wir nun unter herbstlich leuchtenden Bäumen auf der Terrasse und sprechen über Gott und die Welt.

Mir fällt seine Gelassenheit auf. „Ja, das stimmt. Ich fühle mich sehr wohl und entspannt. Bei dem Trubel, den ich in meinem Leben hatte, brauche ich nun diese ruhige Atmosphäre hier zu Hause. Auf Reisen hatte ich auch oft eine Art von Ruhe, wenn ich nach einem Konzert alleine in meinem Hotelzimmer war. Aber da war auch Einsamkeit. Jetzt ist es innere, heilsame Ruhe. Früher war ich ein größerer Gesellschaftsmensch und stand oft im Mittelpunkt. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ich genieße das Leben hier mit meiner Frau Claudia, unserer Tochter Charlotte und den Freunden.“

Wie auf ein Bühnenstichwort hin erscheint Claudia mit Kaffee und belegten Broten. Kleiner ehelicher Zwischendialog: „Danke dafür.“ „Ich bin jetzt weg. Der Hund ist oben.“ „Alles klar, mein Schatz. Ich hab dich lieb.“ Seit 14 Jahren sind sie verheiratet. „Es ist jetzt noch inniger als früher“, sagt Quasthoff mit einem liebevollen Lächeln um die Augen. Offen erzählt er auch von einer Krise, die sie aber durch Sprechen und Reflexion gemeistert haben. „Ich habe in der Zeit viel über mich selbst gelernt, auch durch etwas Hilfe von außen. Alles ist gut jetzt. Es ist das reine Glück.“ Über die andere Krise nach dem Tod des Bruders und seiner Mutter, in der es ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Stimme verschlug, ist oft und ausführlich berichtet worden. Das ist nicht unser Thema an diesem Vormittag. Vielmehr sprechen wir über die vielfältigen Möglichkeiten, die ihm sein jetziges Leben bringt. „Ich habe eine neue Freiheit gewonnen, was herrlich ist. Das gilt zum einen für meinen Terminkalender, ich kann selbst bestimmen, was ich will und was nicht. Viel mehr aber gilt die Freiheit der Vielseitigkeit, die sich mir eröffnet hat.“

Thomas Quasthoff
(Foto Gregor Hohenberg / Sony Music Entertainment)

Die Lust, sich mit der Stimme auszudrücken, ist unverändert

Und in der Tat. Über vierzig Jahre lang war der Sänger ein Weltstar der Klassikwelt. Heute entdeckt man seinen Namen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Auch mit differenzierter Sprechkunst – und das stets auf hohem Niveau. Ob er den Narr in Shakespeares „Was ihr wollt“ im Berliner Ensemble gibt, ob er Texte zu Haydns „Sieben letzten Worte“ rezitiert, ob es das Melodram in Schönbergs „Gurre-Liedern“ oder dessen erschütternde Komposition „Ein Überlebender aus Warschau“ ist – mit Simon Rattle, Zubin Mehta und Ingo Metzmacher an den Dirigierpulten: Seine Stimme berührt die Menschen. Beim Projekt „SWR Young ClassiX“ erzählt er spannende und unterhaltsame Geschichten für Kinder ab sechs Jahren, bei denen junge Menschen unversehens auch klassische Musik erleben. Oder man findet ihn auf dem Spielplan von Dieter Hallervordens Schlosstheater mit Texten von Hans-Dieter Hüsch. „Die Hüsch-Texte liebe ich. Er hat mir noch zu seinen Lebzeiten erlaubt, seine Worte zu lesen. Und ein Örgelchen hatte ich in bester Hüsch-Tradition auch dabei. Richtig toll waren jetzt im Sommer die musikalisch-literarischen Abende ‚Kurz und Knapp‘ zusammen mit Katharina Thalbach im Schillertheater. Wir hatten so viel Spaß und es war noch dazu ein Riesenerfolg.“

Endlich kann er auch eine alte Liebe neu erwecken: den Jazz. In vielen Interviews erzählt er, dass er dabei ein neues Instrument erlernen musste: das Mikrofon. „Ich bin im Jazz überhaupt der Lernende. Ich bin so glücklich, dass ich mit Simon Oslender (Klavier), Dieter Ilg (Kontrabass) und Wolfgang Haffner (Schlagzeug) drei Weltklasse-Jazzer an meiner Seite habe. Die wissen, wo es lang gehen muss.“ Wer allerdings das Quartett live erlebt, erkennt sofort, dass Quasthoff hier schwer untertreibt. Was er an Stimmfarbe, Emotionen, Improvisationen einbringt, zeigt ihn auch hier als Meister aller Stile. Dass er auch in diesem Genre die großen Konzertsäle wie in Baden-Baden, Wien, Hamburg, München und bei großen Festivals füllt, macht ihn durchaus stolz. Gibt es Unterschiede zum klassischen Lied? „Ja, im Jazz musst du viel intensiver aufeinander hören, bist in einem ständigen musikalischen Dialog miteinander und die Emotionen sind persönlicher, direkter. Gleichzeitig hast du aber auch eine große Freiheit bei der Gestaltung. Und das ist jedes Mal neu.“  

„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …“

Und dann war da vor fünf Jahren doch Bachs „Matthäus-Passion“ mit dem Dirigenten Thomas Quasthoff beim Verbier Festival. „Ein besonderes, unvergessliches Erlebnis. Ich wurde vom herrlichen RIAS Kammerchor, einem tollen Orchester und von mir ausgewählten Solistinnen und Solisten wunderbar unterstützt.“ „Hat die Musik von Bach, die du so oft auch selbst gesungen hast, einen Nachklang für deine eigene Religiosität?“, interessiere ich mich. „Weniger. Ich habe zum Christentum generell Distanz. Aber bei der ‚Matthäus-Passion‘ ist das anders. Als zum Beispiel der Chor bei unserem Konzert den Choral ‚Wenn ich einmal soll scheiden‘ a capella sang, hat das sehr tief berührt. Auch mich. Bis dahin hatte es übrigens ununterbrochen geregnet. Als ich in der Pause dann aus dem Saal ins Freie trete, bricht die Sonne durch, die Schweizer Berge liegen vor mir und der Himmel wird blau. Direkt nach diesem Choral! Weißt du, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…“

Ich komme, nicht ganz von ungefähr, auf eine bestimmte Choralzeile zurück: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten…“ Quasthoff reagiert prompt. „Das hat essentiell mit mir zu tun. Ich hatte in meinem Leben viele Ängste. Schau mal, mit neun Monaten kam ich für anderthalb Jahre weg von zu Hause und lag im Annastift Hannover im Streckverband. Visuell und körperlich ohne engere Beziehung zur Mutter. Heute weiß ich: Das ist die Wurzel meiner später immer wieder aufkeimenden Verlustängste. Lange habe ich mir gesagt, dass das alles Quatsch ist. Und dass ich das packe. Habe ich aber nicht. Erst in der Dynamik der Beziehung zu Claudia ist mir das klar geworden. Jetzt habe ich keine Angst mehr.“ Und er fügt hinzu: „Im Choral gibt es ja auch eine Vision, wie die Ängste sich auflösen können. Bach bzw. der Lieddichter Paul Gerhardt beziehen die Lösung der Ängste auf Jesus. Damit kann ich nicht so viel anfangen. Ich sehe das umfassender. Es ist die Liebe, die Hoffnung bringt. Zwischen den Menschen, auch zu mir selbst. Aber auch im Hinblick auf Freundschaften und auf Menschen, die mir helfen, auf dem Teppich zu bleiben.“

Liebe auch kosmologisch gesehen, wie bei dem großen Theologen Teilhard de Jardin? Lachende Antwort: „Ne ne, so kosmisch bin ich nicht, so esoterisch…“ Kleine nachdenkliche Pause, dann: „Es gibt aber schon Ebenen. Ich will jemanden anrufen und das Telefon klingelt und der Mensch ist dran. Oder, was ganz eigenartig war: Ein dreiviertel Jahr nach dem Tod meines Bruders kommt er zu mir im Schlaf und streichelt über meinen Kopf. Das war nicht eingebildet. Das war real. Ich habe es gespürt… Ach, ich weiß es nicht. Wissend werde ich vermutlich erst sein, wenn ich den Löffel abgegeben habe.“

Und dann sprechen wir doch über die letzten Tage seines Bruders, wie er ihm die Hand hielt, über die Palliativbegleitung, über den Tod der Mutter und ihre letzten Worte „Pass mir auf die Claudia auf“ und wie er vor der Beerdigungsandacht seiner Mutter Zeit alleine in der Kapelle hatte, weinen konnte und Abschied nahm.

Thomas Quasthoff
(Foto Gregor Hohenberg / Sony Music Entertainment)

„War der Abschied von der Klassik auch so bewegend für dich?“ „Nein, ich denke ohne Wehmut daran. Manchmal, wenn ich Aufnahmen höre – etwa meinen Liederabend beim Oregon Bach Festival in Eugene, denke ich sowas wie ‚Mh, det war schon jut, wa‘. Also eher zufrieden und gelassen als melancholisch. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, wo ich mit Claudia in Weimar im Konzert saß und mir die Tränen nur so runtergeflossen sind. Auf dem Programm stand Mahlers ‚Lied von der Erde‘. Ich liebe dieses Stück wegen dieser Auseinandersetzung Mahlers mit dem, was danach kommt, und überhaupt mit dem Sterben. Am Ende des Liedes ‚Abschied‘ wiederholt er das letzte Wort ‚ewig‘ mit langen Tönen immer wieder, eingehüllt von verendenden, langen Orchesterklängen. Diese unendliche Ruhe, die diese letzten Takte haben, war zu viel für mich. Da wurde mir bewusst, dass ich das nie wieder in meinem Leben singe. Dieser Gedanke hat mich damals sehr ergriffen. Komischerweise: Ab da war es dann aber durch. Vorbei und ein abgeschlossenes Kapitel.“

Unser Gespräch gönnt sich etwas Schweigen, Regen kommt auf und wir wechseln in das Wohnzimmer, um noch ein paar letzte Gedanken zu thematisieren. Gibt es eine Angst vor der Zeit ganz ohne Bühne? „Nein. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Zum einen habe ich das jetzt schon seit März, seit der Lockdown begann. Und: Ich habe auch drei Jahre gar nicht gesungen. Nee, ich habe keine Angst, alles hat seine Zeit. Wir sind vergänglich. Das Menschliche Sein ist ein Übergang – und das meine ich nun doch gesamtkosmisch. Ich bin da relativ entspannt. Mich beschäftigt viel mehr, was wir unserer Tochter und ihrer Generation hinterlassen.“ Und dann mit vehementem Metall in der Stimme: „Ich hasse Intoleranz, Rassismus und Nazi-Ideologie. Querdenker, die mit Rechten zusammengehen – das geht gar nicht! Verschwörungstheoretiker und Rapper mit einer Intelligenz wie ein Salzstreuer. Das alles ist ganz schlimm und wir müssen dagegen angehen!“

Eine letzte Frage. „Noch einmal zurück zum ‚Abschied‘ aus Mahlers ‚Lied von der Erde‘ und deiner Gelassenheit, über die wir heute zu Beginn unseres Gespräches redeten. Gelassenheit hat auch mit Loslassen zu tun. Letztendlich, und das im wahrsten Sinne des Wortes, auch am letzten Ende des Lebens. Angst vor dem Sterben oder gelassene Ruhe?“ Ein Moment Schweigen und Nachsinnen. Dann seine Antwort: „Über den Tod zu reden, fällt mir schwer. Was ich aber weiß: ich möchte eher gehen und mir nicht vorstellen, alleine zu sein. Wenn es aber so kommen würde, wäre ich doch nicht allein. Meine Tochter und Freunde wären da. Das ist tröstlich.“ Bald danach verabschieden wir uns. Im Auto verharre ich noch ein wenig, bevor ich starte. Dieser Vormittag im Herbst war geschenkte Zeit.

Zum Ende der „Causa Spuhler“

Umstrittener Führungsstil am Badischen Staatstheater Karlsruhe

Umstrittener Führungsstil am Badischen Staatstheater Karlsruhe

von Manfred Kraft

Eigentlich begann die Führungskrise am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit einem ganz alltäglichen Vorgang: Zwei Operndramaturgen bitten Ende Juni 2020 um vorzeitige Auflösung ihres Vertrags und geben auf Nachfrage eine Stellungnahme zu ihren Gründen ab. Doch mit den von Patric Seibert und Dr. Boris Kehrmann vorgebrachten Begründungen schienen sich Schleusen zu öffnen. Die geäußerte massive Kritik am Führungsstil von Generalintendant Peter Spuhler wurde zunächst von Deborah Maier, der dritten Dramaturgin, bestätigt. Ein sinnvolles Arbeiten sei unter dem krankhaften Kontrollzwang, dem verbreiteten Klima der Angst und dem Unterdrücken jeglicher Kreativität durch den Intendanten tatsächlich nicht möglich. Gerüchte über inhumane Arbeitsbedingungen durch den Generalintendanten gab es zwar schon früher (auch aus seinen vorherigen Arbeitsstätten in Reutlingen und Heidelberg), doch bis dato blieben sie stets anonym und wenig konkret, erst die klaren Worte von Seibert und Kehrmann durchbrachen scheinbar eine Mauer des Schweigens.

