von Roland H. Dippel

Keine Frage, dass George Gershwin seiner Zeit weit voraus war und die europäische Musikwissenschaft mit ihren engen Gattungs- und Genrekategorien quasi „sprengte“. Den heute als progressiv geltenden „spirit“ seines kooperierend-synergetischen Schaffens verwirklichte er in als revolutionär geltenden Werken. Geboren am 26. September 1898 in Brooklyn als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, jung (an einem Hirntumor) verstorben am 11. Juli 1937 in Hollywood, gilt ­Gershwin als „Frühvollender“. Genannt und gespielt werden (leider) allerdings die immer gleichen Haupt­titel: Die (Volks-)Oper „Porgy and Bess“, die Orchesterstücke „An ­American in Paris“ und die „Rhapsody in Blue“, das (­Piano-)Concerto in F.

Im Schatten dieser Showbiz-Blockbuster stehen bis heute seine Musicals: „Lady, Be Good!“, „Funny Face“ oder „Pardon My English“, die übrigens auch mit Songs anderer Komponisten bestückt wurden. Fast immer stammen die Songtexte von Georges Bruder Ira (Israel Gershowitz, 1896-1983). Leider hat aber dessen weitaus längere Lebenszeit keine kontinuierliche Aufführungsgeschichte für Gershwins Musicals bewirkt, weder am Broadway noch anderswo. Immerhin: „Crazy For You“ läuft seit Juni 2023 am Gillian Theatre London. Bei aller musikalischen Brillanz ereilten Gershwins Musicals das gleiche Schicksal wie Titel von Cole Porter und ­Richard Rodgers, die ebenfalls zahlreiche Welthits komponierten, ohne dass man die dahinterstehenden Bühnenwerke auch nur dem Namen nach kennt. Bis heute gibt es auch kaum eine Show oder Gala, in der nicht „­Summertime“ intoniert, gesungen oder gesummt wird, allerdings erlangte hier beinahe schon ausnahmsweise auch die komplette Oper „Porgy and Bess“ große Berühmtheit. Auch die „Rhapsody in Blue“ hat „als ­Ganzes“ überlebt, Gershwins einleitendes Klarinettenthema zur Orchesterversion ist als weltweiter Ohrwurm wahrscheinlich sogar bekannter als Mozarts „Kleine Nachtmusik“.

Brüder und künstlerische Partner: Ira und George Gershwin in Beverly Hills 1937 – nur wenige Monate vor Georges frühem Tod (Foto Rex Hardy Jr.)

Alleinstellungsmerkmal: Musikalische Universalität

Gershwins Musik zu beschreiben, sprengt die Klaviatur sprachlicher Formulierungen, enthusiastische und enthusiasmierende Floskeln würden der melodischen und rhythmischen Energie seiner Werke nicht gerecht. Eigentlich ist auch schon alles gesagt über den Beginn der „Rhapsody in Blue“ und die „vibes“ von „Summertime“. Vielleicht spürt man deshalb im Jubiläumsjahr 2023 trotz Gershwins Präsenz auf Bühnen und Podien eine gewisse Ratlosigkeit der Veranstalter, die seine berühmten Stücke seltener spielen, als man es vermuten würde. Eine andere Facette des Œuvres ist das schwer vollständig zu listende Eigenleben vieler von ­Gershwins Melodien. Unzählige Arrangements und Improvisationen gelangen mit Vorliebe auch in Programme mit Brüchen und vorsätzlichen Stilkontrasten. So setzte der Pianist Yojo Christen Gershwin in sein Album mit Klavierstücken von Franz Schubert und Franz ­Hummel – eine echt wilde ­Mischung. Das Jewish Chamber ­Orchestra ­Munich (JCOM) überraschte unter der Leitung von Daniel ­Grossmann in den Münchner Kammerspielen im Februar 2023 mit Gershwin-Songs als Programmbestandteil von „ernster“ Kammermusik mit Einflüssen des „jüdischen“ Jazz.

Der Welthit „Rhapsody in Blue“ entstand übrigens zuerst in einer Fassung für zwei Klaviere. Keineswegs hatte der berühmte Klarinettenlauf 1924 bereits die heute vom Beginn der Orchesterfassung bekannte Hörform, sondern durchlief unter Mitwirkung des Klarinettisten Ross Gorman eine Wandlung von Gershwins Ureinfall zu einer optimierten Klangrealität. Uraufgeführt wurde dieses „Experiment in Musik“ durch Paul Whitemans 23-köpfiges Ensemble in der parallel mit Gershwins Klavierfassung entstandenen Instrumentation von Ferde Grofé. Gershwins zweiter großer Konzerthit „An ­American in Paris“ wurde durch den gleichnamigen Spielfilm von 1951 bekannt, in dem das Orchesterstück als musikalischer Motor der Revue-Szenen mit ins Surreale spielenden Trick-­Effekten diente. Den ei­nen alleingültigen puristischen Gershwin-­Zugriff gibt es demzufolge nicht. Und „Porgy and Bess“ brachte für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts einen ähnlich aufrüttelnden Vorstoß wie 60 Jahre zuvor Bizets „Carmen“.

