Ein Gespräch mit Thomas Quasthoff
von Claus-Ulrich Heinke
„Lass uns in den Garten gehen. Da ist es heute so schön“, begrüßt mich Thomas Quasthoff an der Tür. Wir sind in seinem Haus in Berlin verabredet. Es ist einer dieser wunderbar sonnigen Herbsttage, die das Gemüt beruhigen und in leicht melancholischer Weise anrühren. In dieser Atmosphäre sitzen wir nun unter herbstlich leuchtenden Bäumen auf der Terrasse und sprechen über Gott und die Welt.
Mir fällt seine Gelassenheit auf. „Ja, das stimmt. Ich fühle mich sehr wohl und entspannt. Bei dem Trubel, den ich in meinem Leben hatte, brauche ich nun diese ruhige Atmosphäre hier zu Hause. Auf Reisen hatte ich auch oft eine Art von Ruhe, wenn ich nach einem Konzert alleine in meinem Hotelzimmer war. Aber da war auch Einsamkeit. Jetzt ist es innere, heilsame Ruhe. Früher war ich ein größerer Gesellschaftsmensch und stand oft im Mittelpunkt. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ich genieße das Leben hier mit meiner Frau Claudia, unserer Tochter Charlotte und den Freunden.“
Wie auf ein Bühnenstichwort hin erscheint Claudia mit Kaffee und belegten Broten. Kleiner ehelicher Zwischendialog: „Danke dafür.“ „Ich bin jetzt weg. Der Hund ist oben.“ „Alles klar, mein Schatz. Ich hab dich lieb.“ Seit 14 Jahren sind sie verheiratet. „Es ist jetzt noch inniger als früher“, sagt Quasthoff mit einem liebevollen Lächeln um die Augen. Offen erzählt er auch von einer Krise, die sie aber durch Sprechen und Reflexion gemeistert haben. „Ich habe in der Zeit viel über mich selbst gelernt, auch durch etwas Hilfe von außen. Alles ist gut jetzt. Es ist das reine Glück.“ Über die andere Krise nach dem Tod des Bruders und seiner Mutter, in der es ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Stimme verschlug, ist oft und ausführlich berichtet worden. Das ist nicht unser Thema an diesem Vormittag. Vielmehr sprechen wir über die vielfältigen Möglichkeiten, die ihm sein jetziges Leben bringt. „Ich habe eine neue Freiheit gewonnen, was herrlich ist. Das gilt zum einen für meinen Terminkalender, ich kann selbst bestimmen, was ich will und was nicht. Viel mehr aber gilt die Freiheit der Vielseitigkeit, die sich mir eröffnet hat.“
Die Lust, sich mit der Stimme auszudrücken, ist unverändert
Und in der Tat. Über vierzig Jahre lang war der Sänger ein Weltstar der Klassikwelt. Heute entdeckt man seinen Namen in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Auch mit differenzierter Sprechkunst – und das stets auf hohem Niveau. Ob er den Narr in Shakespeares „Was ihr wollt“ im Berliner Ensemble gibt, ob er Texte zu Haydns „Sieben letzten Worte“ rezitiert, ob es das Melodram in Schönbergs „Gurre-Liedern“ oder dessen erschütternde Komposition „Ein Überlebender aus Warschau“ ist – mit Simon Rattle, Zubin Mehta und Ingo Metzmacher an den Dirigierpulten: Seine Stimme berührt die Menschen. Beim Projekt „SWR Young ClassiX“ erzählt er spannende und unterhaltsame Geschichten für Kinder ab sechs Jahren, bei denen junge Menschen unversehens auch klassische Musik erleben. Oder man findet ihn auf dem Spielplan von Dieter Hallervordens Schlosstheater mit Texten von Hans-Dieter Hüsch. „Die Hüsch-Texte liebe ich. Er hat mir noch zu seinen Lebzeiten erlaubt, seine Worte zu lesen. Und ein Örgelchen hatte ich in bester Hüsch-Tradition auch dabei. Richtig toll waren jetzt im Sommer die musikalisch-literarischen Abende ‚Kurz und Knapp‘ zusammen mit Katharina Thalbach im Schillertheater. Wir hatten so viel Spaß und es war noch dazu ein Riesenerfolg.“
