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Beiträge 2023/05

Auf Bühnen und Bergen

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Drei Jahre musste Dirigent Pietari Inkinen auf sein Bayreuther „Ring“-Debüt warten, diesen Sommer hat es nun endlich geklappt

Ein Gespräch mit dem Wahlschweizer über Sport- und Musikerziehung in der finnischen Heimat, asiatische Orchesterkultur und sein außergewöhnliches Hobby

Interview Iris Steiner

Herr Inkinen, wenn man bedenkt, dass Ihr Land nur 5,5 Millionen Einwohner hat, ist die Anzahl der Musik­stars, die es hervorbringt, schon bemerkenswert. ­Leben Sie dort so entschleunigt, dass man mehr Zeit für Kunst und Kultur hat?
Vielleicht, ja. Das Gleiche könnte man aber auch über unser Nachbarland Schweden sagen oder über England und Schottland. Wir da oben im Norden sind uns in vielen Dingen ähnlich, nicht nur wegen der schönen Natur. Wir Finnen befinden uns rein geostrategisch in einer Art „Zwischenposition“. Vielleicht gibt uns das eine gewisse Charakterstärke und den sportlichen Ehrgeiz, sich mit den Nachbarn zu messen. Vielleicht sind wir dadurch auch besonders mutig und haben weniger Angst vor so unsicheren Berufen wie Formel-1-Fahrer oder Dirigent. (lacht)

Sind Finnen melancholisch? Ich denke an Sibelius oder die berühmte finnische Tangoszene …
Ich denke schon. Sie finden diese ganz besondere „finnische Stimmung“ in unserer Musik – und eben beim finnischen Tango, der ja ein recht merkwürdiges Detail unserer Volkstradition ist.

Wie haben Sie als Kind die Rolle von Musik in Ihrem Leben in Erinnerung? Wurden Sie musikalisch er­zogen?
Durch Sibelius hat Finnland eine starke musikalische Identität erhalten. Ohne ihn gäbe es das, was wir heute haben – ein Musik-Institut-System übers ganze Land verteilt – sicher nicht. Natürlich hatten wir davor auch ein Musikleben, aber Sibelius verstärkte in besonderem Maße durch Musik unsere nationale Identität. In Finnland gibt es in jedem kleinen Dorf quasi kostenlosen Musikunterricht. Das war und ist politisch gewollt.

Liegt das auch an der dünnen Besiedelung des Landes?
Ja, auch das, aber der politische Wille war genauso wichtig. Mein Leben wäre sonst sicher ebenfalls anders verlaufen. Die Stadt Kouvola, in der ich aufgewachsen bin, hat 130.000 Einwohner – und ein Staatsorchester. Auf einer Fläche, die heute größer ist als das Staats­gebiet von Luxemburg! Dort absolvierte ich meine allerersten Profi-Dirigate und habe als Solist Geige gespielt. Im Umkreis von 50 km gab es früher sogar noch ein zweites Orchester, was eigentlich unglaublich ist. Meine musikalische Ausbildung begann schon mit drei oder vier Jahren und einer Aufnahmeprüfung mit Klavier im Musik-Institut, dann ist recht schnell die Geige dazugekommen. Alles war aber wirklich nur ein Hobby unter vielen anderen Hobbys, ohne Druck. Meine Eltern sind keine Musikprofis.

Es ist jetzt aber nicht so, dass Sie nicht auch auf der Geige erfolgreich sind.
Das hat sich erst viel später gezeigt. Als Kind habe ich genauso viel Sport wie Musik gemacht und vieles ausprobiert. Tennis habe ich beispielsweise relativ schnell wieder aufgegeben, weil man da sonntagmorgens um 7 Uhr beim Training sein musste. „Geblieben“ ist der Fußball – und die Geige. Mit ungefähr zwölf Jahren musste ich mich dann entscheiden, womit ich jetzt ernsthaft weitermache. Beides war parallel nicht zu schaffen …

Es hätte also auch ein Fußballer aus Ihnen werden können?
Durchaus. Zwei der erfolgreichsten finnischen Spieler damals stammten aus meiner Gegend: Sami ­Hyypiä war Kapitän von Liverpool und Jari Litmanen mit Ajax ­Amsterdam der erste finnische Champions-League-Sieger. Dessen erster Trainer hat wiederum später auch uns trainiert. Wir schwammen durch ihn in einem gewissen Hype mit und hatten reale Vorbilder, die uns zeigten, dass Erfolg möglich ist.