Portrait Peter Spuhler
Peter Spuhler
(Foto Felix Grünschloss)

Viele befremdende Personalwechsel wurden plötzlich verständlicher: Schon Joscha Schaback, Spuhlers erster Operndirektor, verlängerte seinen Vertrag trotz fehlendem Anschlussengagement auf eigenen Wunsch nicht; die Leiter der Kommunikationsabteilung gaben sich gegenseitig die Klinke in die Hand – ein ehemaliger Mitarbeiter bekannte, dass er in eineinhalb Jahren unter drei verschiedenen Abteilungsleitern arbeitete; und auch Nicole Braunger, die derzeitige Operndirektorin des Hauses, bat bereits um vorzeitige Vertragsauflösung, was der Intendant zunächst allerdings ablehnte. Im Jahr 2015 griffen viele Medien die vorgesehene Abschiebung des kurz vor dem Ruhestand stehenden und von Spuhler wenig geschätzten Verwaltungsdirektors Michael Obermeier auf, der auf einen neu geschaffenen Posten im Stuttgarter Wissenschaftsministerium versetzt werden sollte. Viele Mitarbeiter des Staatstheaters solidarisierten sich mit dem beliebten Verwaltungsdirektor – das Motto „Je suis Obermeier“ machte am Haus die Runde – und der Fall endete schließlich in einer teuren und unergiebigen Mediation.

Gravierende Vorwürfe

Nach vielen immer offener werdenden Einzelstimmen bezog dann auch der Personalrat des Staatstheaters deutlich Stellung. In einem offenen Brief wurden die von Seibert, Kehrmann und Maier vorgebrachten Vorwürfe nicht nur vollumfänglich bestätigt, sondern sie wurden als noch weitaus gravierender dargestellt als zunächst geglaubt. Rüder Umgangston, cholerische Anfälle und gezieltes Mobbing von Einzelpersonen durch den Intendanten seien ebenso an der Tagesordnung wie eine Überstundenzahl, die weit über das an Theatern übliche Maß hinausgeht und zu mindestens acht registrierten Burn-Out-Erkrankungen führte. Vorwürfe wie eine großzügige Umgehung von Ausschreibungspflichten zugunsten persönlicher Favoriten waren dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Einen äußerst schwachen und desinteressierten Eindruck hinterließ in dieser Phase der Verwaltungsrat. Obwohl diesem bereits mehrfach Vorwürfe aus den Reihen der Belegschaft vorgetragen wurden, darunter eine Umfrage aus dem Jahr 2018, in der mehr als die Hälfte der Mitarbeiter die Atmosphäre im Haus als „eher schlecht“ bewertete, bemängelte der Verwaltungsrat nur einige „Formfehler“ an der Umfrage und verlängerte den Vertrag des Intendanten 2019 um weitere fünf Jahre bis 2026. Auch in der jetzt aufgetretenen Krise brauchte der Verwaltungsrat über eine Woche für eine erste Stellungnahme. Doch anstatt zunächst einmal Empathie mit den betroffenen Mitarbeitern erkennen zu lassen, wurde vor allem bedauert, dass die Vorwürfe öffentlich gemacht wurden. Man behauptete, keine Kenntnis von der Schwere der Anschuldigungen gehabt zu haben, und schlug einen Vertrauensanwalt vor, an den sich Betroffene wenden könnten. Da die zugesicherte Verschwiegenheit jedoch in einem ähnlichen Fall schon einmal gebrochen wurde, war diese Lösung weder vertrauensbildend noch hilfreich. Besonders die beiden Vorsitzenden des Verwaltungsrats, die Baden-Württembergische Wissenschafts- und Kunstministerin Theresia Bauer und Oberbürgermeister Frank Mentrup, hinterließen in dieser Situation den Eindruck, eher den Täter als die Opfer schützen zu wollen.

(Foto Staatstheater Karlsruhe)

„Von Haltung und Verhalten“ …?

Glaubhaft wiesen sowohl der Personalrat wie auch die Sprecher von Orchester und Chor darauf hin, dass der Verwaltungsrat mehrmals auf die untragbare Situation aufmerksam gemacht wurde. Besonders der Kulturbürgermeister sei immer wieder auf die aufgetretenen Schwierigkeiten hingewiesen worden. Deutlich distanzierte sich auch die immerhin 1.400 Mitglieder zählende „Gesellschaft der Freunde des Badischen Staatstheaters“ von Spuhler. Neben dem Bedauern über die überdurchschnittliche Fluktuation im Ensemble beinhaltete die Stellungnahme auch eine deutliche Kritik an Spuhlers Spielplan-Politik. Detailliert wurde aufgeführt, dass nicht nur misslungene Inszenierungen, sondern auch überaus erfolgreiche Produktionen – u.a. „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Parsifal“ – nach wenigen Aufführungen wieder aus dem Spielplan verschwanden. Die wenigen regelmäßig wiederaufgenommenen Werke („Carmen“, „Hänsel und Gretel“, „Die Zauberflöte“, „Tosca“, „La traviata“) stammen alle noch aus den Amtszeiten früherer Intendanten. Aus den zehn Jahren unter Peter Spuhler rückte einzig „My Fair Lady“ in diesen Kreis. Von einem gelungenen Repertoire-Aufbau könne somit keine Rede sein. Der Rezensent und Chronist kann dieser Einschätzung nur voll zustimmen. Doch weder diese klaren Stellungnahmen noch dreihundert vor der entscheidenden Verwaltungsratssitzung gegen Generalintendant Spuhler demonstrierende Mitarbeiter des Staatstheaters – somit immerhin über ein Drittel der Belegschaft – vermochten den Verwaltungsrat von seiner Linie des „Weiter so“ abbringen.

Mit einer Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen wollte man der Krise Herr werden: Man berief nun zwei Mitglieder des Personalrats zu offiziellen Beratern des Verwaltungsrats, man wollte einen Vertrauensanwalt einsetzen und regelmäßige Personalbefragungen durchführen. Auch sollten die Kompetenzen und Rechte der einzelnen Spartendirektoren erweitert und detaillierter in Verträgen und Arbeitsbeschreibungen festgehalten werden. Doch mit Beginn der Spielzeit 2020/21 setzte sich endlich die Überzeugung durch, dass die vorgesehenen und bereits laufenden Maßnahmen keine Verbesserung der Situation bringen, woraufhin Bauer und Mentrup dem Verwaltungsrat im November vorschlugen, den Vertrag mit Peter Spuhler zum 31. August 2021 aufzuheben. Dem wurde am 30. November 2020 stattgegeben. Nun wird über die zukünftige Führungsstruktur des Hauses diskutiert (Generalintendant oder einzelne Spartenintendanten) sowie über die Form und Dauer einer Interimslösung.

Peter Spuhler stellte die laufende Spielzeit unter das Motto „Von Haltung und Verhalten“, doch die Haltung, von sich aus seinen Rücktritt anzubieten, brachte er nicht auf. Er hätte dem Badischen Staatstheater einen großen Imageschaden ersparen können.


Manfred Kraft verfolgt bereits seit 1970 die Entwicklungen am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Seit 1982 berichtet er vor Ort für den „orpheus“.

Italienischer Belcanto und französischer Esprit

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

von Michael Kaminski

Am 4. November 1820 – ein Jahrzehnt vor Gründung des belgischen Staates – hob sich nach zweijähriger Bauzeit zur Einweihung des Liégoiser Musentempels der Vorhang für André Grétrys einst populäre Ballettoper „Zemire et Azor“ – eine Reverenz vor dem großen Komponistensohn der Stadt. Das Baugrundstück hatte König Wilhelm I. der Niederlande geschenkt, zu dessen Reich die Maas-Metropole damals zählte.

1852 gelangte das Gebäude in kommunales Eigentum und von 1861 an nahmen die Kohle- und Stahlbarone der damals schwerreichen Industriestadt in den Logen des neu errichteten Auditoriums Platz. Seither erfreuen sich die Besucher des Hauses, das vom Liégoiser Stadtbaumeister Julien-Étienne Rémont errichtet wurde, an diesem auf die Pariser Garnier-Oper vorausweisenden Zuschauerraum im Stil des Zweiten Kaiserreichs. Seine finale Erscheinung erhielt der prachtvolle Saal schließlich durch das 1903 vollendete Deckengemälde von Émile Berchman, von dem herab Rossini, Wagner und Gounod samt einiger ihrer Opernfiguren wohlgefällig auf Bühne und Publikum hinabblicken. Zwischen 2009 und 2012 wurde das Haus nicht nur generalsaniert, sondern spektakulär aufgestockt. Hinter der Lamellenfassade des auf den Altbau gesetzten Kubus verbergen sich Proberäume, Werkstätten und Büros.

Eine prägende künstlerische Handschrift zeichnete zwischen 1967 und 1992 der streitbare Intendant Raymond Rossius vor allem durch französisches Repertoire. Seit 2007 pflegt sein dritter Nachfolger Stefano Mazzonis di Pralafera die ausgesprochene Italianità der „Königlich Wallonischen Oper“, französische Werke werden aber keineswegs vernachlässigt. Im späteren Verlauf der durch die Pandemie arg beschnittenen Jubiläumsspielzeit stehen etwa mit Verdis „I Lombardi“ und Donizettis „La fille du régiment“ nach aktueller Planung noch französische und italienische Operngeschichte unmittelbar verbindende Werke auf dem Spielplan.

Die „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges JubiläumDie „Opéra Royal de Wallonie“ im belgischen Liège (Lüttich) feiert ihr zweihundertjähriges Jubiläum

Leinen los für 2021!

Bariton Jordan Shanahan: „Der fliegende Holländer“, viel Optimismus und – ein Baby!

Bariton Jordan Shanahan: „Der fliegende Holländer“, viel Optimismus und – ein Baby!

Für den auf Hawaii geborenen Sänger Jordan Shanahan, der seit 2013 in der Schweiz lebt, lautet auch nach acht Monaten Pandemie-Zwangspause inklusive diverser Premierenverschiebungen das Motto „Mit voller Kraft voraus“. Nicht nur im klassischen Standardrepertoire, sondern vielfach auch in zeitgenössischen Opern überzeugte der Bariton dank seiner virtuosen Bandbreite in den letzten Jahren an namhaften Opernhäusern weltweit. Jetzt wartet mit dem von Sandra Leupold in Graz inszenierten „Holländer“ (Premiere am 13. März 2021) eine weitere prominente Titelpartie, nächste Verträge führen ihn im hoffentlich wieder Corona-freieren 2021 auch nach Düsseldorf, Essen und Wiesbaden sowie erneut als Rigoletto in Philipp Stölzls umjubelter Inszenierung auf die Bregenzer Seebühne. In Zukunft stehen daneben auch der „Ring“ an der Deutschen Oper Berlin und am Opernhaus Zürich sowie last but not least sein Covent-Garden-Debüt in der Rolle des Jochanaan an.

von Renate Baumiller-Guggenberger

Mit weit über 70 Hauptrollen im klassischen und zeitgenössischen Bariton-Repertoire hat sich Jordan Shanahan ein bemerkenswert tragfähiges, bewusst breitgefächertes Fundament erarbeitet: „It’s a lot of study!“, wie er mit einem Schmunzeln bilanziert. Wenn man ihn auf seine im europäischen Opernbetrieb womöglich leicht „exotisch“ anmutende Heimat anspricht, antwortete er, dass er durchaus stolz darauf ist, auf Hawaii geboren zu sein, dies aber im gegenwärtigen Berufsalltag als Künstler keine besondere Relevanz haben sollte.     

