Ein Gespräch mit dem Wahlschweizer über Sport- und Musikerziehung in der finnischen Heimat, asiatische Orchesterkultur und sein außergewöhnliches Hobby

Interview Iris Steiner

Herr Inkinen, wenn man bedenkt, dass Ihr Land nur 5,5 Millionen Einwohner hat, ist die Anzahl der Musik­stars, die es hervorbringt, schon bemerkenswert. ­Leben Sie dort so entschleunigt, dass man mehr Zeit für Kunst und Kultur hat?
Vielleicht, ja. Das Gleiche könnte man aber auch über unser Nachbarland Schweden sagen oder über England und Schottland. Wir da oben im Norden sind uns in vielen Dingen ähnlich, nicht nur wegen der schönen Natur. Wir Finnen befinden uns rein geostrategisch in einer Art „Zwischenposition“. Vielleicht gibt uns das eine gewisse Charakterstärke und den sportlichen Ehrgeiz, sich mit den Nachbarn zu messen. Vielleicht sind wir dadurch auch besonders mutig und haben weniger Angst vor so unsicheren Berufen wie Formel-1-Fahrer oder Dirigent. (lacht)

Sind Finnen melancholisch? Ich denke an Sibelius oder die berühmte finnische Tangoszene …
Ich denke schon. Sie finden diese ganz besondere „finnische Stimmung“ in unserer Musik – und eben beim finnischen Tango, der ja ein recht merkwürdiges Detail unserer Volkstradition ist.

Wie haben Sie als Kind die Rolle von Musik in Ihrem Leben in Erinnerung? Wurden Sie musikalisch er­zogen?
Durch Sibelius hat Finnland eine starke musikalische Identität erhalten. Ohne ihn gäbe es das, was wir heute haben – ein Musik-Institut-System übers ganze Land verteilt – sicher nicht. Natürlich hatten wir davor auch ein Musikleben, aber Sibelius verstärkte in besonderem Maße durch Musik unsere nationale Identität. In Finnland gibt es in jedem kleinen Dorf quasi kostenlosen Musikunterricht. Das war und ist politisch gewollt.

Liegt das auch an der dünnen Besiedelung des Landes?
Ja, auch das, aber der politische Wille war genauso wichtig. Mein Leben wäre sonst sicher ebenfalls anders verlaufen. Die Stadt Kouvola, in der ich aufgewachsen bin, hat 130.000 Einwohner – und ein Staatsorchester. Auf einer Fläche, die heute größer ist als das Staats­gebiet von Luxemburg! Dort absolvierte ich meine allerersten Profi-Dirigate und habe als Solist Geige gespielt. Im Umkreis von 50 km gab es früher sogar noch ein zweites Orchester, was eigentlich unglaublich ist. Meine musikalische Ausbildung begann schon mit drei oder vier Jahren und einer Aufnahmeprüfung mit Klavier im Musik-Institut, dann ist recht schnell die Geige dazugekommen. Alles war aber wirklich nur ein Hobby unter vielen anderen Hobbys, ohne Druck. Meine Eltern sind keine Musikprofis.

Es ist jetzt aber nicht so, dass Sie nicht auch auf der Geige erfolgreich sind.
Das hat sich erst viel später gezeigt. Als Kind habe ich genauso viel Sport wie Musik gemacht und vieles ausprobiert. Tennis habe ich beispielsweise relativ schnell wieder aufgegeben, weil man da sonntagmorgens um 7 Uhr beim Training sein musste. „Geblieben“ ist der Fußball – und die Geige. Mit ungefähr zwölf Jahren musste ich mich dann entscheiden, womit ich jetzt ernsthaft weitermache. Beides war parallel nicht zu schaffen …

Es hätte also auch ein Fußballer aus Ihnen werden können?
Durchaus. Zwei der erfolgreichsten finnischen Spieler damals stammten aus meiner Gegend: Sami ­Hyypiä war Kapitän von Liverpool und Jari Litmanen mit Ajax ­Amsterdam der erste finnische Champions-League-Sieger. Dessen erster Trainer hat wiederum später auch uns trainiert. Wir schwammen durch ihn in einem gewissen Hype mit und hatten reale Vorbilder, die uns zeigten, dass Erfolg möglich ist.