Ist Ihr professionelles Violinspiel aus Dirigentensicht ein Vorteil, um Ihren Orchestermusikern möglichst klare Signale geben zu können?
Die Basis der Schule unseres Dirigier-Professors Jorma Panula an der Sibelius Academy Helsinki bestand in der Überzeugung, dass man mindestens ein Orchesterinstrument auf hohem Niveau beherrschen und sowohl ein Streich- wie auch ein Blasinstrument lernen musste. ­Panula hat unser finnisches Unterrichtssystem mit aufgebaut, ohne „Instrument-in-der-Hand-Erfahrung“ hatte man keine Chance in seiner Dirigierklasse.

Das Faible fürs Spätromantische ist dem Finnen quasi in die Wiege gelegt, sein Interesse gilt aber auch der Moderne (Foto Andreas Zihler)

Sie dirigieren dieses Jahr in Bayreuth zum ersten Mal den „Ring“. Um Ihr generelles „Ring“-Debüt rankt sich eine recht kuriose Geschichte. Erzählen Sie mal.
Es kam das Angebot aus Palermo, mit Graham Vick den kompletten „Ring“ zu machen. Nicht untypisch in ­Italien, sind wir im Frühjahr 2013 mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ gestartet und begannen parallel schon für den Herbst mit den Proben zu „Siegfried“. Im Juni stellte man leider fest, dass das Budget des Theaters so weit überzogen war, dass wir nicht wie geplant weitermachen konnten. Wir waren schockiert – und ich hatte plötzlich zweieinhalb Monate Lücke in meinem Kalender. Während einer Neuseeland-Tournee mit dem Verdi-Requiem erhielt ich von Lyndon Terracini, dem damaligen Intendanten der Opera Australia, eine überraschende Einladung zum Abendessen. An seinem Haus war genau zu dieser Zeit der Dirigent ihrer neuen „Ring“-Produktion plötzlich ausgefallen. So wurde mein italienisches „Ring“-Debüt ein australisches.

Sie sind ausnehmend viel „auf der anderen Seite der Welt“ unterwegs und arbeiten in Ländern, bei denen man nicht vorrangig an klassische Musik denkt. Ist das Zufall?
So etwas ergibt sich meistens – die Orte, an denen man arbeitet, kann man nicht auf dem Reißbrett planen. Gerade das Orchester in Neuseeland ist ein richtig tolles, modernes Orchester mit sehr viel Neugierde und ohne Vorbehalte. Ich durfte schon während meiner Ausbildung mit 25 bei den Helsinki Philharmonic einspringen. Und während eines Engagements beim New Zealand Symphony Orchestra hat es zwischen dem Orchester und mir so „gefunkt“, dass sie mich direkt gefragt haben, ob ich nicht der nächste Musikdirektor sein ­könnte.

Sie arbeiten viel mit asiatischen Orchestern, momentan als Chefdirigent in Seoul. Worin unterscheiden sich asiatische von europäischen Orchestern?
Die kann man gar nicht vergleichen. Schon zwischen ­Japan und Korea gibt es große Unterschiede – und ­China ist wieder völlig anders. Ich war bis vor Kurzem und 15 Jahre lang erster Gast- und später Chefdirigent der Japan Philharmonic. Interessant ist vielleicht, dass dort 98 Prozent Japaner im Orchester spielen, während man in europäischen Orchestern überhaupt nicht mehr auf einheitliche Nationalitäten oder kulturelle Backgrounds achtet. Das wirkt sich sehr auf die Ästhetik eines Orchesters aus. In Japan stellt man eine sehr feine Sensitivität für (Klang-)Farben fest, die vielleicht „typisch japanisch“ ist und funktioniert wie die DNA des ganzen Landes: keine allzu großen Einflüsse des Individualstils, sensible Antennen für das Ensemble und große Rücksichtnahme untereinander. Es geht immer um das Wohl der Gruppe, weniger ein Individualprinzip wie im Westen.

Das klingt im Ergebnis nach einem sehr homogenen Orchesterklang.
Ein bisschen schon. In Korea ist es wieder anders, da spürt man deutlich die starke Hierarchie der Gesellschaft, die schon in der Schule verankert wird. Die ­Koreaner arbeiten unter großem Stress, aber trotzdem voller Feuer. Sie würden immer alles geben für ihre „Mannschaft“.

Sprechen wir über Bayreuth. Ihr erster „Ring“ hier ist nicht nur ein generell umstrittener, sondern auch Ihre ganz persönliche Odyssee. Erst jetzt, 2023, sind Sie nach drei Jahren endlich am Pult angekommen. Ist das noch eine Freude – oder langsam nervig, weil es sich schon zu lange hinzieht?
Es ist gut, dass wir nun endlich den Arbeitsprozess zu Ende bringen konnten, nachdem ich im letzten Jahr kurz vor der Premiere krankheitsbedingt absagen ­musste. Darüber freue ich mich sehr. Es gab, wie Sie wissen, relativ viele Umbesetzungen und nicht nur der Dirigent hat gewechselt. Daher spielt das letzte Jahr eigentlich keine Rolle mehr. Es ist eine neue Arbeit.