„Mein Deutsch habe ich mit Richard Wagner gelernt …“

„Bei meinen Deutschkenntnissen habe ich mich insbesondere an den Libretti von Richard Wagner orientiert“, entschuldigt er sich zu Beginn unseres Interviews mit einem Augenzwinkern. Nach seinem Solistendebüt im Jahre 2002 und zahlreichen Verpflichtungen in den Vereinigten Staaten entschied sich Shanahan zunächst für das bislang einzige Festengagement im Schweizerischen St. Gallen. Der Schweiz blieb er auch danach zumindest privat treu und lebt jetzt gemeinsam mit seiner Frau in Bern, die am dortigen Theater als Sängerin engagiert ist. Er freut sich sehr darüber, dass er im kurzen Zeitfenster zwischen Lockdown 1 und Lockdown 2 am Berner Theater Mitte Oktober als Jago in Verdis „Otello“ auf der Bühne stehen konnte. Womöglich noch größer dürfte die Freude allerdings sein, demnächst erstmals Papa zu werden.  

Jordan Shanahan
(Foto Adrian Beck)

Ein müheloser, gesunder Klang der Stimme

Richard Wagner und sein Werk hat natürlich nicht nur als sprachlicher Impulsgeber einen gewichtigen Stellenwert für Shanahan, der in absehbarer Zeit auch Wotan Gestalt und Stimme verleihen will. Er geht mit diesem Ziel vor Augen bewusst und gerne den Weg über Alberich, Amfortas, Wolfram oder den oben erwähnten und derzeit die Probenagenda dominierenden Holländer. Gleichzeitig will sich der Künstler nicht auf die Arbeit an den Werken nur eines einzigen Komponisten fokussieren. Ganz entschieden auch im Dienste der Stimmpflege und -kultur: Um seine Stimme, die von der Presse als überbordend und vital gerühmt wird, flexibel zu halten und zu trainieren, ist die Beschäftigung mit unterschiedlichen Genres und Stilen und damit die komplette Bandbreite der vorhandenen Bariton-Literatur nötig und wichtig.

„Ich liebe neben Wagner eben auch das italienische, das französische oder russische Repertoire, beschäftige mich mit Barockmusik ebenso wie mit bestimmten Musicals“, so Shanahan, der sich zum Grundsatz „Take care of your body and the body takes care of your voice“ bekennt und konsequent danach lebt. Seine gesunde Einstellung deckt sich dann auch mit der Idealvorstellung des stimmlichen Klangs. Angepasst an den jeweiligen musikalischen Stil der Partitur, soll das Publikum seine Stimme als so natürlich und mühelos („as healthy as possible“) wie möglich wahrnehmen.  

Wie entscheidend ist ein gutes Management für die Karriereplanung?

Während der achtsame Umgang mit dem wertvollen körpereigenen Instrument Stimme weitgehend in den Händen eines Sängers liegt, scheint hingegen die Karriere nicht immer so selbstbestimmt zu verlaufen. Wie planbar war und ist für einen Bariton, der wie Jordan Shanahan bewusst als freischaffender Künstler unterwegs ist, die berufliche Laufbahn und wie entscheidend ist dabei ein gutes Management? Nach diversen, meist positiven Erfahrungen, ist für den Künstler die Vertretung durch seine langjährig etablierte Agentur, die in Zürich ansässige „Balmer & Dixon Management AG“, ein absoluter Glückstreffer. Mit seinem Agenten Florian Krumm erlebt er den Idealfall einer höchst kompetenten und nachhaltigen Zusammenarbeit und einen bereichernden, verlässlichen sowie vertrauensvollen Austausch. Er weiß sich hier – und das „quasi zu jeder Tages- und Nachtzeit“ – optimal betreut und beraten, wo es um das stimmige Timing, um die richtigen und wichtigen Stücke und Häuser geht, um so die Stimme und damit die gesamte Künstlerkarriere in die gewünschte Richtung zu entwickeln.

Über das Posaunen- und Kompositionsstudium zum Gesang

Ursprünglich hatte Jordan Shanahan ganz andere musikalische Pläne verfolgt. Er studierte an der Universität in Mānoa in seiner Heimat auf Hawaii Posaune und vertiefte das Instrumentalstudium mit drei weiteren Jahren Kompositionslehre. In diesem Rahmen wurde sein stimmliches Potential mehr oder weniger zufällig entdeckt. Was das Singen betraf, fühlte er sich seit dem frühen Stimmbruch mit elf Jahren eher „traumatisiert“ und hatte seither keinen Ton mehr gesungen. Umso überraschender kam denn auch die dringliche Empfehlung eines Dozenten, sich fortan vorrangig auf ein Gesangsstudium zu konzentrieren. Von der beim Posaunenspiel erlernten Atemtechnik profitiert er natürlich bis heute, spielen würde er allerdings nur noch zum Spaß. 1998 ging Shanahan mit einem Vollstipendium als Sänger an die Temple University in Philadelphia, nach seinem Abschluss u.a. an die Orlando Opera, die Santa Fe Opera und schließlich an das Ryan Opera Center der Lyric Opera Chicago. Ein kleiner „Nebeneffekt“ seiner vielseitigen Ausbildung: Sie kommt unter anderem Projekten mit zeitgenössischer Musik sehr zugute, weshalb Komponisten und Dirigenten wie Péter Eötvös ihn immer wieder gerne dafür anfragen. 2019 und 2020 sind zwei CD-Aufnahmen mit „Senza sangue“ (Eötvös) und „Das Schloss Dürande“ (Schoeck) international verlegt worden – nachzuhören etwa auf den bekannten Streaming-Diensten.

Jordan Shanahan
Als Escamillo in Bizets „Carmen“ (Foto Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)

Ein komplex informierter Sänger

Facettenreiche Erfahrungen im amerikanischen Opernbetrieb waren dann auch prägend für die Art und Weise seines Rollenstudiums. Man findet in Shanahan einen wirklich komplex informierten Sänger, der neben der reinen Gesangsarbeit auch meist so ziemlich alles über den musikhistorischen Background des Werks recherchiert hat. Mittels einer detaillierten Libretto-Lektüre nähert er sich dem Charakter und der Psychologie der Opernfiguren an – in seinem Stimmfach sind das häufig die Schurkenrollen –, hört historische Aufnahmen, macht sich mit dramaturgischen Finessen und Facetten der Komposition vertraut und entwickelt dabei entsprechend auch schon eine recht konkrete Vorstellung seiner Figurenanlage. Shanahan sieht das als Verantwortung des Darstellers der Rolle gegenüber, in jeder Operninszenierung sollte das Erforschen der Beweggründe, das „Warum bin ich so“ der handelnden Personen, sicht- und hörbar gemacht werden. „Ich möchte auch meine ‚Schurken‘ nicht eindimensional darstellen, sondern immer so vielschichtig, wie es die Partitur zulässt. So, dass deutlich wird, wie sehr sie glauben, mit ihrer Haltung und ihrem Agieren im Recht zu sein.“

Den Fokus auf das Erzählen einer guten Story hat Shanahan auch in der Zusammenarbeit mit Regisseurinnen und Regisseuren erfahren dürfen – zuletzt etwa Markus Bothe in Philippe Boesmans` Oper „Reigen“ oder Anja Nicklich im Berner „Otello“. Im Mittelpunkt: Oper als Gesamtkunstwerk und damit eine ausgewogene Balance der Summe aller künstlerischen Prozesse und Mitwirkenden. Jordan Shanahan trägt mit seiner Einstellung und der intensiven Bühnenpräsenz einen sehr wesentlichen Part zu einer solchen Inszenierungsform bei. Ein kleines Beispiel gefällig? In der Neuen Züricher Zeitung beschrieb ihn die Kritikerin Anna Kardos als „höllisch gut gesungenen und gespielten Intriganten, dessen abgrundtiefe Bosheit locker für ein paar Tote mehr gereicht hätte“. Dem ist wenig hinzuzufügen außer dem Wunsch, seine rundum positive Ausstrahlung, sein stimmliches und darstellerisches Potential im dramatischen Fach, auf das sich Shanahan zunehmend konzentriert, baldmöglich wieder live und analog auf den diversen Brettern, die für uns alle die Opernwelt bedeuten, miterleben zu dürfen!  

Führen, formen, geschehen lassen

Stille ist das Lauteste in der Musik, davon ist Philippe Jordan überzeugt. Die Faszination geht von dem aus, was bei Mozart oder Puccini zwischen den Tönen zu hören ist

Stille ist das Lauteste in der Musik, davon ist Philippe Jordan überzeugt. Die Faszination geht von dem aus, was bei Mozart oder Puccini zwischen den Tönen zu hören ist

Begonnen hat der bekennende Zen-Buddhist seine steile Karriere bereits mit 19 Jahren am Theater Ulm. Es folgten drei Jahre als Generalmusikdirektor in Graz, elf Jahre als Musikchef der Pariser Oper und die Position des Chefdirigenten der Wiener Symphoniker ab 2014. Seit Beginn dieser Spielzeit ist Philippe Jordan mit gerade einmal 46 Jahren Musikdirektor im „Opern-Olymp“ – der Wiener Staatsoper.
Iris Steiner traf den Shootingstar zum Gespräch in Berlin. Was treibt ihn an, der nie ein Dirigierstudium absolvierte und nach einer Ausbildung zum Orchesterleiter auf Anraten seines Vaters Armin Jordan – selbst erfolgreicher Dirigent – lieber den Weg über die Praxis ging?

Die Position des Musikdirektors an der Wiener Staatsoper war in den letzten Jahren nicht besetzt. Warum jetzt und was reizt Sie an dieser Aufgabe?

Die Basis eines jeden Opernhauses ist das Orchester und sein Dirigent. Wenn das im Laufe der Zeit eine Einheit wird und einen musikalischen Standard garantiert, wirkt es sich auf die Qualität jeder Aufführung aus, egal wie gut die Sänger auf der Bühne sind oder wie gut das Regiekonzept ist. Ich sage nicht, dass es nicht auch ohne Musikdirektor geht, aber wenn es ihn gibt, ist er ein ganz entscheidendes Fundament für ein Opernhaus. Barenboim, Levine, Thielemann, Petrenko – alles gute Beispiele dafür, wie sehr man die Handschrift eines Hauses auch mit der des Musikdirektors in Verbindung bringt. Bogdan Roščić und ich haben eine gemeinsame Vision entwickelt, wie man das Profil der Wiener Staatsoper in Zukunft gestalten kann. Inhaltlich legen wir großen Wert auf das, was man die „Wiener Hausheiligen“ nennt. Das war und ist die Grundlage und das Zentrum des Hauses – von den Premieren bis zu den Repertoirevorstellungen. Puccini, Strauss, Mozart, Wagner, Verdi – darum müssen wir uns kümmern und darauf können wir aufbauen.

Warum haben Sie gerade die „Madama Butterfly“ als Wiener Eröffnungspremiere gewählt

Es war die Grundidee von Bogdan Roščić, das Repertoire mit zehn beispielhaften Inszenierungen und wichtigen Stücken, die er an das Haus bringen möchte, zu erneuern. Die bis jetzt aktuelle „Butterfly“ von Josef Gielen war die älteste existierende Produktion im Repertoire und gleichzeitig eine, die erneuert werden sollte, allein schon weil das, was übrig war, mit den ursprünglichen Intentionen nichts mehr zu tun hatte. Für mich war von Anfang an klar, dass ich als Musikdirektor diese erste Premiere machen muss. Außerdem liebe ich Puccini und habe einen speziellen Zugang zu dem Werk.

Foto: © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Szene aus „Madama Butterfly“ (Foto Wiener Staatsoper/Michael Pöhn)

Was genau meinen Sie damit?

Ich habe als Jugendlicher in Zürich zum ersten Mal die „Butterfly“ in der Inszenierung von Werner Herzog gesehen und konnte dem Stück zunächst nicht viel abgewinnen – es war mir einfach zu viel „japanischer Realismus“, wenn man das so nennen darf. Einen Zugang habe ich erst später gefunden in der Produktion von Francesca Zambello in Genf, dirigiert von meinem Vater. Die Geschichte wurde szenisch umgedreht und in die amerikanische Botschaft verlegt, musikalisch verhalf mein Vater der Musik zu der ihr eigenen Sensibilität. Da wurde mir klar, dass es nicht darum geht, jedes Schirmchen und Teebecherchen ganz genau darzustellen und westlichen Darstellergesichtern möglichst gutes japanisches Make-up zu verpassen. Puccinis musikalische Farbenspiele erinnern beinahe schon an Debussy, die „Butterfly“ ist kein japanischer Verismo, sondern eine Tuschezeichnung, die mit Farben auf der Bühne genauso spielt wie mit den Orchesterfarben. Ohnehin ist Puccini im Vergleich zu Giordano oder Mascagni nie ein wirklicher Verist gewesen, man hat schon früh gemerkt, dass er viel weiter „hinaus“ blickt. Die Orchestration erinnert an Wagner und die Verbundenheit mit Lehár ist ebenfalls offensichtlich. Mit „Manon Lescaut“ und „La Bohème“ hat er sich dann eindeutig dem französischen Impressionismus zugewandt, bei der „Butterfly« ist diese tonmalerische Exotik noch viel stärker und ganz eindeutig hörbar – man darf sich nur nicht in Details verstricken.