Ist Ihr professionelles Violinspiel aus Dirigentensicht ein Vorteil, um Ihren Orchestermusikern möglichst klare Signale geben zu können?
Die Basis der Schule unseres Dirigier-Professors Jorma Panula an der Sibelius Academy Helsinki bestand in der Überzeugung, dass man mindestens ein Orchesterinstrument auf hohem Niveau beherrschen und sowohl ein Streich- wie auch ein Blasinstrument lernen musste. ­Panula hat unser finnisches Unterrichtssystem mit aufgebaut, ohne „Instrument-in-der-Hand-Erfahrung“ hatte man keine Chance in seiner Dirigierklasse.

Das Faible fürs Spätromantische ist dem Finnen quasi in die Wiege gelegt, sein Interesse gilt aber auch der Moderne (Foto Andreas Zihler)

Sie dirigieren dieses Jahr in Bayreuth zum ersten Mal den „Ring“. Um Ihr generelles „Ring“-Debüt rankt sich eine recht kuriose Geschichte. Erzählen Sie mal.
Es kam das Angebot aus Palermo, mit Graham Vick den kompletten „Ring“ zu machen. Nicht untypisch in ­Italien, sind wir im Frühjahr 2013 mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ gestartet und begannen parallel schon für den Herbst mit den Proben zu „Siegfried“. Im Juni stellte man leider fest, dass das Budget des Theaters so weit überzogen war, dass wir nicht wie geplant weitermachen konnten. Wir waren schockiert – und ich hatte plötzlich zweieinhalb Monate Lücke in meinem Kalender. Während einer Neuseeland-Tournee mit dem Verdi-Requiem erhielt ich von Lyndon Terracini, dem damaligen Intendanten der Opera Australia, eine überraschende Einladung zum Abendessen. An seinem Haus war genau zu dieser Zeit der Dirigent ihrer neuen „Ring“-Produktion plötzlich ausgefallen. So wurde mein italienisches „Ring“-Debüt ein australisches.

Sie sind ausnehmend viel „auf der anderen Seite der Welt“ unterwegs und arbeiten in Ländern, bei denen man nicht vorrangig an klassische Musik denkt. Ist das Zufall?
So etwas ergibt sich meistens – die Orte, an denen man arbeitet, kann man nicht auf dem Reißbrett planen. Gerade das Orchester in Neuseeland ist ein richtig tolles, modernes Orchester mit sehr viel Neugierde und ohne Vorbehalte. Ich durfte schon während meiner Ausbildung mit 25 bei den Helsinki Philharmonic einspringen. Und während eines Engagements beim New Zealand Symphony Orchestra hat es zwischen dem Orchester und mir so „gefunkt“, dass sie mich direkt gefragt haben, ob ich nicht der nächste Musikdirektor sein ­könnte.

Sie arbeiten viel mit asiatischen Orchestern, momentan als Chefdirigent in Seoul. Worin unterscheiden sich asiatische von europäischen Orchestern?
Die kann man gar nicht vergleichen. Schon zwischen ­Japan und Korea gibt es große Unterschiede – und ­China ist wieder völlig anders. Ich war bis vor Kurzem und 15 Jahre lang erster Gast- und später Chefdirigent der Japan Philharmonic. Interessant ist vielleicht, dass dort 98 Prozent Japaner im Orchester spielen, während man in europäischen Orchestern überhaupt nicht mehr auf einheitliche Nationalitäten oder kulturelle Backgrounds achtet. Das wirkt sich sehr auf die Ästhetik eines Orchesters aus. In Japan stellt man eine sehr feine Sensitivität für (Klang-)Farben fest, die vielleicht „typisch japanisch“ ist und funktioniert wie die DNA des ganzen Landes: keine allzu großen Einflüsse des Individualstils, sensible Antennen für das Ensemble und große Rücksichtnahme untereinander. Es geht immer um das Wohl der Gruppe, weniger ein Individualprinzip wie im Westen.