Endlich kann er auch eine alte Liebe neu erwecken: den Jazz. In vielen Interviews erzählt er, dass er dabei ein neues Instrument erlernen musste: das Mikrofon. „Ich bin im Jazz überhaupt der Lernende. Ich bin so glücklich, dass ich mit Simon Oslender (Klavier), Dieter Ilg (Kontrabass) und Wolfgang Haffner (Schlagzeug) drei Weltklasse-Jazzer an meiner Seite habe. Die wissen, wo es lang gehen muss.“ Wer allerdings das Quartett live erlebt, erkennt sofort, dass Quasthoff hier schwer untertreibt. Was er an Stimmfarbe, Emotionen, Improvisationen einbringt, zeigt ihn auch hier als Meister aller Stile. Dass er auch in diesem Genre die großen Konzertsäle wie in Baden-Baden, Wien, Hamburg, München und bei großen Festivals füllt, macht ihn durchaus stolz. Gibt es Unterschiede zum klassischen Lied? „Ja, im Jazz musst du viel intensiver aufeinander hören, bist in einem ständigen musikalischen Dialog miteinander und die Emotionen sind persönlicher, direkter. Gleichzeitig hast du aber auch eine große Freiheit bei der Gestaltung. Und das ist jedes Mal neu.“
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …“
Und dann war da vor fünf Jahren doch Bachs „Matthäus-Passion“ mit dem Dirigenten Thomas Quasthoff beim Verbier Festival. „Ein besonderes, unvergessliches Erlebnis. Ich wurde vom herrlichen RIAS Kammerchor, einem tollen Orchester und von mir ausgewählten Solistinnen und Solisten wunderbar unterstützt.“ „Hat die Musik von Bach, die du so oft auch selbst gesungen hast, einen Nachklang für deine eigene Religiosität?“, interessiere ich mich. „Weniger. Ich habe zum Christentum generell Distanz. Aber bei der ‚Matthäus-Passion‘ ist das anders. Als zum Beispiel der Chor bei unserem Konzert den Choral ‚Wenn ich einmal soll scheiden‘ a capella sang, hat das sehr tief berührt. Auch mich. Bis dahin hatte es übrigens ununterbrochen geregnet. Als ich in der Pause dann aus dem Saal ins Freie trete, bricht die Sonne durch, die Schweizer Berge liegen vor mir und der Himmel wird blau. Direkt nach diesem Choral! Weißt du, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…“
Ich komme, nicht ganz von ungefähr, auf eine bestimmte Choralzeile zurück: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten…“ Quasthoff reagiert prompt. „Das hat essentiell mit mir zu tun. Ich hatte in meinem Leben viele Ängste. Schau mal, mit neun Monaten kam ich für anderthalb Jahre weg von zu Hause und lag im Annastift Hannover im Streckverband. Visuell und körperlich ohne engere Beziehung zur Mutter. Heute weiß ich: Das ist die Wurzel meiner später immer wieder aufkeimenden Verlustängste. Lange habe ich mir gesagt, dass das alles Quatsch ist. Und dass ich das packe. Habe ich aber nicht. Erst in der Dynamik der Beziehung zu Claudia ist mir das klar geworden. Jetzt habe ich keine Angst mehr.“ Und er fügt hinzu: „Im Choral gibt es ja auch eine Vision, wie die Ängste sich auflösen können. Bach bzw. der Lieddichter Paul Gerhardt beziehen die Lösung der Ängste auf Jesus. Damit kann ich nicht so viel anfangen. Ich sehe das umfassender. Es ist die Liebe, die Hoffnung bringt. Zwischen den Menschen, auch zu mir selbst. Aber auch im Hinblick auf Freundschaften und auf Menschen, die mir helfen, auf dem Teppich zu bleiben.“
Liebe auch kosmologisch gesehen, wie bei dem großen Theologen Teilhard de Jardin? Lachende Antwort: „Ne ne, so kosmisch bin ich nicht, so esoterisch…“ Kleine nachdenkliche Pause, dann: „Es gibt aber schon Ebenen. Ich will jemanden anrufen und das Telefon klingelt und der Mensch ist dran. Oder, was ganz eigenartig war: Ein dreiviertel Jahr nach dem Tod meines Bruders kommt er zu mir im Schlaf und streichelt über meinen Kopf. Das war nicht eingebildet. Das war real. Ich habe es gespürt… Ach, ich weiß es nicht. Wissend werde ich vermutlich erst sein, wenn ich den Löffel abgegeben habe.“
Und dann sprechen wir doch über die letzten Tage seines Bruders, wie er ihm die Hand hielt, über die Palliativbegleitung, über den Tod der Mutter und ihre letzten Worte „Pass mir auf die Claudia auf“ und wie er vor der Beerdigungsandacht seiner Mutter Zeit alleine in der Kapelle hatte, weinen konnte und Abschied nahm.