Die Inszenierung von Valentin Schwarz wurde sehr kontrovers diskutiert. Ist die musikalische Leitung schwieriger, wenn eine Handlung so „gegen den Strich“ gebürstet wird wie in diesem Fall? Tun Sie sich schwerer oder spielt es keine Rolle – zumindest solange die schauspielerischen Anforderungen an die Sänger nicht zu physischen Beeinträchtigungen führen?
Es ist natürlich nicht egal, was auf der Bühne passiert, aber wir realisieren die Musik so fein wie wir können. Und wenn auf der Bühne etwas richtig stört, dann muss man reagieren. Valentin Schwarz hat übrigens eine musikalische Ausbildung auf der Geige, er kann sich gut einfühlen in das, was geht und was nicht. Das ist nicht immer der Fall, unsere Zusammenarbeit ist auch deshalb eine sehr gute.

Die vielen Buhs für die Regie lassen sicher auch die Sänger nicht kalt. Beeinträchtigt so etwas eigentlich die Motivation und die musikalische Gesamtleistung der Mitwirkenden?
Es ist schon extrem hier, ja. Aber es passiert nicht zum ersten Mal und wenn man sieht, dass es erstmals ein paar Plätze im freien Verkauf gibt, freut sich vielleicht auch ein neues Klientel über eine Karte und genießt einen „Ring“, der von viel Traditionalismus befreit wurde. Sehen wir es doch positiv!

Im November werden Sie an der Deutschen Oper ­Berlin zum ersten Mal den „­Tannhäuser“ dirigieren. Ist Wagner Ihr Lieblingsrepertoire oder sehen Sie sich als Generalist?
Die spätromantische Richtung war schon immer mein Bereich, diesbezüglich bin ich ein typischer Finne. Aber ich finde auch Weltpremieren und moderne Musik spannend und bin generell neugierig. Was ich vor allem nicht mag, ist immer das Gleiche zu machen.

Ein rasantes Hobby sorgt für die beste Balance: Pietari Inkinen ist leidenschaftlicher Skifahrer – am liebsten Downhill (Foto privat)

Sie leben seit über zehn Jahren in der Schweiz und sind begeisterter Downhill-Skifahrer. Eine ­waghalsige Sportart, die nicht gerade dem Mainstream folgt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin ein finnisch-schweizerischer Dirigent, seit Kurzem „stolzer Besitzer“ eines Schweizer Passes. Es war immer mein Traum, an einem Ort zu leben, wo mein Beruf und mein Lieblingshobby zusammenpassen. In der Schweiz kann ich diesen Sport vor der Haustüre ausüben und gleichzeitig meinen Körper durch eine komplett andere Belastung mit anderer Art von Adrenalinschub ausgleichen. Eine Woche nur am Strand zu liegen, wäre nichts für mich.

Man sagt nicht von ungefähr, dass auch das Dirigieren eine sehr sportliche Angelegenheit ist …
… und wenn man eine Geige zwölf Stunden lang am Kinn hält, bekommt man auch davon Schulterschmerzen. Es ist egal, was man intensiv macht, man braucht einen Ausgleich. Sonst geht es nicht sehr lange gut.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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Eklatfähig

Zum 125. Geburtstag von George Gershwin

Zum 125. Geburtstag von George Gershwin

von Roland H. Dippel

Keine Frage, dass George Gershwin seiner Zeit weit voraus war und die europäische Musikwissenschaft mit ihren engen Gattungs- und Genrekategorien quasi „sprengte“. Den heute als progressiv geltenden „spirit“ seines kooperierend-synergetischen Schaffens verwirklichte er in als revolutionär geltenden Werken. Geboren am 26. September 1898 in Brooklyn als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, jung (an einem Hirntumor) verstorben am 11. Juli 1937 in Hollywood, gilt ­Gershwin als „Frühvollender“. Genannt und gespielt werden (leider) allerdings die immer gleichen Haupt­titel: Die (Volks-)Oper „Porgy and Bess“, die Orchesterstücke „An ­American in Paris“ und die „Rhapsody in Blue“, das (­Piano-)Concerto in F.