Sie dirigieren Puccini sehr filigran und ungewohnt durchsichtig und verschaffen den Zuhörern damit durchaus neue Hörerfahrungen …

Ich würde Begriffe wie Transparenz, Klarheit und Homogenität wählen. Ich möchte jede Musik – auch und gerade die lauten Stellen – aus ihrer Stille heraus entwickeln und eine neue Balance finden, damit sie ihr volles Potential entfalten kann. Bei der „Butterfly“ geht es mir um den impressionistischen Einfluss in der Komposition, etwas, das gerade dieses Werk – bei aller Ähnlichkeit und Melodienseligkeit – von den Operetten Lehárs unterscheidet. Es ist davon abgesehen auch keine japanische „Tosca“ – Puccini hat sehr wohl gesehen, was Debussy und Janáček in dieser Zeit gemacht haben. Er suchte auf seine Weise nach neuen Mitteln für eine harmonische Weiterentwicklung ins 20. Jahrhundert. Man hört das, wenn auch nicht extrem, beispielsweise beim unaufgelösten Schlussakkord.

Foto: © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
(Foto Wiener Staatsoper/Michael Pöhn)

So gesehen geht Ihre nächste Produktion an der Staatsoper, die musikalische Neueinstudierung des „Rosenkavalier“ im Dezember, den Weg ins 20. Jahrhundert weiter. Es ist bereits Ihr zweiter „Rosenkavalier“ in Wien nach 2005. Was möchten Sie diesmal anders machen?

Damals war dieser Einspringer für Christian Thielemann mein zweiter „Rosenkavalier“ überhaupt. Zuvor hatte ich das Stück nur ein einziges Mal in Berlin im Jahr 2000 gemacht und bekam fünf Jahre später diese Chance, mich in immerhin drei Proben mit dem Orchester der Wiener Staatsoper und dem Werk vertraut zu machen. Ich habe damals sehr viel vom Orchester gelernt über die Art und Weise, wie sie Strauss spielen, und deren virtuosen Umgang mit Tempi und Rubati – bei Strauss grundsätzlich sehr wichtig. Nicht zuletzt diese Erfahrung hat den „Rosenkavalier“ in Paris zu meinem Erfolgsstück gemacht und war wahrscheinlich der Auslöser, mir dort die Chefposition anzubieten. Jetzt, fünfzehn Jahre später und sechs oder sieben „Rosenkavalier“-Produktionen weiter, kann ich das Stück mit mehr Erfahrung noch einmal angehen. In einem Brief an Willi Schuh beschreibt Richard Strauss seine musikalische Werksidee sehr klar: „Leicht will ich’s machen“ und an anderer Stelle: „Mozart, nicht Lehár“. Diese Leichtigkeit stelle ich diesmal in den Mittelpunkt meiner Arbeit und erarbeite zusammen mit dem Orchester das, was ich im Sinne Strauss’ dahinter vermute.

Sie bezeichnen den Rosenkavalier als „Herzensangelegenheit“. Was fasziniert Sie und warum nennen Sie es „eines der schwierigsten Werke überhaupt“?

Das Stück ist auf vielerlei Weise außergewöhnlich, es ist nicht ganz einfach, dem gerecht zu werden: Symphonisch mit einer auf die Spitze getriebenen Walzerseligkeit, dazu kontrastierende kammermusikalische Teile und dieser wunderbare Text von Hofmannsthal, den ich für einen der schönsten Operntexte überhaupt halte. Das Staatsopernorchester spielt Walzer wie kein anderes Orchester auf der Welt und ist mit seiner unglaublichen Opernroutine in der Lage, Stimmungen auf der Bühne sofort aufzunehmen. Großartige Voraussetzungen! Ich möchte mit den Sängern langfristig daran arbeiten, dem Orchester eine Vorgabe zu präsentieren, die ich für das halte, was Strauss und Hofmannsthal wollten. Das betrifft auch die Charaktere auf der Bühne. Ein gutes Beispiel ist die Figur des Ochs, der ursprünglich als durchaus positiver Don Juan vom Lande mit einer gewissen Erotik angelegt war, die abgesehen vom dritten Akt auch knistern darf. Mit Günther Groissböck haben wir eine Idealbesetzung für genau diesen Typus.

Sie mögen keine Regiekonzepte, die Produktionen zu Installationen oder reinen Bilderfluten verkommen lassen. Haben Sie deshalb kein Problem damit, dass der „Rosenkavalier“ „nur“ eine musikalische Aufarbeitung erfährt?

Die Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahre 1968 ist eines der großen und vom Publikum sehr geliebten Repertoire-Schlachtrösser. Ein Haus wie die Wiener Staatsoper will reformiert, nicht revolutioniert werden. Ein neuer Kurs hat durchaus auch Risiken und Neuerungen müssen gut dosiert sein, um das Publikum nicht vor den Kopf zu stoßen. Es kann gut sein, dass wir eines Tages einen neuen „Rosenkavalier“ machen, wenn sich ein ideales Team dafür findet. Zum jetzigen Zeitpunkt geht es darum, die bestehende Vorlage neu zu beleben. Generell bin ich kein Freund von Produktionen, bei denen man die Geschichten bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, das stimmt. Dabei geht es mir nicht darum, in welcher Zeit oder in welchem Gewand die Handlung spielt, wenn es aus dem Stück heraus stimmt. Aus Erfahrung weiß ich aber mittlerweile, dass man manchmal im Sinne der Musik auch Grenzen bei dem einen oder anderen Regiekonzept ziehen muss.

Foto: © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
„Der Rosenkavalier“ in der immer noch gültigen, 52 Jahre alten Inszenierung von Otto Schenk (Foto Wiener Staatsoper/Michael Pöhn)

Sie wünschen sich mehr und bessere Zusammenarbeit zwischen musikalischem Leiter und Regisseur bei der Erarbeitung eines Werkes. Woran krankt es denn momentan?

Ich möchte dem komplexen Anspruch der Kunstgattung Oper gerechter werden und habe den Traum, dass man im Sinne des bestmöglichen Ergebnisses auf Machtkämpfe verzichtet und glückliche Arbeitsbeziehungen zwischen Regisseur und Dirigent etabliert. Es ist übrigens auch nicht so, dass es die gar nicht gäbe – meine Begegnung mit Barrie Kosky bei den „Meistersingern“ in Bayreuth ist dafür ein gutes Beispiel. Daraus ist jetzt für Wien ein neuer Da-Ponte-Zyklus gewachsen, auf den man sich freuen kann.

Sie bezeichnen das Musiktheater als Ihre Lieblingsdisziplin und gelten als herausragender Stimmen-Kenner. Ihr Vater Armin Jordan war ebenfalls ein bedeutender Dirigent. Haben Sie diese Liebe für die Oper von zuhause mitbekommen?

Man muss sich auf dieses Abenteuer mit allen Komplexitäten einlassen. Sicher habe ich schon früh gesehen, was Theater ausmacht, und den Weg ganz bewusst geplant und gewählt – auch weil ich meinen Vater in seinem Beruf von klein auf beobachten konnte. Ich wollte Dirigent werden und das lernt man am besten im Orchestergraben, wo man dann auch durchschnittlich 60 Prozent seines Berufslebens verbringt. Es ist manchmal ein hartes Brot, aus dem trockenen Graben eines Opernhauses schöne Klänge hervorzuzaubern. Aber das Staatsopernorchester ist das beste Beispiel dafür, welche Qualität man erreichen kann, wenn man jeden Abend die Herausforderung zu meistern hat, ein großes Repertoire mit hoher Flexibilität auf sehr hohem Niveau zu spielen.

Sie legen großen Wert auf Textgestaltung und Textverständlichkeit im Sinne der Sprachlogik und auf den Zusammenhang zwischen Sprachklang und Klangbild der Musik. Warum messen Sie der Sprache einer Oper so große Bedeutung zu?

Sprache ist die erste Musik. Der Klang der Musik und der Klang der Sprache, in der die Oper geschrieben wurde, bildet oft eine klangliche Einheit, die besonders gut zum Tragen kommt, wenn die Sänger die Originalsprache gut beherrschen. Das überträgt sich dann auch positiv auf das Orchester. Ich persönlich mache zum Beispiel kaum russische Oper, obwohl ich sie liebe – weil ich die Sprache nicht kann. Auf welcher Basis sollte ich da mit den Sängern an den Phrasierungen arbeiten, wenn ich es nicht mal aussprechen kann!

Die Beschäftigung mit allen Musikstilen ist für Sie eine Grundlage des Dirigenten-Berufes. Was ist falsch am Spezialistentum?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man seinen Horizont nur dann wirklich erweitert, wenn man sich nicht spezialisiert. Als junger Dirigent macht man zu Beginn einer Karriere normalerweise viel Mozart und ist dabei sehr bemüht, jedes Detail zu gestalten. Nach diversen „Ring“-Erfahrungen hat sich mein Mozart-Dirigat total verändert, ich habe gelernt, viel großflächiger zu disponieren, was der Mozart’schen Musik zugute kommt … und umgekehrt. Solche Erfahrungen profitieren und bereichern sich gegenseitig. Ich fände es schade, diese Chancen nicht zu nutzen.

Gerade eben ist ein Buch über Sie erschienen, das nicht von ungefähr „Der Klang der Stille“ heißt. Was macht ausgerechnet Stille zum entscheidenden musikalischen Moment?

Das eigentlich Magische eines Moments ist die Stille, in die das Geschehen eingebettet ist. Musik macht Stille erst erlebbar und ist Voraussetzung für die Aufmerksamkeit, diese Stille wahrzunehmen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Musik wurde geradezu dafür geschrieben, damit man diese Stille wieder wahrnehmen kann – wobei es ganz verschiedene Formen von Stille gibt: Beim Fade-out zum Beispiel wird sie lauter, je leiser der Ton wird. Pausen können einen unglaublichen Raum einnehmen und eine Spannung erzeugen, die stärker wirkt als ein Fortissimo. Die Kunst besteht darin, diese Stille zu agieren. Das macht Puccini übrigens meisterhaft. In der „Bohème“ beim Tod von Mimi hat er direkt danach eine „lunga pausa“ komponiert – die leider kaum jemand macht. Dabei ist sie so wichtig vor dem großen Akkord. Wenn man da den Moment abwartet, ist die Wirkung so viel größer!

In dieser Zeit darf natürlich eine Frage nicht fehlen: Wie gehen Sie mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie um? Gerade der Kulturbetrieb steht ja ziemlich mit dem Rücken an der Wand …

Ich halte es für mittlerweile total unverhältnismäßig. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen – in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ist es völlig normal, dicht nebeneinander zu sitzen, nur bei Kulturveranstaltungen wird das viel strenger gehandhabt. Das macht einen wütend. Die inhaltliche Begründung, woher diese besondere Bedrohungslage gerade dort kommen soll, fehlt aber. Wir haben an der Wiener Staatsoper so gut es geht und mit großem Aufwand versucht, so viel Normalität wie möglich zu bewahren. Es war ja am Anfang ganz lustig, was alles im Internet gestreamt wurde und wie viel Kreativität man beobachten konnte – aber auf Dauer ist das natürlich kein Ersatz. Als wir mit den Wiener Symphonikern im Juni eine Beethoven-Sinfonie spielten – vor 100 Leuten im quasi leeren Saal, aber immerhin – und man das Resonieren eines Kontrabasses spüren konnte, war das damals ein großartiges Gefühl. Zusammen mit Menschen Musik zu machen und in die Gesichter eines „richtigen“ Publikums zu schauen, ist unersetzbar.

Ist es nicht eine Gefahr für das Genre Oper, wenn in vielen Häusern höchstens 200 Leute im Publikum sitzen dürfen? Braucht es nicht den Applaus und den Jubel, um Spannung und Emotionen zu entladen?

Es ist natürlich ein bisschen irritierend, aber in manchen Situationen habe ich eine beinahe „heilige“ Aufmerksamkeit wahrgenommen, die man nicht mehr hat, wenn das Auditorium brechend voll ist. Die Dankbarkeit des Publikums war förmlich spürbar und diese laute Aufmerksamkeit dann fast noch schöner als danach der dankbare Applaus. Aber das Ziel muss natürlich sein, so schnell wie möglich in vollen Besetzungen vor vollen Häusern zu spielen; alles andere kann nur ein Übergang dazu sein.

Empfehlung 

Philippe Jordan – Der Klang der Stille

Der musikalische Lebensweg eines der gefragtesten Dirigenten seiner Generation, aufgezeichnet von Haide Tenner.