Das klingt im Ergebnis nach einem sehr homogenen Orchesterklang.
Ein bisschen schon. In Korea ist es wieder anders, da spürt man deutlich die starke Hierarchie der Gesellschaft, die schon in der Schule verankert wird. Die ­Koreaner arbeiten unter großem Stress, aber trotzdem voller Feuer. Sie würden immer alles geben für ihre „Mannschaft“.

Sprechen wir über Bayreuth. Ihr erster „Ring“ hier ist nicht nur ein generell umstrittener, sondern auch Ihre ganz persönliche Odyssee. Erst jetzt, 2023, sind Sie nach drei Jahren endlich am Pult angekommen. Ist das noch eine Freude – oder langsam nervig, weil es sich schon zu lange hinzieht?
Es ist gut, dass wir nun endlich den Arbeitsprozess zu Ende bringen konnten, nachdem ich im letzten Jahr kurz vor der Premiere krankheitsbedingt absagen ­musste. Darüber freue ich mich sehr. Es gab, wie Sie wissen, relativ viele Umbesetzungen und nicht nur der Dirigent hat gewechselt. Daher spielt das letzte Jahr eigentlich keine Rolle mehr. Es ist eine neue Arbeit.

Die Inszenierung von Valentin Schwarz wurde sehr kontrovers diskutiert. Ist die musikalische Leitung schwieriger, wenn eine Handlung so „gegen den Strich“ gebürstet wird wie in diesem Fall? Tun Sie sich schwerer oder spielt es keine Rolle – zumindest solange die schauspielerischen Anforderungen an die Sänger nicht zu physischen Beeinträchtigungen führen?
Es ist natürlich nicht egal, was auf der Bühne passiert, aber wir realisieren die Musik so fein wie wir können. Und wenn auf der Bühne etwas richtig stört, dann muss man reagieren. Valentin Schwarz hat übrigens eine musikalische Ausbildung auf der Geige, er kann sich gut einfühlen in das, was geht und was nicht. Das ist nicht immer der Fall, unsere Zusammenarbeit ist auch deshalb eine sehr gute.

Die vielen Buhs für die Regie lassen sicher auch die Sänger nicht kalt. Beeinträchtigt so etwas eigentlich die Motivation und die musikalische Gesamtleistung der Mitwirkenden?
Es ist schon extrem hier, ja. Aber es passiert nicht zum ersten Mal und wenn man sieht, dass es erstmals ein paar Plätze im freien Verkauf gibt, freut sich vielleicht auch ein neues Klientel über eine Karte und genießt einen „Ring“, der von viel Traditionalismus befreit wurde. Sehen wir es doch positiv!

Im November werden Sie an der Deutschen Oper ­Berlin zum ersten Mal den „­Tannhäuser“ dirigieren. Ist Wagner Ihr Lieblingsrepertoire oder sehen Sie sich als Generalist?
Die spätromantische Richtung war schon immer mein Bereich, diesbezüglich bin ich ein typischer Finne. Aber ich finde auch Weltpremieren und moderne Musik spannend und bin generell neugierig. Was ich vor allem nicht mag, ist immer das Gleiche zu machen.

Ein rasantes Hobby sorgt für die beste Balance: Pietari Inkinen ist leidenschaftlicher Skifahrer – am liebsten Downhill (Foto privat)

Sie leben seit über zehn Jahren in der Schweiz und sind begeisterter Downhill-Skifahrer. Eine ­waghalsige Sportart, die nicht gerade dem Mainstream folgt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin ein finnisch-schweizerischer Dirigent, seit Kurzem „stolzer Besitzer“ eines Schweizer Passes. Es war immer mein Traum, an einem Ort zu leben, wo mein Beruf und mein Lieblingshobby zusammenpassen. In der Schweiz kann ich diesen Sport vor der Haustüre ausüben und gleichzeitig meinen Körper durch eine komplett andere Belastung mit anderer Art von Adrenalinschub ausgleichen. Eine Woche nur am Strand zu liegen, wäre nichts für mich.

Man sagt nicht von ungefähr, dass auch das Dirigieren eine sehr sportliche Angelegenheit ist …
… und wenn man eine Geige zwölf Stunden lang am Kinn hält, bekommt man auch davon Schulterschmerzen. Es ist egal, was man intensiv macht, man braucht einen Ausgleich. Sonst geht es nicht sehr lange gut.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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