Im Schatten dieser Showbiz-Blockbuster stehen bis heute seine Musicals: „Lady, Be Good!“, „Funny Face“ oder „Pardon My English“, die übrigens auch mit Songs anderer Komponisten bestückt wurden. Fast immer stammen die Songtexte von Georges Bruder Ira (Israel Gershowitz, 1896-1983). Leider hat aber dessen weitaus längere Lebenszeit keine kontinuierliche Aufführungsgeschichte für Gershwins Musicals bewirkt, weder am Broadway noch anderswo. Immerhin: „Crazy For You“ läuft seit Juni 2023 am Gillian Theatre London. Bei aller musikalischen Brillanz ereilten Gershwins Musicals das gleiche Schicksal wie Titel von Cole Porter und ­Richard Rodgers, die ebenfalls zahlreiche Welthits komponierten, ohne dass man die dahinterstehenden Bühnenwerke auch nur dem Namen nach kennt. Bis heute gibt es auch kaum eine Show oder Gala, in der nicht „­Summertime“ intoniert, gesungen oder gesummt wird, allerdings erlangte hier beinahe schon ausnahmsweise auch die komplette Oper „Porgy and Bess“ große Berühmtheit. Auch die „Rhapsody in Blue“ hat „als ­Ganzes“ überlebt, Gershwins einleitendes Klarinettenthema zur Orchesterversion ist als weltweiter Ohrwurm wahrscheinlich sogar bekannter als Mozarts „Kleine Nachtmusik“.

Brüder und künstlerische Partner: Ira und George Gershwin in Beverly Hills 1937 – nur wenige Monate vor Georges frühem Tod (Foto Rex Hardy Jr.)

Alleinstellungsmerkmal: Musikalische Universalität

Gershwins Musik zu beschreiben, sprengt die Klaviatur sprachlicher Formulierungen, enthusiastische und enthusiasmierende Floskeln würden der melodischen und rhythmischen Energie seiner Werke nicht gerecht. Eigentlich ist auch schon alles gesagt über den Beginn der „Rhapsody in Blue“ und die „vibes“ von „Summertime“. Vielleicht spürt man deshalb im Jubiläumsjahr 2023 trotz Gershwins Präsenz auf Bühnen und Podien eine gewisse Ratlosigkeit der Veranstalter, die seine berühmten Stücke seltener spielen, als man es vermuten würde. Eine andere Facette des Œuvres ist das schwer vollständig zu listende Eigenleben vieler von ­Gershwins Melodien. Unzählige Arrangements und Improvisationen gelangen mit Vorliebe auch in Programme mit Brüchen und vorsätzlichen Stilkontrasten. So setzte der Pianist Yojo Christen Gershwin in sein Album mit Klavierstücken von Franz Schubert und Franz ­Hummel – eine echt wilde ­Mischung. Das Jewish Chamber ­Orchestra ­Munich (JCOM) überraschte unter der Leitung von Daniel ­Grossmann in den Münchner Kammerspielen im Februar 2023 mit Gershwin-Songs als Programmbestandteil von „ernster“ Kammermusik mit Einflüssen des „jüdischen“ Jazz.

Der Welthit „Rhapsody in Blue“ entstand übrigens zuerst in einer Fassung für zwei Klaviere. Keineswegs hatte der berühmte Klarinettenlauf 1924 bereits die heute vom Beginn der Orchesterfassung bekannte Hörform, sondern durchlief unter Mitwirkung des Klarinettisten Ross Gorman eine Wandlung von Gershwins Ureinfall zu einer optimierten Klangrealität. Uraufgeführt wurde dieses „Experiment in Musik“ durch Paul Whitemans 23-köpfiges Ensemble in der parallel mit Gershwins Klavierfassung entstandenen Instrumentation von Ferde Grofé. Gershwins zweiter großer Konzerthit „An ­American in Paris“ wurde durch den gleichnamigen Spielfilm von 1951 bekannt, in dem das Orchesterstück als musikalischer Motor der Revue-Szenen mit ins Surreale spielenden Trick-­Effekten diente. Den ei­nen alleingültigen puristischen Gershwin-­Zugriff gibt es demzufolge nicht. Und „Porgy and Bess“ brachte für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts einen ähnlich aufrüttelnden Vorstoß wie 60 Jahre zuvor Bizets „Carmen“.

Volksoper und Identität

Das Sujet nach dem Roman von DuBose Heyward spielt „unter Afroamerikanern“ – eine Zuschreibung aus Sicht der Anfang der 1930er Jahre in den USA dominierenden weißen Bevölkerung, die pauschal „alle Menschen mit einem Tropfen schwarzen Blutes“ ungeachtet ihres äußeren Erscheinungsbilds als solche bezeichnete. ­Gershwin selbst hatte verfügt, dass seine Volksoper nur von Schwarzen gespielt werden sollte, er lehnte bereits damals das Schminken weißer Darsteller mit dunkler Farbe ab, das mittlerweile als „rassistisch“ kritisiert wird und immer wieder zu heftigen Diskussionen führt.