Volksoper und Identität

Das Sujet nach dem Roman von DuBose Heyward spielt „unter Afroamerikanern“ – eine Zuschreibung aus Sicht der Anfang der 1930er Jahre in den USA dominierenden weißen Bevölkerung, die pauschal „alle Menschen mit einem Tropfen schwarzen Blutes“ ungeachtet ihres äußeren Erscheinungsbilds als solche bezeichnete. ­Gershwin selbst hatte verfügt, dass seine Volksoper nur von Schwarzen gespielt werden sollte, er lehnte bereits damals das Schminken weißer Darsteller mit dunkler Farbe ab, das mittlerweile als „rassistisch“ kritisiert wird und immer wieder zu heftigen Diskussionen führt.

Eine Negierung von Gershwins Willen fand beispielsweise als deutschsprachige Erstaufführung mit der Übersetzung von Ralph Benatzky am 9. Juni 1945 im Stadttheater Zürich statt. Die Partie der Clara und deren Solo „Summertime“ sang damals die Strauss- und Mozart-Sopranistin Lisa della Casa. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte: „Das Werk ist ja für ein Negerensemble gedacht und völlig auf dessen gesangliche und darstellerische Eigentümlichkeiten zugeschnitten […] Stilisierung (die Besetzung mit weißen Darstellern, Anm.d.Red.) bedeutet in dieser echten Volksoper fraglos einen Notbehelf. Es soll damit keineswegs angedeutet sein, man habe bei uns den Grundcharakter der Oper verkannt, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, vor die sich Regisseur und Kostümgestalter gestellt sehen.“ Auch die Kritik damals hielt das von Gershwin geforderte Ideal-Ensemble für unbedingt notwendig, um die Anforderung des Werks zu „stilistisch angemessenem Spiel und Tanz“ überhaupt bewältigen zu können.

Fast 75 Jahre später – am 27. Januar 2018 – hatte „Porgy and Bess“ an der Ungarischen Staatsoper Budapest Premiere. Als die internationalen Rechteinhaber des Werks gerichtlich gegen die nicht-afroamerikanische Besetzung und ihren Intendanten Szilveszter Ókovács – bezeichnenderweise ein enger Freund Viktor Orbáns – vorgehen wollten, erklärten sich 15 der 28 weißen Ensemblemitglieder kurzerhand in einem Schreiben zu Afroamerikanern und erklärten, dass „afroamerikanische Herkunft und Bewusstsein einen untrennbaren Teil ihrer Identität“ bilden würde.

Die Drogen­kontrolle des Porgy-­Darstellers Morris Robinson im Umfeld des Schleswig-­Holstein Musik Festivals machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen – er warf dem Zoll Racial Profiling vor (Foto Felix König/Agentur 54°)

Dass die Stoffentscheidung für „Porgy and Bess“ des jüdisch-­russischen Komponisten Gershwin äußerst mutig war, kann man auch daran ablesen, dass die Erstaufführung an der New Yorker Met erst 1985, 50 Jahre nach der Uraufführung, erfolgte – die Verfilmung von Otto Preminger entstand dagegen immerhin bereits 1959. Fragen von Rassenungleichheit werden am Rande von Produktionen dieser Oper bis heute diskutiert. Als Porgy-Darsteller Morris ­Robinson zu einer Aufführung im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals 2022 reiste, wurde er auf Drogen kontrolliert und warf dem Zoll deshalb Racial Profiling vor. In ihrem Dokumentarfilm „Porgy and Me“ zeigte Susanna Boehm 2009 das Ensemble des New York ­Harlem Theatre auf Gastspielreise ihrer „Porgy and Bess“-Tournee. Indirekt fängt der Film auch ein, wie sich die Auseinandersetzung mit den Partien „ihres“ Stücks auf die interne und kollegiale Kommunikation des Ensembles auswirkt. Anlässlich einer Vorstellungsserie der Kapstädter Oper in Berlin 2008 resümierte Gerhard R. Koch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Vielleicht war die historische Situation dieser ‚American Folk Opera‘ der aktuellen Lage des Kapstädter Hauses vergleichbar: Schwarze Unterschicht und weiße Hochkultur, an sich kaum kompatibel, sollten ­zumindest ästhetisch vereint werden.“

Besetzungsstrategien in „Porgy and Bess“ sind offensichtlich auch heute noch ein befeuernder Anlass für die gesellschaftliche Debatte über künstlerische Schwellenphänomene bei Fragestellungen zu Rassismus und rassistischer Aneignung. Noch 125 Jahre nach seiner Geburt erhitzt Gershwins Forderung nach einer spezifischen afroamerikanischen Besetzung die Gemüter: Sein Genie ist so unbestreitbar wie der ästhetisch-praktikable Zündstoff seiner Oper. Möglicherweise nicht ganz von ungefähr spielen die ­Berliner Symphoniker „Porgy and Bess“ in ihrem Silvesterkonzert 2023 und würdigen das revolutionäre Werk hiermit als nicht minder humane Alternative zu dem klassischen Silvesterstück schlechthin – ­Beethovens Neunter.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2023

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