„War der Abschied von der Klassik auch so bewegend für dich?“ „Nein, ich denke ohne Wehmut daran. Manchmal, wenn ich Aufnahmen höre – etwa meinen Liederabend beim Oregon Bach Festival in Eugene, denke ich sowas wie ‚Mh, det war schon jut, wa‘. Also eher zufrieden und gelassen als melancholisch. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, wo ich mit Claudia in Weimar im Konzert saß und mir die Tränen nur so runtergeflossen sind. Auf dem Programm stand Mahlers ‚Lied von der Erde‘. Ich liebe dieses Stück wegen dieser Auseinandersetzung Mahlers mit dem, was danach kommt, und überhaupt mit dem Sterben. Am Ende des Liedes ‚Abschied‘ wiederholt er das letzte Wort ‚ewig‘ mit langen Tönen immer wieder, eingehüllt von verendenden, langen Orchesterklängen. Diese unendliche Ruhe, die diese letzten Takte haben, war zu viel für mich. Da wurde mir bewusst, dass ich das nie wieder in meinem Leben singe. Dieser Gedanke hat mich damals sehr ergriffen. Komischerweise: Ab da war es dann aber durch. Vorbei und ein abgeschlossenes Kapitel.“
Unser Gespräch gönnt sich etwas Schweigen, Regen kommt auf und wir wechseln in das Wohnzimmer, um noch ein paar letzte Gedanken zu thematisieren. Gibt es eine Angst vor der Zeit ganz ohne Bühne? „Nein. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Zum einen habe ich das jetzt schon seit März, seit der Lockdown begann. Und: Ich habe auch drei Jahre gar nicht gesungen. Nee, ich habe keine Angst, alles hat seine Zeit. Wir sind vergänglich. Das Menschliche Sein ist ein Übergang – und das meine ich nun doch gesamtkosmisch. Ich bin da relativ entspannt. Mich beschäftigt viel mehr, was wir unserer Tochter und ihrer Generation hinterlassen.“ Und dann mit vehementem Metall in der Stimme: „Ich hasse Intoleranz, Rassismus und Nazi-Ideologie. Querdenker, die mit Rechten zusammengehen – das geht gar nicht! Verschwörungstheoretiker und Rapper mit einer Intelligenz wie ein Salzstreuer. Das alles ist ganz schlimm und wir müssen dagegen angehen!“
Eine letzte Frage. „Noch einmal zurück zum ‚Abschied‘ aus Mahlers ‚Lied von der Erde‘ und deiner Gelassenheit, über die wir heute zu Beginn unseres Gespräches redeten. Gelassenheit hat auch mit Loslassen zu tun. Letztendlich, und das im wahrsten Sinne des Wortes, auch am letzten Ende des Lebens. Angst vor dem Sterben oder gelassene Ruhe?“ Ein Moment Schweigen und Nachsinnen. Dann seine Antwort: „Über den Tod zu reden, fällt mir schwer. Was ich aber weiß: ich möchte eher gehen und mir nicht vorstellen, alleine zu sein. Wenn es aber so kommen würde, wäre ich doch nicht allein. Meine Tochter und Freunde wären da. Das ist tröstlich.“ Bald danach verabschieden wir uns. Im Auto verharre ich noch ein wenig, bevor ich starte. Dieser Vormittag im Herbst war geschenkte Zeit.