Erschienen am 25.08.2020 im Residenz Verlag.

Die Insel der Glückseligen

Das Grafenegg Festival trotzt dem Virus

Das Grafenegg Festival trotzt dem Virus

von Iris Steiner

Mehr zu sein als das „Land um Wien herum“, war vor 20 Jahren der Grund für das Bundesland Niederösterreich, die Kultur zu seinem Identitätsstifter zu machen. Ein Glücksfall für den 32 Hektar großen, im Stile englischer Landschaftsgärten gestalteten Park um das Schloss Grafenegg. Man erweiterte die Anlage um eine Open-Air-Bühne und einen Konzertsaal und realisierte in wenigen Jahren den heute weit über Österreich hinaus bekannten grandiosen Standort mit seinen traumhaften Bedingungen zur Darbietung klassischer Konzerte. 

Rudolf Buchbinder
Künstlerischer Leiter Rudolf Buchbinder (Foto Marco Borggreve)

Bemerkenswert ist, dass es überhaupt stattgefunden hat, das 14. Grafenegg Festival. Zwar musste das ursprünglich geplante Programm den aktuellen Gegebenheiten angepasst und ein aufwendiges Sicherheitskonzept erarbeitet werden, aber „es war uns wichtig, die Kunst als Grundbedürfnis der Menschen gerade in Zeiten wie diesen zu behaupten“, betonte die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Die Idee des künstlerischen Leiters Rudolf Buchbinder, »alle österreichischen Kräfte zu bündeln“ und damit mögliche Reiseprobleme ausländischer Künstler von vornherein auszuschließen, war so clever wie offensichtlich. Wo, wenn nicht in Österreich, könnte man sonst Weltniveau erreichen, wenn man fast ausschließlich seine „eigenen“ Künstler und Orchester engagiert?

Trotzdem, ein wenig traurig ist der in Tübingen geborene Geschäftsführer Dr. Philipp Stein schon, wenn er daran denkt, dass in „normalen Jahren“ das Publikum einen ganzen Tag mit mehreren Konzerten an verschiedenen Orten auf dem weitläufigen Gelände von Grafenegg verbringen kann. Etwas, das in diesem Jahr aufgrund der Regeln leider auf ein Konzert am Abend reduziert werden musste. Um einen geordneten Einlass des Publikums in den Wolkenturm zu ermöglichen, wurden sämtliche Tickets in Farben eingeteilt. „Wir dürfen den großen Park nicht frei zugänglich machen, sondern nutzen ihn für Wartezonen. Darüber hinaus achten wir sehr darauf, dass sich die Bereiche vor und hinter der Bühne nicht vermischen“, so Stein. Das Konzept ging auf – alle Künstler wurden in über 1.100 PCR-Tests kontrolliert – und auch beim Wetter hatte man großteils Glück: Lediglich zwei der 15 geplanten Konzerte mussten abgebrochen werden, da das Auditorium als Schlechtwetter-Alternative in diesem Jahr nicht zur Verfügung stand. 

Foto © Iris Steiner
Warte-Park (Foto Iris Steiner)

Dass man mit 1.250 Besuchern je Abend in diesem Jahr zu einem der größeren Kulturveranstalter des Landes zählen darf, ist nur ein kleiner Trost, aber Optimist Buchbinder lässt sich nicht beirren: „Wir hatten im Hinblick auf die Pandemie von vornherein die bestmöglichen Voraussetzungen – keine szenischen Produktionen, alles Open Air und ein relativ später Festivalstart am 14. August. Dazu kommt ein phantastischer Rückhalt durch das Land Niederösterreich. Für uns war immer klar, dass wir stattfinden.“ Der Blick auf die Bilanz zeigt, dass er Recht behalten hat. Das Grafenegg Festival 2020 liest sich wie ein „who is who“ der Klassikbranche. Es debütierten die Wiener Symphoniker, das ORF Radiosymphonieorchester und Starsopranistin Anna Netrebko mit ihrem Mann Yusif Eyvazov. Orchesterkonzerte mit dem Residenzorchester, dem Tonkünstler-Orchester, den Wiener Philharmonikern unter Gustavo Dudamel und Franz Welser-Möst folgten, dazu virtuose Solistenkonzerte mit Alice Sara Ott und Arabella Steinbacher und ein Opernabend mit Piotr Beczała. Kammermusikalische Abende wie „Buchbinder & Friends“ sowie das Liedprogramm mit Jonas Kaufmann  stellten zudem unter Beweis, dass die Atmosphäre des Wolkenturms auch für kleinere Besetzungen geeignet ist. 

Foto © Iris Steiner
Intensives Wolkenturm-Konzerterlebnis – den Pandemie-Widrigkeiten
konnte man in Grafenegg von ihrer besten Seite begegnen (Foto Iris Steiner)

„Klang trifft Kulisse“ hielt auch den Corona-Bedingungen Stand: 80 Prozent der ursprünglich geplanten Künstler konnten auftreten, die Hauptherausforderung bestand im Umgestalten der Programme, die ohne Pause stattfinden mussten. Sämtliche ausländischen Orchester zu ersetzen, war die größte und schmerzlichste inhaltliche Veränderung, wie Geschäftsführer Philipp Stein bemerkte, „neben dem Umstand, dass bei der Umplanung nur wenig zeitgenössische Musik ins Programm genommen werden konnte“ – aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. „Regionalisierung als Antwort auf eine globale Krise ist immer schwierig. Aber das war der Wermutstropfen, mit dem wir in diesem Jahr eben leben mussten.“  

Das Festival setzt auch zukünftig auf sein Alleinstellungsmerkmal als Tagesausflugsziel für Kultur- und Naturliebhaber in Großstadtnähe, auf das Gefühl, dass man statt über einen roten Teppich hier über den grünen Rasen läuft – und auf ein niederschwelliges Gesamtpaket auch für Besucher, die nicht nur ausschließlich kulturaffin sein müssen, um die Atmosphäre des großen Parks um das Schloss genießen zu können. „Mit Corona wird man zunächst leben müssen“, meint Intendant Buchbinder, dessen Vertrag vorerst bis 2024 fixiert ist, „das wird es immer geben. Aber wenn ein Impfstoff gefunden ist, kann man damit umgehen.“ 

Dass das Programm zum 15. Geburtstag 2021 schon fertig geplant ist, zeugt von Optimismus. Und dass man direkt mit der diesjährigen Bilanz einen neuen Hauptsponsor für die Zukunft verkünden konnte, ist auch kein schlechtes Zeichen. 

Linzer Erfolgsmodell

Eine eigene Musical-Sparte ist immer noch exotische Attraktion in unserer Theaterlandschaft. Das Landestheater Linz hat den Schritt vor einigen Jahren gewagt – und wurde belohnt.

Eine eigene Musical-Sparte ist immer noch exotische Attraktion in unserer Theaterlandschaft. Das Landestheater Linz hat den Schritt vor einigen Jahren gewagt – und wurde belohnt.

von Tobias Hell

Mit dem Neubau des Musiktheaters am Volksgarten erhielt die oberösterreichische Landeshauptstadt 2013 nicht nur eines der modernsten Häuser Europas, sondern erweiterte gleichzeitig auch das künstlerische Spektrum um eine eigene Musical-Sparte. Ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich das Landestheater Linz auch überregional einen Namen gemacht hat. Als Künstlerischer Leiter waltet hier mit Matthias Davids von Beginn an ein versierter Kenner des Genres, der sein Publikum immer wieder mit ausgefallenen Titeln fordert.

Das Musical ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum fest an den Staats- und Stadttheatern verankert. Dass sich neben Linz und dem Theater für Niedersachsen in Hildesheim trotzdem kein Haus eine eigene Sparte leistet, hat für Davids relativ profane Gründe. Denn durch den Neubau stand die Linzer Intendanz vor der Frage, wie man statt zwei Spielstätten auf einmal fünf füllen sollte. „Es hat sich quasi eine Lücke aufgetan, die geschlossen wurde. Aber das ist eine besondere Konstellation.“

Fruchtbarer Austausch

Der größte Vorteil des Linzer Modells liegt definitiv in dem mittlerweile von sieben auf zehn Stellen aufgestockten Ensemble aus Musicalspezialisten, das den Casting-Prozess auch bei ausgefalleneren Titeln erleichtert. Denn auch wenn sich viele Klassiker wie etwa eine „My Fair Lady“ oder „Hello Dolly“ durchaus passabel mit spielfreudigen Opernsängerinnen oder musikalisch begabten Schauspielern besetzen lassen, lässt Davids gerade diese Stücke in seiner Planung meist außen vor. „Es sind ja sehr oft immer wieder die gleichen Titel auf dem Spielplan, von denen die Intendanten wissen, dass damit das Haus voll wird. Aber als subventioniertes Theater haben wir schon die Aufgabe, uns auch einmal an weniger Bekanntes zu wagen.“

Was nicht bedeutet, dass man sich nicht auch in Linz hin und wieder gegenseitig aushelfen würde. „Es gibt einige Stücke, bei denen man zum Beispiel den Opernchor gut einsetzen kann. Neben dem Nutzen solcher Ressourcen finde ich es innerhalb eines Theaters grundsätzlich sehr wichtig, dass die Sparten immer wieder mal aufeinanderprallen.“ So geschehen unter anderem bei Linzer Erfolgsproduktionen wie „Show Boat“ oder „An American in Paris“, bei denen die Tanz-Company mit von der Partie war. „Die Musical-Darsteller können da von den Ballett-Leuten etwas lernen, aber auch umgekehrt. Diese Befruchtung finde ich sehr positiv. Allerdings im Repertoirebetrieb mit mehreren Spielstätten parallel nicht immer ganz leicht zu koordinieren.“

Preisgekrönt: ‚Der Hase mit den Bernsteinaugen‘, ein Linzer Auftragswerk und ‚Bestes Musical‘ beim deutschen Musical Theater Preis 2019 Foto ©Reinhard Winkler
Preisgekrönt: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, ein Linzer Auftragswerk und „Bestes Musical“ beim deutschen Musical Theater Preis 2019 (Foto Reinhard Winkler)

Ensembletheater nach alter Schule

Die Basis seiner Sparte ist und bleibt natürlich das eigene Ensemble, dessen Mitglieder bei der Planung der kommenden Spielzeiten stets im Hinterkopf des Leitungsteams präsent sind. In der schnelllebigen Musicalbranche, in der Besetzungen meist nur für eine Aufführungsserie zusammengewürfelt werden und sich danach in alle Winde verstreuen, ist es für Davids ein klarer Bonus, Menschen auf der Bühne zu haben, die von Stück zu Stück enger zusammenwachsen und sich dabei in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam neu ausprobieren können. Wobei es ihm auch wichtig ist, stets mit offenen Karten zu spielen und bei den jährlich anstehenden Vertragsverlängerungen klar zu kommunizieren, welche Rollen im Einzelfall zur Option stehen.

Ein System, das nicht nur dem Ensemble eine im Musical-Genre selten gegebene langfristige Planung ermöglicht, sondern auch das Identifikationspotenzial des Publikums mit „seinem“ Ensemble erhöht. Viele der Darstellerinnen und Darsteller bringen von früheren Produktionen Fans mit, die aus Wien, Hamburg oder Köln regelmäßig nach Linz reisen. Und auch die Linzer sind eher geneigt, einem weniger bekannten Titel eine Chance zu geben, wenn die Namen auf dem Besetzungszettel von vergangenen Theaterbesuchen noch in guter Erinnerung sind.

Konstant gute Leistung zu bringen, das ist für Davids das Credo seiner Arbeit. „Ich habe das früher auch schon erlebt, dass mir ein Intendant mal gesagt hat, dass er eine moderne Oper plant, die künstlerisch zwar sehr anspruchsvoll ist, aber natürlich nicht so ein breites Publikum anziehen wird. Ob ich das ausgleichen könnte. Da habe ich mich im ersten Moment schon gefragt, ob das jetzt eine Beleidigung ist. Nach dem Motto, wir machen die Kunst, mach du mal das Andere. Aber so etwas stört mich inzwischen nicht mehr, weil ich weiß, was das Musical-Genre bedeutet und was es verlangt.“

Spinnende Römer Foto Reinhard Winkler
Szene aus Stephen Sondheims „Die spinnen, die Römer!“ (Foto Reinhard Winkler)

Belohnung durch Vertrauen

Dass die Qualität hier stimmt, belegt nicht nur die positive Resonanz bei Presse und Publikum. So ist etwa der Run auf das vor zwei Jahren erstmals aufgelegte Musical-Abo nach wie vor ungebrochen. Aber auch vonseiten der Verlage und Autoren scheint inzwischen ein Grundvertrauen in die Arbeit des Linzer Ensembles zu herrschen. So stehen dank guter Kontakte nach London und New York auch in der laufenden Spielzeit erneut mehrere Ur- und Erstaufführungen auf dem Spielplan.