Eine Negierung von Gershwins Willen fand beispielsweise als deutschsprachige Erstaufführung mit der Übersetzung von Ralph Benatzky am 9. Juni 1945 im Stadttheater Zürich statt. Die Partie der Clara und deren Solo „Summertime“ sang damals die Strauss- und Mozart-Sopranistin Lisa della Casa. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte: „Das Werk ist ja für ein Negerensemble gedacht und völlig auf dessen gesangliche und darstellerische Eigentümlichkeiten zugeschnitten […] Stilisierung (die Besetzung mit weißen Darstellern, Anm.d.Red.) bedeutet in dieser echten Volksoper fraglos einen Notbehelf. Es soll damit keineswegs angedeutet sein, man habe bei uns den Grundcharakter der Oper verkannt, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, vor die sich Regisseur und Kostümgestalter gestellt sehen.“ Auch die Kritik damals hielt das von Gershwin geforderte Ideal-Ensemble für unbedingt notwendig, um die Anforderung des Werks zu „stilistisch angemessenem Spiel und Tanz“ überhaupt bewältigen zu können.

Fast 75 Jahre später – am 27. Januar 2018 – hatte „Porgy and Bess“ an der Ungarischen Staatsoper Budapest Premiere. Als die internationalen Rechteinhaber des Werks gerichtlich gegen die nicht-afroamerikanische Besetzung und ihren Intendanten Szilveszter Ókovács – bezeichnenderweise ein enger Freund Viktor Orbáns – vorgehen wollten, erklärten sich 15 der 28 weißen Ensemblemitglieder kurzerhand in einem Schreiben zu Afroamerikanern und erklärten, dass „afroamerikanische Herkunft und Bewusstsein einen untrennbaren Teil ihrer Identität“ bilden würde.

Die Drogen­kontrolle des Porgy-­Darstellers Morris Robinson im Umfeld des Schleswig-­Holstein Musik Festivals machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen – er warf dem Zoll Racial Profiling vor (Foto Felix König/Agentur 54°)

Dass die Stoffentscheidung für „Porgy and Bess“ des jüdisch-­russischen Komponisten Gershwin äußerst mutig war, kann man auch daran ablesen, dass die Erstaufführung an der New Yorker Met erst 1985, 50 Jahre nach der Uraufführung, erfolgte – die Verfilmung von Otto Preminger entstand dagegen immerhin bereits 1959. Fragen von Rassenungleichheit werden am Rande von Produktionen dieser Oper bis heute diskutiert. Als Porgy-Darsteller Morris ­Robinson zu einer Aufführung im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2022 reiste, wurde er auf Drogen kontrolliert und warf dem Zoll deshalb Racial Profiling vor. In ihrem Dokumentarfilm „Porgy and Me“ zeigte Susanna Boehm 2009 das Ensemble des New York ­Harlem Theatre auf Gastspielreise ihrer „Porgy and Bess“-Tournee. Indirekt fängt der Film auch ein, wie sich die Auseinandersetzung mit den Partien „ihres“ Stücks auf die interne und kollegiale Kommunikation des Ensembles auswirkt. Anlässlich einer Vorstellungsserie der Kapstädter Oper in Berlin 2008 resümierte Gerhard R. Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Vielleicht war die historische Situation dieser ‚American Folk Opera‘ der aktuellen Lage des Kapstädter Hauses vergleichbar: Schwarze Unterschicht und weiße Hochkultur, an sich kaum kompatibel, sollten ­zumindest ästhetisch vereint werden.“

Besetzungsstrategien in „Porgy and Bess“ sind offensichtlich auch heute noch ein befeuernder Anlass für die gesellschaftliche Debatte über künstlerische Schwellenphänomene bei Fragestellungen zu Rassismus und rassistischer Aneignung. Noch 125 Jahre nach seiner Geburt erhitzt Gershwins Forderung nach einer spezifischen afroamerikanischen Besetzung die Gemüter: Sein Genie ist so unbestreitbar wie der ästhetisch-praktikable Zündstoff seiner Oper. Möglicherweise nicht ganz von ungefähr spielen die ­Berliner Symphoniker „Porgy and Bess“ in ihrem Silvesterkonzert 2023 und würdigen das revolutionäre Werk hiermit als nicht minder humane Alternative zu dem klassischen Silvesterstück schlechthin – ­Beethovens Neunter.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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