Im November geht hier etwa die Premiere der „Welle“ über die Bühne. Eine aus der Schullektüre wahrscheinlich bestens bekannte Geschichte, die leider nach wie vor nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Auf die neue Vertonung von Or Matias wurde man durch den derzeit in Amerika hoch gehandelten Komponisten Dave Malloy aufmerksam, dessen „Préludes“ in Linz ein kleiner Überraschungserfolg waren, an den man mit der Erstaufführung seines neuesten Musicals anknüpfen wollte. Ein Plan, der bislang zwar noch nicht realisiert werden konnte, aber dazu führte, dass Malloy seinen Freund und Kollegen Or Matias ins Gespräch brachte. Matias’ Musik überzeugte das Linzer Team sofort. Und wenn sich während den Endproben nun doch die Stirn in Falten legt, dann lediglich deshalb, weil der Komponist aufgrund der Pandemie in Texas festsitzt und der Uraufführung am 7. November nur virtuell beiwohnen kann. Aber wer weiß? Vielleicht ist auch dies nur der Anfang einer langen künstlerischen Freundschaft.

Matthias Davids, Leiter der Musical Sparte  Foto © Peter Philipp
Matthias Davids, Leiter der Musical-Sparte am Haus seit ihrer Gründung (Foto Peter Philipp)

Kunst und/oder Kommerz?

Mag sich die Linzer Musical-Sparte auch Risiken erlauben können, sieht der Künstlerische Leiter dennoch sehr wohl Berührungspunkte mit kommerziell ausgerichteten Produzenten. Eine eindeutige Win-Win-Situation war hier zum Beispiel die deutschsprachige Erstaufführung von „Ghost“, die nach der Premiere in Linz mittlerweile auch vom Unterhaltungs-Riesen Stage Entertainment zweitverwertet wurde. „Das war erst einmal ein Experiment, das in der Zusammenarbeit aber sehr gut gelungen ist. Ich finde es schön, dass da die Gräben langsam zuwachsen.“ Sollte also ein neuer potenzieller Partner anklopfen, steht die Tür von Matthias Davids jederzeit offen. „Es muss natürlich für beide Seiten stimmen. Es gibt gewisse große Titel, die wir weder machen können noch wollen. Aber es gibt sicher spannende Geschichten, wo man dann gemeinsam etwa ein noch aufwändigeres Bühnenbild realisieren kann.“

Eigenwilliges Medium Foto © Reinhard Winkler
Eigenwilliges Medium: Szene aus „Ghost – Nachricht von Sam“ (Foto Reinhard Winkler)

Selbstverständlich startete auch die neue Linzer Spielzeit unter Corona-Vorzeichen zunächst vorsichtig im kleineren Format. Wobei Pam Gems’ „Piaf“ bei Davids schon länger durch den Kopf spukte. Auch als eine Art Geschenk für Hauptdarstellerin Daniela Dett, die von Beginn an zu den Säulen des Musical-Ensembles zählt. Im neuen Kalenderjahr soll es dann aber mit „Priscilla – Königin der Wüste“ und dem schwedischen Hit-Musical „Wie im Himmel“ hoffentlich wieder größer werden. „Momentan sieht es so aus, dass wir auf der Bühne eine Kerngruppe haben, die regelmäßig getestet wird und ein Corona-Tagebuch führt. Ganz nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele, wo das im Sommer gut funktioniert hat. Natürlich gab es für ›Piaf‹ einen Plan B und sogar einen Plan C, der dann halbkonzertant gewesen wäre. Aber dank der Tests klappt es so, wie ursprünglich gedacht. Alle Vorstellungen, die wir momentan im Vorverkauf haben, sind so gut wie ausgebucht. Daran sieht man, dass die Leute unserem Hygienekonzept vertrauen und sich bei uns sicher fühlen.“ Eine verkleinerte Saison, rein mit Kammer-Musicals und reduzierten Fassungen wäre zwar möglich gewesen, aber für Davids keine echte Alternative. „Weil ich glaube, dass die Menschen gerade jetzt Ablenkung brauchen und auf der Bühne eine gut gemachte Show sehen wollen.“

Kunst in der Krise!?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Leere Theater ohne Publikum, arbeitslose Künstler, fehlende Lobby: Schafft die Kultur sich selber ab? Welche Perspektive haben die Künste in einer Welt, in der „social distancing“ den Alltag bestimmt und Hygieneregeln der Branche beinahe den Todesstoß versetzen?

Interviews Iris Steiner

Aus aktuellem Anlass starten wir in dieser Ausgabe eine neue Reihe und fragen Macher, Visionäre, Forscher und Politiker: Welche Zukunft hat die Kultur? Diesmal: Achim Müller, Direktor Forschung und Projekte am Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) Berlin, sowie Jochen Sandig, Kulturunternehmer und Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Sprechen wir über die „Zukunft der Kultur“. Brauchen wir gerade jetzt eine solche Diskussion? Oder ist das nur populistisches Säbelrasseln in einem Land, wo Kunst und Kultur staatlich unterstützt werden?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller
(Foto Annette Hempfling)

Diskussionen über die Zukunft von Kultur und ihre Rolle in der Gestaltung von Gesellschaft – auch in Bezug oder Konkurrenz zu anderen drängenden Themen wie der Klimakrise oder gesellschaftlicher Polarisierung – gab es ja auch vor der alles überschattenden Corona-Pandemie immer. Die aktuelle Situation stellt nun schlagartig einen großen Teil der konkreten kulturellen Praktiken und Institutionen in Frage: Sei es durch Kontakt- und damit Veranstaltungs-, Kapazitäts- und Partizipationsbeschränkungen, durch verändertes Freizeitverhalten und Bewertungen seitens des Publikums (wie „Geht ja auch ohne“, „Das ist endgültig etwas für wenige“), oder schließlich durch die absehbaren Legitimierungs- und Verteilungsdebatten angesichts öffentlicher Sparzwänge und anderer Problemfelder (Nachhaltigkeit, Diversität, Bildung). In diesem Licht braucht es natürlich spezifische Debatten über die Rolle von Kultur in der Bewältigung der Krise im Allgemeinen als auch im Speziellen über Reaktionen in Institutionen, künstlerischen Formen, Vermittlungsarbeit und Kommunikation.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig
(Foto Jean-Baptiste Millot)

Der Begriff der Zukunft weckt bei vielen Menschen Sorgen und Ängste. Zukunft aktiv zu gestalten, ist ein schöpferischer Akt. Kommt nicht gerade den Künsten hier eine wachsende Verantwortung gar mit dringlicher Notwendigkeit zu? Ebenso scheint mir das Schicksal unserer Gesellschaft existenziell mit der Zukunft der Kultur verknüpft. Wer oder was sind wir denn überhaupt ohne Kultur? Zum kulturellen Geschehen gehören in der Regel drei wesentliche Elemente: der Raum, die künstlerischen Akteure – auf und hinter der Bühne – und das Publikum. Nur wenn dieser Dreiklang auch in eine zeitlich synchrone reale Zusammenkunft treten kann, kann die Magie der Kreation zum echten Erlebnis werden. Mithilfe der Technologie kann der Raum auch virtuell sein, das kennen wir vom Film. Aber das Digitale wird niemals den realen physischen Raum vollständig ersetzen, dies gilt ebenso für die Resonanz der Akteure mit dem Publikum. Ich spiele gerne mit Worten und so habe ich entdeckt, dass die Zukunft wortwörtlich in der ZUsammenKUNFT steckt. Kultur ist ein unverzichtbarer Teil einer lebendigen demokratischen Gesellschaft und steht in ihrer Systemrelevanz dem Gesundheits-, Wirtschafts- und Bildungssystem in nichts nach. Kultur wirkt als Transmitter zwischen allen Bereichen des menschlichen Lebens. Die Leitplanken in Richtung einer positiven Zukunft symbolisieren für mich unter anderem die beiden Bücher „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch und „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. In diesem Korridor müssen wir auch die politische Debatte um die finanzielle Existenzsicherung der Kultur führen, denn Investitionen in die Kultur sichern eine lebenswerte Zukunft.

Hat die Pandemie mit den damit verbundenen starken Einschränkungen des Kulturbetriebs Auswirkungen, die Sie nicht erwartet hatten? Haben Sie Erkenntnisse gewonnen über unverhoffte soziokulturelle Entwicklungen oder – im Gegenteil – hatten Sie andere erwartet?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die bisherigen Entwicklungen haben Hypothesen auf der Grundlage früherer Untersuchungen des Instituts für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW) bestätigt: Unsicherheit in weiten Teilen des Publikums verbunden mit leicht verfügbaren und vielfältigen digitalen Alternativen führt zu häufig ungewisser Auslastung selbst der begrenzten Kapazitäten; die Resonanz auf digitale Angebote von Kulturinstitutionen ist sehr unterschiedlich, in der Konkurrenz zu aufwendig produzierten Angeboten im Streaming- und Gaming-Bereich können nur wenige technisch mithalten, Teilnehmerzahlen sind häufig relativ gering. Um nachhaltig einen gleichwertigen Platz neben den traditionellen Formen einzunehmen, müssen die digitalen Angebote Teil einer digilogen Gesamtstrategie sein, mit kontinuierlicher Content-Entwicklung, Aufbau der entsprechenden künstlerischen, kommunikativen und technischen Kompetenzen/Mitarbeiter, Ausbau der technischen Infrastruktur und Anpassung von Organisationsprozessen. Viele Institutionen suchen Lösungen allerdings vor allem in der Innensicht oder im Austausch mit ähnlichen Institutionen, selten in Partnerschaften und durch Lernen außerhalb der eigenen Disziplin oder gar im Bereich der Wirtschaft. Daneben gibt es Gegenbeispiele von großer Lern- und Handlungsfähigkeit – meist von Institutionen, die bereits vor der Pandemie aktiv und strategisch auf Strömungen wie die Digitalisierung oder die Ausdifferenzierung des Kultur-und Freizeitverhaltens reagiert haben und dafür mit anderen Institutionen oder Unternehmen kooperiert haben.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Schon vor der Pandemie gab es ein komplexes globales Thema mit existentieller Notwendigkeit lokaler Antworten zur Krisenbewältigung: die Erderwärmung und der damit verbundene Klimawandel. Für den Globalen Klimastreik am 20. September 2019 habe ich ein Transparent mitentwickelt, auf dem stand geschrieben: „Wir machen zusammen Halt.“ Niemand konnte ahnen, wie abrupt und radikal ein solches Haltmachen in einem ganz anderen Kontext überhaupt möglich sei. Die Corona-Pandemie mit der Gefahr des exponentiellen Wachstums von Ansteckungen hat uns dazu gezwungen. Haben wir die Zeit zum Nach-Denken genutzt oder auch zum Vor-Denken? Wir brauchen neue Konzepte des Zusammenlebens und des Wirtschaftens. Ich würde mir wünschen, dass wir noch stärker dazu bereit sind, hier etwas zu verändern. Bei den Schloss Fest Spielen richteten wir Anfang 2020 an unsere Künstlerfamilie und das Publikum drei Fragen: „Wo stehst Du? Was bewegt Dich? Wohin gehen Wir?“ Wenn wir aus Corona etwas lernen können, dann ist es, das gemeinsame WIR zu entdecken und unseren Narzissmus und Egoismus zurückzustellen. Die gute Nachricht: Ich habe viel Solidarität unter meinen Intendanten-Kollegen erlebt und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.

Welchen neuen Ansatz würden Sie der Politik zum jetzigen Zeitpunkt an die Hand geben? Wie würden Sie persönlich vorgehen?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Hier würde ich zwei Bereiche hervorheben: Zum einen sollten Zielvereinbarungen oder Projektvorgaben zur Gewinnung und Bindung von Publikum („Audience Development“), heute häufig mit dem Konzept von „Diversität« verknüpft, angesichts der drohenden Erosion gerade auch in den Kernpublika nachjustiert werden. Programme wie zum Beispiel das 360° sollten im Sinne echter Diversität stärker ausbalanciert werden: Neben der derzeit im Mittelpunkt stehenden Integration unterrepräsentierter Personengruppen sollten für die Verankerung in der Bevölkerung insgesamt auch die Pflege des treuen und engagierten Kernpublikums und die Ansprache häufig eher unterhaltungsorientierter Gelegenheitsbesucher fokussiert werden. Aktivitäten sollten dabei auf empirisch ermittelten Verhaltensmustern und Präferenzen beruhen, sonst droht statt der angestrebten Integration einfach Desinteresse. Zweitens sollten Anreize gesetzt und Ressourcen bereitgestellt werden, um die Reichweite durch digitale Angebote zu erhöhen. Dabei sind Gesamtstrategien zu priorisieren, bei denen die Content- und Formatentwicklung in den Aufbau von Kompetenzen, technischer Infrastruktur und spezifischer Kommunikationsstrategien eingebettet ist. Das Programm „Neustart“ der KSB weist da in die richtige Richtung. Um Wissenstransfer anzuregen, sollten insbesondere Kooperationen mit technologischen Partnern (z.B. Software-/Games-Entwickler) unterstützt werden – angelehnt an „Tandemförderungen“ wie „Doppelpass“.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Was sich am dringendsten ändern muss, sind die lähmende Stagnation und das Festhalten an alten Prinzipien und Privilegien. Wir brauchen Mut zum Neuanfang. Die „Große Transformation“ bedeutet, große Ziele für eine nachhaltige gemeinsame Welt in allen Bereichen zu etablieren und systematisch umzusetzen: Keine Armut. Bildung und Kultur für Alle. Die Gleichheit aller Menschen, egal welcher Geschlechter und Herkunft kann und muss Realität werden. Der Planet Erde darf nicht weiter zerstört und ausgebeutet werden, sondern soll als Lebensraum und Heimat aller zukünftigen Generationen erhalten werden. Den Künsten kommt dabei die verantwortungsvolle Rolle als Katalysatoren dieses Wandlungsprozesses zu. Der Traum einer besseren Welt hat die Vereinten Nationen zum gemeinsamen Masterplan der Sustainable Development Goals als globale Agenda 2030 geführt. Ein wichtiger Kompass, der uns bereits seit vier Jahren in die Hand gelegt wurde. Wie ich persönlich dabei vorgehe? Ich nehme diesen Kompass ernst und suche leidenschaftlich gerne auch nach Wegen, die noch niemand gegangen ist. Es ist ein langer Weg, aber er führt uns vielleicht zum Ziel, wenn wir beginnen, ihn zu gehen. Als Intendant habe ich mich entschlossen, die traditionsreichen Ludwigsburger Schlossfestspiele als ein zeitgemässes Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit zu begehen und zu feiern. Dies bedeutet, Vielfalt, Zugänglichkeit und Regeneration konsequent zusammen zu denken.

Hat die momentane Situation Auswirkungen auf Ihre zukünftige Arbeit? Werden Sie etwas verändern, weil Sie erst jetzt die Relevanz erkannt haben?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Die digital unterstützte Arbeit ist noch stärker „angekommen“ – ich arbeite derzeit fast ausschließlich mit internetbasierten Forschungs-, Vermittlungs- und Moderationsmethoden. Die Potenziale dieser Technologien waren ja schon bekannt, nun haben sich die Rahmenbedingungen verändert, machen physische Kontakte zum Risikofaktor, beeinträchtigen sie oder schließen sie über juristische Regelungen gar aus. Dadurch ist der Bedarf nach möglichst intensiver digitaler Interaktion natürlich gestiegen. Die in dieser Zeit gewonnenen Erfahrungen werden sicher auch die zukünftige Arbeit prägen, hin zu einem Mix aus rein digitalen Methoden und Formaten, solchen, die auf physischer Begegnung und Interaktion beruhen, sowie hybriden Formen, die physischen mit digitalem Austausch verknüpfen.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir lernen, mehr im Moment zu leben und flexibel zu planen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, auf Entwicklungen zu reagieren, und brauchen dafür vor allem Verlässlichkeit der Finanzierung. Materielle Ressourcen sind notwendig, um das Personal und die Künstler zu finanzieren und durch das tiefe Tal der geringeren Einnahmen hindurch zu führen. Besonders hart trifft es die nicht-öffentlich geförderte Veranstaltungsbranche. Dringend müssen wir Zugänglichkeit zu einem breiten 360-Grad-Publikum herstellen. Musik und Tanz sind universelle Sprache, die alle Menschen verstehen, sie haben ihren Ursprung im rituellen und transformativen Akt. Beide Künste sind vergänglich und gleichzeitig in der Lage, die Zeit anzuhalten, sie geben uns eine Ahnung von der Ewigkeit – ein wunderschönes Paradoxon. Genauso oszillieren wir als Teile ständig zwischen der materiellen und der immateriellen Welt. Corona hat dafür unsere Sinne geschärft.

Welche Bedeutung hat Kultur für unsere Gesellschaft? Ist Ihnen jetzt – vielleicht aufgrund der Einschränkungen – etwas aufgefallen, was Ihnen vorher nicht so bewusst war?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Es ist hinlänglich und kontrovers diskutiert worden, welche Bedeutung Kultur, präziser der Kulturbereich/-betrieb, grundsätzlich für gesellschaftliche Diskurse und Prozesse hat – dem ist in der hier gebotenen Kürze wenig hinzuzufügen. Politisch/organisatorisch bestätigt sich in der Krise positiv wie negativ Vertrautes: Das deutsche Kultur-(finanzierungs-)system erweist sich bisher als erstaunlich widerstandsfähig, Unterstützung und Rechtssicherheit wurden relativ schnell und partnerschaftlich bereitgestellt. Nur wenige Stimmen haben bisher die Situation dazu genutzt, das System grundsätzlich in Frage zu stellen. Ob dies in den Zeiten des Abbaus öffentlicher Defizite so bleibt, ist abzuwarten. Die einschneidende grundlegende Erkenntnis ist wohl, wie stark der bestehende Kulturbereich auf erprobten kulturellen Praktiken des physischen Kontaktes beruht – falls Corona und damit die Kontaktbeschränkungen auch nur annähernd bestehen bleiben, könnte dies im Kulturbetrieb ähnlich massive strukturelle Auswirkungen haben wie die Digitalisierung oder andere technologische Umbrüche.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Kultur schafft Gemeinschaft. Kultur spendet Trost. Die Künste öffnen geistige Räume. Die Künste stellen seelische Verbundenheit her. Es muss doch jenseits der Arbeit und Produktivität auch Raum und Zeit für Rituale geben, für Feste, die wir feiern. Als verantwortlicher Intendant der Schloss Fest Spiele möchte ich die drei Begriffe zum Tanzen bringen: Das Schloss, das Fest und die Spiele. In Zeiten von Corona gehen wir verstärkt in die Außenräume: Marktplatz, Schlosshof und Blühendes Barock bilden in Ludwigsburg einen spannungsreichen Dreiklang an sehr unterschiedlichen Räumen. Es ist phänomenal zu erleben, dass gerade in diesen leicht zugänglichen offenen Räumen ein Schlüssel zur Öffnung liegt. Wenn wir wirklich Schwellen abbauen wollen und die Künste nicht als Zeitvertreib für ein elitäres Bildungsbürgertum begreifen, sondern radikal als ein gelebter demokratischer Resonanzraum, dann müssen wir auch neue Orte bespielen.

Sehen Sie in der jetzigen Situation auch eine Chance, etwas zum Besseren zu verändern?

Achim Müller - ©Annette Hempfling
Achim Müller

Sicher kann die Bewältigung der Corona-Krise auch eine konkrete Form von bürgerschaftlichem Gemeinsinn schaffen, ein „Das haben wir gemeinsam überwunden!“, das in einer Zeit, in der sich in den sozialen Medien quasi autarke Resonanzräume ausdifferenzieren, von großem Wert wäre. Die Herausforderung für Kulturinstitutionen besteht dabei unter anderem darin, neben internem Krisenmanagement als handfester und integrierender Gestalter des öffentlichen Lebens zu agieren – und nicht vorrangig als Forderungssteller im Verteilungskampf um öffentliche Unterstützung. Ansatzpunkte in Form von „Good-Practice-Beispielen“ gibt es, von künstlerischen Formaten, auch im öffentlichen und im digitalen Raum, über den Aufbau digitaler Kompetenz und Infrastruktur bis hin zu branchenübergreifenden Partnerschaften mit Gastronomie und Einzelhandel für die Aufrechterhaltung des Lebens im öffentlichen Raum trotz Corona. Nun gilt es, dass diese guten Beispiele sich in der Breite durchsetzen. Als Beitrag dazu haben wir am IKMW ein eigenes Projekt aufgesetzt: Wir nehmen Auswirkungen und Strategien von Theatern und freien Gruppen in Deutschland auf und dokumentieren Best-Practice-Beispiele. Die daraus abgeleiteten Empfehlungen zu integrierten digilogen (digital/analogen) Strategien erweitern die bewährten Praktiken durch zeitgemäße digitale wie hybride Ansätze und werden auch in der nach Corona sicherlich digitaleren Welt von Bedeutung sein. Ende November werden wir Ergebnisse vorstellen – selbstverständlich digital.

Jochen Sandig - © Jean-Baptiste Millot
Jochen Sandig

Wir befinden uns in einem Krieg gegen uns selbst. Der Mensch zerstört die Natur, die Umwelt, seinen Lebensraum. Wir brauchen eine doppelte Hinwendung zum „Terrestrischen“, wie der französische Philosoph Bruno Latour es fordert, und gleichzeitig zum „Menschlichen“. Daher habe ich vor vier Jahren gemeinsam mit Alexandra Mitsotakis, Irene Papaligouras und anderen Partnern das World Human Forum in Delphi gegründet. Mein Leben ist bestimmt durch die ständige Suche nach einem dritten Weg, einem Plan C. Wir müssen das Ökonomische, Ökologische und Soziale in Einklang bringen, oder besser: in einen wohlklingenden Dreiklang!

Dramaturgie denkt Corona

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Mit einer digitalen Konferenz lädt das dramaturgie-netzwerk zur Teamarbeit am „Theater der Zukunft“ – und stellt Programm, Publikum und Personal auf den Prüfstand

Text Florian Maier, Illustrationen Beatrice Schmucker

Als Anfang Juni die Einladung zu einer neuen Veranstaltungsreihe mit dem klangvollen Titel „Dramaturgie denkt Corona“ ins E-Mail-Postfach flattert, ist meine Neugier schnell geweckt. Der Pandemie und ihren nach wie vor unwägbaren Konsequenzen stehen auch wir als Musiktheater-Magazin rat- und machtlos gegenüber, als Kulturjournalisten wurden wir in den Wochen und Monaten nach dem Shutdown in der Arbeit am „orpheus“ immer wieder von der Realität eingeholt. Nun also die Initiative des noch jungen dramaturgie-netzwerks, im Rahmen eines Gesprächsformats an vier aufeinanderfolgenden Mittwochabenden zum Erfahrungsaustausch unter Dramaturginnen und Dramaturgen zu bitten, flankiert von Expertenbeiträgen unterschiedlichster Couleur. Spontan melde ich mich an. Selbst Dramaturg, nutze ich Gelegenheiten zum persönlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen gerne, schätze es, bei den Jahreskonferenzen der dramaturgischen gesellschaft und den Workshops der zugehörigen AG Musiktheater neue Impulse aufzusaugen, eigene Erfahrungen kritisch zu hinterfragen, in oftmals auch unerwartete Richtungen weiterzudenken. Diesmal soll es um Gegenwart und Zukunft der „drei Ps“ – Programm, Publikum, Personal – gehen. Ein uferloser Themenkomplex mit unendlich vielen Facetten.

Eine Art „Corona-Leitfaden“?

Und so wähle ich mich wenige Tage darauf gespannt in den Zoom-Videochat ein und sehe mich knapp 50 weiteren Teilnehmern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum gegenüber, darunter durchaus das ein oder andere bekannte Gesicht. Die virtuelle Gesprächskultur der neuen Corona-Realität hat nun also auch die Dramaturgie erreicht, schießt es mir durch den Kopf. Zu Beginn fühlt sich diese Art der Kommunikation noch fremd an. Aber schließlich gibt es viel zu besprechen, immensen Bedarf zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch, die Hoffnung, in der Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen anderer Häuser den Schlüssel zur klareren Sicht in der ungewissen Fahrt durch den coronalen Nebel zu finden. Das treibt auch mich um: Bis zum Frühjahr war ich selbst mehrere Jahre für einen Festivalbetrieb tätig, bevor ich – unabhängig von Corona, aber zeitlich parallel zur aufkommenden Krise – fest in die Redaktion des Magazins „orpheus“ gewechselt bin. Mit der Perspektive des Veranstalters bin ich daher vertraut und kann erahnen, wie es sich anfühlen muss, wenn in langer und liebevoller Arbeit gereifte (Spiel-)Pläne von heute auf morgen plötzlich Makulatur sind. Das Fatale an einer Pandemie: Niemand weiß, ob Plan B auch morgen noch greift oder dann längst wieder durch neue Alternativen ersetzt werden muss. Keiner kann sagen, wann der Weg zurück in die Normalität führen wird. Ist das überhaupt realistisch? Oder wird die „neue Realität“ unsere post-pandemische Gesellschaft deutlich und anhaltend verändert hinterlassen? Zum jetzigen Zeitpunkt können darauf keine konkreten Antworten gegeben werden, anerkannte wie selbsternannte Experten verschiedenster Disziplinen sind sich in vielen Fällen uneins. „Dramaturgie denkt Corona“ empfinde ich daher als sehr stimmigen Titel – Denkstoff ist schließlich mehr als genug vorhanden in diesen Zeiten.

An einem Strang

Das sehen auch die Initiatoren des dramaturgie-netzwerks so. Sie betrachten ihre Online-Gesprächsreihe als Plattform, „in der Sorgen Gehör finden, lang brennende Kritik ihren Platz hat und neue Ideen fürs Theatermachen während und nach Corona wachsen können“. So vielschichtig und vielgestaltig die Kunstform Theater ist, so unübersichtlich und verzweigt ist der Dschungel an thematischen Räumen, der sich daraus eröffnet. Kann diese Fülle an Diskussionsstoff in vier zweistündigen Videochats überhaupt sinnvoll kanalisiert werden? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja, sie kann. Sollte jemand verbindliche Antworten, eine Art „Corona-Leitfaden“ für die darstellenden Künste erwartet haben, wird er enttäuscht worden sein. „Dramaturgie denkt Corona“ setzt auf Inspiration und Teamgeist, will das „Theater der Zukunft“ andenken und Visionen Realität werden lassen. Das kann nicht im Sprint gelingen, das erfordert langen Atem. Und viel Input, der untrennbar miteinander verknüpft ist. Die drei eingangs genannten Ps erhalten im wöchentlichen Wechsel ihren jeweils eigenen Schwerpunkt und am Ende ein gemeinsames Resümee – sie komplett separiert voneinander zu betrachten, ist ohnehin eine Sache der Unmöglichkeit. Das Personal kreiert Programm für das Publikum – so banal das klingt, so allgemeingültig ist es.

Theatrale Baustellen

Bevor es in den Gedankenaustausch geht, eröffnet jede Zoom-Konferenz mit zwei Impulsvorträgen. Im Laufe der Wochen entspannt sich ein dichtes Netz an weitläufigen Eindrücken: „Weltenbauerin“ Christiane Hütter berichtet von ihrer Arbeit an partizipativen theatralen Effekten im öffentlichen Raum, von interdisziplinären Ansätzen zur Kreation einer postdigitalen Gemeinschaft mit den Mitteln von Storytelling und Game Design. Christian Römer, in der Heinrich-Böll-Stiftung für den Bereich Kultur und Neue Medien zuständig, empfindet den Begriff der „hybriden Formate“ als Worthülse, die es erst noch zu füllen gelte, plädiert dafür, den digitalen Mehrwert einer Produktion schon von der Konzeption her zu denken. Leyla Ercan, Agentin für Diversität am Staatstheater Hannover, kritisiert, dass das Programm, das unsere Theater anbieten, zugeschnitten und maßgeschneidert sei auf ein Kernpublikum, das nur 10 Prozent der Gesellschaft umfasse und eine diversere Besucherstruktur qua sozialer, ökonomischer und kultureller Barrieren verhindere. Achim Müller, Direktor Forschung und Projektmanagement am Berliner Institut für Kultur und Medienwirtschaft (IKMW), geht noch einen Schritt weiter: In dem Bestreben, Publikumsbindung als auch -erweiterung für immer ausdifferenzierte Milieus zu erreichen, müssten Theater noch präziser auf präferenzorientierte Ansprachen achten – sonst drohe nicht das Empfinden von Barrieren, sondern schlicht weiterhin Desinteresse. Auf der anderen Seite des Bühnenvorhangs schwelen derweil strukturelle Brandherde, wie Katrin Hiller (Produktionsleiterin, Beraterin für Personal- und Organisationsentwicklung) im Geiste des Veränderungsmanagements zu bedenken gibt. Lösungen für Wege aus dem personell hierarchisch bis (selbst-)ausbeutend funktionierenden Theatersystem müssten jetzt in Zeiten von Corona gebündelt und angestoßen werden, sonst sei die Chance einer nachhaltigen Zäsur irgendwann ungenutzt verstrichen. Adil Laraki (u.a. GDBA-Landesverbandsvorsitzender NRW) formuliert in deutlichen Worten: Während sich die Theater auf der Bühne als die größten Moralisten präsentieren, würden Hierarchien aus dem 19. Jahrhundert die Mitwirkenden hinter den Kulissen krank machen – Arbeit mit der Angst verursache vielerorts körperliche wie psychische Gefährdungen, denen endlich durch neue vertragliche Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden müsse.

Hybride Diversität

Mehr als genug Denkstoff also, der schon in der Kürze der Darstellung hier unglaublich umfangreich erscheint. Eines aber wird klar – unsere Theaterlandschaft steckte schon lange vor Corona in einer Krise, die viele Facetten kennt: Überproduktion und damit einhergehende zweifelhafte Produktionsbedingungen, schlechte Bezahlung bei hohem Leistungsdruck, gerade im Musiktheater der Fokus auf immergleiches Kernrepertoire und das fadenscheinige Gegenargument von Wiederentdeckungen und modernen Experimenten (die nach der Uraufführung doch viel zu oft wieder in der Versenkung verschwinden). Kurzum: die Maxime „Schneller, höher, weiter“, die unsere Kulturbetriebe dem Zeitgeist entsprechend längst erfasst hat.

Ich höre den Impulsvorträgen interessiert zu, reflektiere eigene Erfahrungswerte – und denke über das „Theater der Zukunft“ nach, über das wir hier philosophieren, phantasieren, debattieren möchten. „Ist es überhaupt realisierbar?“, nagen Zweifel an mir. Und dann kommt auch schon wieder der Gedanke an die Pandemie in mir hoch: Bei all dem Leid und den Einschränkungen, die sie mit sich bringt, hat sie auch Gutes mit unserer Welt und uns Menschen gemacht, indem sie – zumindest zeitweise – Grenzen aufzeigt. Unsere Umwelt hat erstmals seit Jahrzehnten Luft zum Durchatmen, zeigt längst verloren geglaubte Seiten. Eingesperrt mit uns selbst, besinnen wir uns auf Familie und Freundschaften, auf die schönen Künste und ihre Bedeutung für unser Leben. Ob das „Theater der Zukunft“ realisierbar ist? Wenn wir Theaterschaffenden uns nicht zusammenschließen und gemeinsam für unsere Visionen eintreten, dann lautet die Antwort ganz sicher „Nein“. Gerade deshalb ist „Dramaturgie denkt Corona“ ein Format mit Zukunft, ein Format für die Zukunft.

Was nun?

Nach den Impulsvorträgen werden wir in Kleingruppen aufgeteilt, die sich verschiedenen Aspekten des jeweiligen Wochenthemas widmen. Im Vergleich zum etwas unpersönlichen „Plenum“ kehrt eine familiärere Atmosphäre ein: Während die Impulsvorträge bei bis zu 50 Zuhörern naturgemäß eher Frontalunterricht gleichen, besteht nun auch die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen, Sorgen zu schildern, von Ideen im eigenen künstlerischen Umfeld zu berichten. Die Stärke unserer „dramaturgischen Zunft“ bewährt sich auch virtuell, wie ich freudig feststelle: Neuerungen aus dem Schauspiel treffen auf Lösungsansätze aus dem Musiktheater, freie Künstlerinnen und Künstler auf Festangestellte, interessierte Teilnehmer aus angrenzenden Feldern wie Theaterpädagogik und Marketing auf solche mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Dramaturgie.

Sorgen werden laut: Wird soziale Distanz die neue gesellschaftliche Norm – und wenn ja, wie gehen wir damit um? Welche theatralen Erzählungen wirken dagegen? Wird es ein „Massensterben“ in der freien Szene geben, die den Stadt- und Staatstheatern bezüglich Innovationen oft um einiges voraus ist und doch den ersten Rang unter den wirtschaftlich gefährdeten Bühnenkünsten einnimmt? Können Autorinnen und Autoren, Komponistinnen und Komponisten angesichts der aktuellen Lage kaum noch eingehender Tantiemen weiterhin ihren Berufen nachgehen? Werden weniger junge Menschen künstlerische Berufe wählen, aus Angst, dass diese keine Zukunft haben? Verstärkt Corona Barrieren, gerade in der Vermittlung an Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Kosmos Theater? Wird die Pandemie die Arbeitsbelastung durch Mehraufwand an kleinen legitimierenden Experimenten eher noch erhöhen?

Weltenbau

Demgegenüber stehen aber auch viele hoffnungsvolle Gedanken im Raum: Wenn die Abgabe von Bühnenbildern aktuell plötzlich online möglich ist, statt einzig hierfür quer durch Deutschland zu reisen – wieso dann im Sinne von Klima und Nachhaltigkeit nicht auch in Zukunft? Können neue digitale Formen in sinnhafter Nutzung auch Türen öffnen, Neugier sowohl in „Theaterjunkies“ als auch bei bisher nicht erreichten Besuchersegmenten wecken? Könnte es nicht gerade jetzt Zeit sein für eine zeitgemäße Neuerfindung des Abosystems, die stärker auf individuelle Bedürfnisse eingeht und Zusatznutzen buchbar macht? Wieso nicht einmal auf demokratische Programmentscheidungen setzen, die Zuschauer miteinbeziehen in die Spielplangestaltung? Kann eine Reflexion der Aufgabengebiete eine zukunftsfähige Neustrukturierung ermöglichen, die neben einer klaren Definition von hauseigenen Qualitätskriterien und Selbstverpflichtungen nicht nur das eigene Profil stärkt, sondern auch Raum für Fortbildungen, Homeoffice und familienverträgliche Arbeit lässt? Und ist es nicht vorstellbar, dass ein verstärktes Netzwerk zwischen den Häusern nicht zwangsweise ein Risiko für die abgegrenzte, schützende Einzigartigkeit bedeutet, sondern vielmehr ein Ziehen an einem Strang, eine Erleichterung vieler Prozesse?

Achim Müller betitelt die nun beginnende Saison in seinem Impulsvortrag als „letzte Spielzeit der Seligen“ – Budgets hierfür seien noch vor Corona bewilligt worden, danach begännen ökonomisch und damit zwangsweise auch künstlerisch wahrhaft ungewisse Zeiten. Die Theaterszene steht unzweifelhaft vor dem größten Umbruch unserer Zeit: Was wird der Krise zum Opfer fallen – und was sollte sich ohnehin ändern? Wegen des großen Interesses plant das dramaturgie-netzwerk gerade eine Fortsetzung der Gesprächsreihe, möchte sich in diversen Arbeitsgruppen verschiedenen zentralen Themenfeldern wie Leitungsmodellen, Arbeitsbedingungen, dramaturgischen Denkräumen, internationalen Vernetzungen und nicht zuletzt Organisationsmodellen der Zukunft widmen. Am Ende der vierten Sitzung, die unter dem Titel „Was nun?“ ein erstes Resümee zu den gewonnen Erkenntnissen der drei Ps zieht und zugleich zur weiteren aktiven Mitgestaltung der Plattform einlädt, verlasse ich die digitale Konferenz mit einem guten Gefühl. Wir sind gerade alle Laien im Umgang mit der Krise. Das kann aber auch eine Chance sein – wenn man sich ihr stellt.

Das dramaturgie-netzwerk entstand 2019 als Zusammenschluss mehrerer Dramaturginnen und Dramaturgen und ist eine eigenständige Sektion des ensemble-netzwerks. Es versteht sich selbst als Thinktank für die Stadttheater der Zukunft, das dem Denken auch theaterpolitischen Aktivismus folgen lässt. Die Initiative tritt für Solidarität, Mitbestimmung und Teamarbeit ein, will sowohl die Strukturen der öffentlich geförderten Theaterinstitutionen als auch die konkreten Arbeitsbedingungen von Theaterschaffenden verbessern und wirkt als Beratungs- und Vernetzungsstelle. „Dramaturgie denkt Corona“ wurde durch das ensemble-netzwerk finanziell und infrastrukturell ermöglicht, Kooperationspartner ist die dramaturgische gesellschaft (dg).

www.ensemble-netzwerk.de/drnw


Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 05/2020.

Beatrice Schmucker (Illustrationen):
www.redhood.de
schmucker-kunst.redhood.de